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Matthias Müller
Das Entstehen neuer Freiräume. Vergnügen und Geselligkeit in Stralsund und Reval im 18. Jahrhundert
(Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Pommern, Reihe V: Forschungen zur Pommerschen Geschichte 51), Köln/Wien/Weimar 2019, Böhlau, 346 Seiten mit 2 Karten, 1 Tabelle, 2 Diagrammen, ISBN 978-3-412-51111-1
Rezensiert von Lea Kõiv
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 20.08.2021
Das vorliegende Buch basiert auf einer 2016 an der Universität Greifswald eingereichten Doktorarbeit. Es geht darin um die Veränderungen im geselligen Zeitvertreib während des 18. Jahrhunderts und die konkrete Realisierung des Neuen in zwei Ostseestädten. Der Autor Matthias Müller hält es nicht für richtig, im vorindustriellen Kontext von „Freizeit“ zu sprechen, die sich gemäß dem heutigen Wortsinn von der Arbeitszeit klar trennen ließe und zumeist kostspielige Aktivitäten beinhalten würde. Inspiriert vom Konzept des „social space“ der Soziologin Martina Löw bevorzugt Müller den Begriff „Freiraum“, der sich definiert durch „selbstbestimmte Anordnungen von Menschen oder Gütern, die sich zu Institutionen des Vergnügens und der Geselligkeit entwickeln, sofern sie dauerhaft in ähnlicher Ausprägung bestehen“ (13). Die Vermeidung von „Freizeit“ wirkt im Buch jedoch nicht immer überzeugend, zumal – wie Müller selbst schreibt – Freizeit als Phänomen bereits im 18. Jahrhundert existierte und sich in der bisherigen Forschung sowohl Beispiele für eine derartige Bevorzugung des „Freiraum“-Begriffs als auch eine umfassende Verwendung von „Freizeit“ für frühneuzeitliche Kontexte finden lässt. Auch im Lichte von Müllers eigener Definition wirkt es nicht immer schlüssig, etwa wenn er von Bällen als „einem bewussten, zeitlich und räumlich begrenzten Ausbruch aus der alltäglichen Routine“ (237) oder von Hasardspielen in Schenken nach Feierabend spricht.
Die Entscheidung, die Verhältnisse in Reval (Tallinn) und Stralsund zu untersuchen, begründet Müller mit der Ähnlichkeit der beiden Städte in Bezug auf ihre Hanse-Vergangenheit sowie die Bevölkerungszahl und -struktur, mit einem vergleichbaren Regierungssystem sowie der Ostsee als gemeinsamem Kommunikationsraum. Zugleich kam beiden Städten ein „borderland“-Status zu, Reval am Rande des russischen Imperiums, Stralsund im Randgebiet des schwedischen Königreiches und des Heiligen Römischen Reiches. Möglichkeiten zum detaillierten Vergleich nutzt der Autor in gebotenen Überblicken über die Geschichte des Ostseeraums, Schwedisch-Pommerns und Estlands sowie Stralsunds und Revals.
Der zeitliche Schwerpunkt der Untersuchung liegt auf der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, als Müller zufolge im Geist und unter dem Einfluss der Aufklärung die Formen des Zeitvertreibs grundlegende Veränderungen erfuhren. Im Falle von Reval und Stralsund ist die Wahl dieses Zeitraumes auch damit begründet, dass sich beide Städte bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts erst noch von den Folgen des Nordischen Krieges erholten. Den Endpunkt der Untersuchung bilden die durch Angst vor Einflüssen der französischen Revolution hervorgerufenen Veränderungen in Russland und Schwedisch-Pommern am Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts, mit welchen eine starke Zensur des kulturellen und gesellschaftlichen Lebens verbunden war.
Das Hauptaugenmerk auf die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts ermöglicht die Zeichnung eines eindrucksvollen Bildes. Damals war aus der Aufklärung eine einflussreiche soziale und kulturelle Bewegung in Europa geworden, die von einer neuen, sogenannten bürgerlichen Öffentlichkeit getragen wurde – von Beamten, Ärzten, Pastoren, höheren Militärs, Gelehrten sowie aufgeklärten Adligen und Kaufleuten. Es entstanden zahlreiche Verbindungen und Gesellschaften, Theater und andere institutionalisierte Formen des gesellschaftlichen Lebens – Müller nennt sie „neue Freiräume“. Anders als die traditionellen ständischen und religiösen Vereinigungen führten die neuen sozialen Räume der Aufklärung Gruppen mit ähnlichen geistigen und gesellschaftlichen Interessen und einem ähnlichen Weltbild zusammen. Der Autor hebt zugleich die Bedeutung der „consumer revolution“ des 18. Jahrhunderts als Faktor für den geselligen Zeitvertreib hervor.
Die Hauptkapitel – „Glücksspiele“, „Theater“, „Bälle und Maskeraden“ – beginnen mit grundsätzlichen Erörterungen dieser Themen sowie mit Überblicken über die Geschichte des jeweiligen Forschungszweiges. Den Kern jedes einzelnen Kapitels bildet die Herausarbeitung epochenspezifischer Entwicklungstendenzen in Stralsund und Reval. Als Quellen dienen dabei zuvörderst zeitgenössische regionale und lokale Zeitungen und Zeitschriften, staatliche Gesetze und Verordnungen, Anordnungen von Stadträten, die Statuten von Klubs und Gesellschaften, Lotterieprogramme und Ziehungslisten von Lotterien. Das durch normative und andere amtliche und öffentliche Druckerzeugnisse gezeichnete Milieubild wird mit weiteren, die Wirklichkeit widerspiegelnden archivalischen Quellen in Beziehung gesetzt. Dabei handelt es sich unter anderem um Korrespondenz zwischen den Klubs, Gesellschaften, Wandertheatertruppen und Stadträten, um die Unterlagen von Gerichtsprozessen sowie um Protokolle von Klubs und Vereinen.
Wertvolle Quellen sind außerdem Augenzeugenberichte. Was Reval angeht, hebt Matthias Müller ein im Jahre 1800 erschienenes Buch mit dem Titel „Briefe über Reval nebst Nachrichten von Esth- und Liefland. Ein Seitenstück zu Merkels Letten. Von einem unpartheiischen Beobachter“ hervor, das traditionell dem Publizisten Johann Christoph Petri (1762–1851) zugeschrieben wird. In letzter Zeit wurde aber auch der Literat Christian August Fischer (1771–1829) als Autor in Erwägung gezogen. [1] Anders als Petri, der von 1784 bis 1796 in Estland lebte, hatte Fischer mit Reval keine persönliche Beziehung. Seine Erfahrung mit den baltischen Landen beschränkte sich auf einen anderthalbjährigen Aufenthalt in Riga. Bei der Benutzung dieses Buches sollte also berücksichtigt werden, dass es sich eventuell nicht um eigene Erfahrungsberichte handelt, sondern um vermitteltes Wissen von anderen.
Im Kapitel über Glücksspiele betrachtet Müller detaillierter zwei Arten der Lotterie, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts weit verbreitet waren, nämlich die mehrstufige, für Wohlhabendere bestimmte Klassenlotterie und die preislich günstigere Zahlenlotterie. An den Lotterien, die von staatlichen und städtischen Institutionen, Gesellschaften und Vereinigungen, aber auch von Unternehmern und sonstigen Privatpersonen veranstaltet wurden, beteiligten sich große Teile der Bevölkerung.
Im Kapitel „Theater“ wird die Veränderung der gesellschaftlichen Haltung gegenüber dem Schauspiel in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts verfolgt. Sowohl in Reval als auch in Stralsund wurde aus dem früher als belanglos angesehenen Zeitvertreib allmählich ein anspruchsvolles, der Bildung dienendes gesellschaftliches Unterfangen. So entstand unter Beteiligung der städtischen Eliten in Reval eine Liebhaber-Theatertruppe, in Stralsund wurde dank der Initiative der lokalen Freimaurerloge ein Theatergebäude errichtet. In beiden Städten waren im Repertoire Werke renommierter europäischer Dramatiker sowie eigens entstandene Theaterstücke wie die von August Wilhelm Iffland (1759–1814) und August von Kotzebue (1761–1819), einem langjährigen Leiter des Revaler Theaterlebens, zu finden. Im Laufe der Zeit wuchs der Anteil von Opern (Mozart, von Dittersdorf), während die Beliebtheit von Trauerspielen zurückging.
Im Kapitel „Bälle und Maskeraden“ wird die Institutionalisierung dieser Formen der Geselligkeit betrachtet und der wachsende Einfluss der bürgerlichen Kreise auf die Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens gerät besonders in den Blick.
Von der klaren thematischen Struktur der Darstellung weicht das an sich gehaltvolle Unterkapitel „Freiräume der Revaler Klubs“ teilweise ab. Indem es Übersichten über die in der Stadt tätigen Klubs, ihre Ziele und ihre Mitglieder bietet, passt es nicht ganz in den Rahmen des „Glücksspiele“-Themas, dem es zugeordnet ist. Zusammen mit den Abschnitten über die Aktivitäten von Klubs im Kapitel „Bälle und Maskeraden“ zeigt jenes Unterkapitel jedoch gut die vielseitige Rolle der Klubs im gesellschaftlichen Leben und bei der Formung der öffentlichen Meinung. Als kleine Anmerkung soll hier darauf hingewiesen werden, dass der Autor für die Gilde der Revaler Handwerker statt der Bezeichnung „Knudsgilde“ den ursprünglichen und historiografisch etablierten Namen „Kanutigilde“ oder „St. Kanuti Gilde“ hätte verwenden können.
Bei allen behandelten Formen von Vergnügen und Geselligkeit beobachtet Müller eine Verringerung der Trennungen nach Stand und Geschlecht und die Lockerung der strengen Verhaltensnormen der Barockzeit. Zu den Mitgliedern von Klubs zählten Bürger, Adlige, Intellektuelle, Kaufleute, Staatsbeamte und Militärangehörige. Dieselben Gruppen nahmen auch an Lotterien teil und trafen sich bei Theateraufführungen und auf Ballabenden. In der ständischen Gesellschaft boten insbesondere Maskenbälle eine „ideale Möglichkeit, soziale und kulturelle Unterschiede bedingt zu nivellieren“ (269). Frauen aus der Oberschicht der Gesellschaft agierten als Schauspielerinnen in Theatertruppen, in Reval waren Frauen auch häufige Gäste in den Klubs. Und die Teilnahme von Frauen an den Bällen war ja unerlässlich. Andere Grenzen blieben jedoch starr. Handwerker konnten den Revaler Klubs mit ihren ansonsten durchaus diversen Mitgliedergemeinschaften nicht beitreten, und in den Theatersälen war das Publikum nach sozialem Stand aufgeteilt. Eine ständische Hierarchie zeigte sich teilweise auch in den Ball- und Tanzordnungen sowie in den Konventionen für Festabende. Besonders von Frauen wurde verlangt, sich an alle geschriebenen und ungeschriebenen Regeln zu halten.
Staatliche und städtische Obrigkeiten stellten sicher, dass Vergnügen und Geselligkeit keine „schädliche“ Wirkung auf die Allgemeinheit hatten. Zum Beispiel bekam das Schillerdrama „Die Räuber“ in Stralsund jahrelang keine Aufführungserlaubnis, da man fürchtete, das Stück könne zu einer Aufwiegelung der Bevölkerung führen. Der russische Kaiser Paul I. verlangte eine Umbenennung der in Reval aufgeführten Operette „Das rote Käppchen“ in „Das grüne Käppchen“, um eine Assoziation mit der Farbe der Jakobiner zu vermeiden. Sowohl Theateraufführungen als auch Bälle und Maskeraden, insbesondere aber Glücksspiele, wurden von öffentlichen Diskussionen begleitet, in denen es um die Frage ging, ob es sich hier um moralisch wertvollen und gut begründeten Zeitvertreib handele; ihre Legitimität begründete man vor allem mit Wohltätigkeit und Gemeinnützigkeit. In diesem Sinne wurden die Einkünfte aus Lotterien in Reval für die Gründung eines Zuchthauses und die Renovierung von Kirchen verwendet und mit den Einnahmen des Liebhabertheaters Waisen und Witwen, aber auch „unglückliche Personen“ und „hoffnungsvolle Jünglinge“ unterstützt. Befürworter des Theaters betonten den bildenden und belehrenden Charakter dieser Institution, und den Initiatoren von Bällen zufolge erzogen diese zu gutem Verhalten in der Gesellschaft. Müller konstatiert aber, dass diese gemeinnützigen Motive allmählich durch kommerzielle Interessen der Betreiber von solchen Freiräumen in den Schatten gestellt wurden. Beim Glücksspiel überwogen die negativen Effekte (Betrug, Spielsucht, Aussicht auf schnelles Geld, Bankrott) deutlich die positiven. Dementsprechend verbot Katharina II. in Russland schon 1771 alle öffentlichen Lotterien.
Abschließend lässt sich sagen, dass diese Publikation eine wertvolle und willkommene Ergänzung zur Aufklärungs- und Alltagsgeschichte des Ostseeraums sowie zur Geschichte Stralsunds und Revals darstellt. Mit seinem interessanten Thema, dem klaren und gut begründeten Aufbau sowie dem flüssigen Stil bietet das Buch eine faszinierende und leserfreundliche Lektüre.
Anmerkung
[1] Siehe Gert Ueding: Hoffmann und Campe. Ein deutscher Verlag. Hamburg 1981; Josef Huerkamp u. Georg Meyer-Thurow: „Die Einsamkeit, die Natur und meine Feder, dies ist mein einziger Genuss“. Christian August Fischer (1771–1829) – Schriftsteller und Universitätsprofessor. Bielefeld 2001; Indrek Jürjo: Wer ist der Autor des Aufklärungs-Pamphlets „Briefe über Reval“? In: Forschungen zur baltischen Geschichte 6 (2010), S. 111–123.