Aktuelle Rezensionen
Johannes Müske/Golo Föllmer/Thomas Hengartner/Walter Leimgruber (Hg.)
Radio und Identitätspolitiken. Kulturwissenschaftliche Perspektiven
Bielefeld 2019, transcript, 287 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-8376-4057-1
Rezensiert von Thomas Kühn
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 23.08.2021
Der vorliegende Sammelband dokumentiert die Tagung „Populäre Musik und Identitätspolitiken. Radio machen, überliefern und rezipieren“, die vom 18. bis 20. Februar 2016 in Zürich stattfand. Eingeladen hatte die an den Universitäten Basel und Zürich sowie der Hochschule Luzern angesiedelte Forschungsgruppe „Broadcasting Swissness“ gemeinsam mit dem Studienkreis „Rundfunk und Geschichte“. Die Tagung orientierte sich an der inhaltlichen Ausrichtung des vierjährigen Projekts, reichte jedoch auf Grund der internationalen Vorträge und verschiedenen geistes-, kultur- und medienwissenschaftlichen Zugänge über den eidgenössischen Bezugsrahmen hinaus. Nicht alle Beiträge sind in die Publikation eingegangen; dennoch bildet sie einen umfangreichen Querschnitt durch die diesbezügliche Studienlandschaft ab.
Der gemeinsame Nenner aller Texte ist der Rundfunk in seiner historischen Dimensionierung. Ausführlicher sollen an dieser Stelle jene Beiträge betrachtet werden, die nicht nur die spezifische Medialität des Radios thematisieren, sondern gleichzeitig identitäts- und kulturpolitische Programmatiken fokussieren sowie die über elektromagnetische Wellen vermittelten Klänge in weitere Kontexte einordnen.
Einleitend stecken Johannes Müske, Golo Föllmer und Walter Leimgruber – ausgehend von ihren eigenen Leitfragen – das Forschungsfeld ab, legitimieren nachvollziehbar die Verwendung des zentralen Begriffs der Identität beziehungsweise Identitätspolitik und skizzieren die kulturpolitische Agenda des institutionalisierten Rundfunks in der Schweiz: Einerseits diente das Radio seit seiner Verbreitung in den 1920er Jahren als nationalstaatliches Instrument, um nach innen schweizerische Werte zu vermitteln und einen Beitrag zum gesamtgesellschaftlichen Zusammenhalt zu leisten. Vor allem das Kurzwellenradio sollte andererseits als „Botschafter der Schweiz“ (13) nach außen wirken, die im Ausland lebende Bevölkerung erreichen und für das Land werben. Darüber hinaus reihen sich Forschungsprojekt und Tagungsband durch die „Erforschung der klingenden bzw. sinnlichen Dimension der Alltagswelt“ (15) in die Forschungsfelder von Sound Studies und Anthropology of Senses ein.
Zwei Keynotes markieren die inhaltlichen Pole des Bandes: Christine Burckhardt-Seebass setzt sich in ihrem mit „Identitätsspiele“ überschriebenen „autobiografisch geprägten Rück- und Ausblick“ (21) vor allem mit dem öffentlichen, persönlichen und wissenschaftlichen Umgang mit Volksliedern und Volksmusik auseinander. Morten Michelsen hingegen widmet sich technischen und alltagskulturellen Entwicklungen rund um das Radio in den 1950er Jahren. Anhand eines raumtheoretischen Ansatzes entwirft er ein dreiteiliges Modell, um die Etablierung sozialer Räume, die strukturierenden Eigenschaften des Mediums und die Verbindungslinien zwischen privaten Orten und öffentlichen Räumen nachvollziehbar zu machen.
Es folgen 13 Beiträge in fünf thematischen Abschnitten. Zunächst setzen sich Hans-Ulrich Wagner und Felix Wirth aus medienwissenschaftlicher Perspektive mit der Gestaltung von Klangwelten auseinander und zeigen, mit welchen Mitteln ein akustisches Bild der Stadt Hamburg evoziert und authentifiziert oder wie technische Neuheiten in Science-Fiction-Hörspielen zwischen 1935 und 1985 im Deutschschweizer Radio klanglich dargestellt wurden. Roland Jäger präsentiert ein linguistisches Modell, um „Strategien zur Erzeugung von Bildern im Kopf offen[zu]legen“ (95), was er an einer Reportage erprobte.
Die Bedeutung des Radios für der Herausbildung und Stabilisierung imaginierter Gemeinschaften bildet einen weiteren Schwerpunkt. Welche Strategien die nationalsozialistische Propaganda bei der medialen Inszenierung der „Volksgemeinschaft“ einsetzte, beschreibt Kathrin Dreckmann am Beispiel der Sendung „Wunschkonzert“. Die Übertragungen von Kirchenglocken stehen im Mittelpunkt der Untersuchung von Thomas Felfer. Nach grundsätzlichen Überlegungen zu räumlichen, zeitlichen und symbolischen Funktionen zeichnet er die Geschichte von Glockenklängen im Österreichischen Rundfunk nach und weist auf die überregionale Bedeutung der ursprünglich in lokalen Klanglandschaften verankerten Signalgeber hin. Dass Glocken im Radio auch für die Gemeinschaftsbildung und die Strukturierung des Alltags der Hörer*innen von Bedeutung sind, arbeitet Felfer an eigenem empirischem Material heraus und macht so die Situierung dieser Klänge in öffentlichen Räumen, lokalen Kontexten, medial vermittelten (über)regionalen Identifikationsangeboten und privaten Haushalten deutlich. Wie eine regionale musikalische Tradition mithilfe des Rundfunks zu einem Instrument nationaler Identitätsbildung avancierte, zeigt Martina Novosel ebenfalls anhand von Interviews: Die Tamburica-Musik entwickelte sich nach einer initialen nationalen Aufladung im 19. Jahrhundert in Kroatien (und in der kroatischen Diaspora) und einer Phase der Marginalisierung patriotischer Lieder im jugoslawischen Rundfunk während des Krieges in den 1990er Jahren zu einem gezielt geförderten Genre nationaler Identität. Vor dem Hintergrund des anvisierten EU-Beitritts, so Novosel, habe sich ihre Popularität vom öffentlichen Rundfunk ins Private verschoben.
Die Beiträge des dritten Abschnitts resultieren aus dem Forschungsprojekt „Broadcasting Swissness“ und befassen sich mit der Konstruktion und Vermittlung von Heimat durch das Radio. Thomas Järmann zeigt anhand von zwei konkreten Beispielen aus der von Fritz Dür betreuten Sonothek des Schweizerischen Kurzwellendienstes, wie Symphonische Blasmusik – komponierte Werke für Blechbläser – mit Rückgriff auf beliebte Volksliedmelodien auf emotionaler Ebene in die nationale Identitätsarbeit der Schweiz eingebunden wurden. Gleichzeitig veranschaulicht er, welches Potential archivalische Tondokumente für die ethnomusikologische und medienhistorische Forschung bereithalten. Während sich Johannes Rühl mit dem Diskurs über „echte“ Volksmusik und die Rolle des Radios bei ihrer „Verkitschung“ in der Nachkriegszeit befasst, analysiert Johannes Müske die Zusammenarbeit von Volkskunde und Radio. Er macht deutlich, wie unterschiedliche Vorstellungen – etwa in Hinblick auf die Sendefähigkeit „authentischer“ Aufnahmen – bei der Pflege und Revitalisierung von Volksmusik, aber auch die zunehmende Verfügbarkeit von Aufnahmetechnik zur Emanzipation der akademischen Disziplin führte.
Unter dem Schlagwort Kulturvermittlung lassen sich die Aufsätze von Andreas Zeisig und Rüdiger Ritter zusammenfassen. Anhand der ubiquitären Radio-Präsenz des Dürer-Jubiläums 1928 thematisiert Zeisig die enge Verknüpfung bildungs- und kulturpolitischer Auffassungen. Ritter hingegen konzentriert seine Ausführungen zum internationalen Kulturtransfer durch den Eisernen Vorhang auf die Person des amerikanischen Radiomoderators Willis Conover und die Rezeption seiner Jazz-Sendungen im ehemaligen Ostblock.
Der letzte Abschnitt nimmt die Hörer*innen in den Blick und betrachtet das Radio als soziales Medium. Aus medienanthropologischer Perspektive wertete Fanny Jones archivierte Leser*innenbriefe des Kurzwellensenders Schweizer Radio International (SRI) aus, um dem medial vermittelten Bild der Schweiz und der Integration des Rundfunks in den Alltag des Publikums nachzuspüren, das mit dem Sender interagierte. Radiohören wird hier als Ausdruck des Bedürfnisses nach Frieden und kulturellem Verständnis zu Zeiten des Kalten Krieges sowie als Bestrebung gedeutet, an transnationaler Kommunikation teilzuhaben. Jones belegt, wie ein heterogener Rezipient*innenkreis an der Konstruktion einer homogenen Identität der Schweiz mitwirkte. Die postulierte Neutralität des Landes sowie stereotype Natur- und Kulturvorstellungen ermöglichten es, den internationalen Radiosender als Brückenbauer für die Schweiz zu etablieren. Thomas Wilke geht hingegen von einer gegenwartsbezogenen Frage aus: „Was macht das Radio im Netz?“ (264). Nach auf Statistiken beruhenden Ausführungen zur Radionutzung in Deutschland befasst sich der Autor mit den Wechselwirkungen von Radiosendern und sozialen Medien wie Facebook und exemplifiziert dies an einem konkreten Beispiel.
Das Nebeneinander unterschiedlicher Fragestellungen und Zugangsweisen ist ein typisches Merkmal interdisziplinärer Tagungen; die literarische Bandbreite erstreckt sich von leicht überarbeiteten Vortragsmanuskripten bis zu elaborierten Aufsätzen. Allen voran überzeugen die materialgesättigten Beiträge, die sich durch ihre intensive Beschäftigung mit empirischem Material, Archivalien und Tondokumenten sowie konzise Analysen auszeichnen. Gerade die Blicke gen Osteuropa sowie die Fokussierung auf die Schweiz und den internationalen Aktionsradius des Rundfunks sind hier besonders hervorzuheben.
Die Publikation sei nicht nur allen empfohlen, die sich für die kulturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Radio interessieren. Gerade vor dem Hintergrund der Diversifikation der Medienlandschaft und der virulenten Medienkritik ist die Lektüre lohnenswert. So verweisen die Herausgeber auf die aktuell besonders zu Tage tretende „dunkle Seite der Politiken der Identität“ (17). Die versammelten Beiträge unterstreichen, dass „kulturelle Identitäten etwas Spekulatives und Imaginäres, etwas Fließendes bleiben und sich stets im Modus des Werdens und in konstanter gesellschaftlicher Diskussion befinden“ (18). Den Hinweis, dass kulturwissenschaftliche Forschung an die gebotene Vorsicht erinnert, sobald „Identität“ im Spiel ist, fasst der Rezensent als Appell auf.
Gewidmet ist der Band dem Andenken des Forschungsgruppenleiters und Mitherausgebers Thomas Hengartner. Der 2018 verstorbene Volkskundler prägte die kulturwissenschaftliche Technik- und Klangforschung maßgeblich; der Band zeugt eindrücklich von seinem inter- und transdisziplinären Wissenschaftsverständnis und seinem neugierigen Blick auf Alltagskultur.