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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Armin Griebel

Tradierte Musikpraxis in Franken. Beiträge zur Volksmusikforschung, hg. von Heidi Christ u. Merle Greiser

(Veröffentlichungen der Forschungsstelle für Fränkische Volksmusik der Bezirke Mittel-, Ober- und Unterfranken 75; Geschichte und Kultur in Mittelfranken 8), Baden-Baden 2019, Ergon, 320 Seiten mit Abbildungen und Notenbeispielen, ISBN 978-3-95650-616-1


Rezensiert von Christoph Lambertz
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 23.08.2021

Armin Griebel wurde 1984 wissenschaftlicher Mitarbeiter in der erst drei Jahre zuvor gegründeten Forschungsstelle für Volksmusik in Franken. Mit der Einrichtung einer auf regionaler Ebene wissenschaftlich arbeitenden Institution waren die fränkischen Bezirke Vorreiter dieser Säule der Volksmusikarbeit in Bayern – und die Leiter der Forschungsstelle für Fränkische Volksmusik (FFV), zuerst Horst Steinmetz (1936–1994), ab 1995 dann Armin Griebel, setzten Maßstäbe. Der Bezirk Mittelfranken ehrt nun seinen verdienten Mitarbeiter Armin Griebel mit einem hochwertig aufgemachten, durch Heidi Christ und Merle Greiser herausgegebenen Band, der 16 Aufsätze aus 30 Jahren seiner Forschungstätigkeit umfasst.
Die Aufsätze zeigen in chronologischer Reihung das breite thematische Spektrum, mit dem sich Griebel im Laufe der Zeit auseinandergesetzt hat. Sie umfassen gleichermaßen die drei Teilbereiche der Volksmusikforschung Instrumentalmusik, Gesang und Tanz, sowohl in ihren historischen Aspekten als auch in zeitgenössischen („gepflegten und ungepflegten“) Erscheinungsformen. Natürlich sind die Forschungsgegenstände Griebels geografisch überwiegend in Franken zu verorten. Gleichwohl sind die Aufsätze wegen ihrer methodischen Herangehensweise und ihrer allgemeinen Erkenntnis auch für Nicht-Franken lesenswert. Ein großes Anliegen scheint es dem Autor zu sein, landläufige Auffassungen über „die“ Volksmusik, „das“ Volkslied, „den“ Volkstanz mit Erkenntnissen aus der Forschung zu widerlegen – und dies nicht mit erhobenem Zeigefinger, sondern eher beiläufig.
Griebels Aufsatz „Die Horlbecks als Tanzmusikanten zwischen 1870 und 1920“ steht am Anfang des Bandes. Mitglieder der Familie Horlbeck betrieben in der Zeit zwischen 1860 und 1960 im Nordosten Oberfrankens das Musikantenhandwerk im Neben- und Haupterwerb. Durch die Auswertung eines umfangreichen Briefwechsels erhält man die seltene Gelegenheit einen aufschlussreichen Einblick in das ländliche und kleinstädtische Musikgewerbe in diesem Zeitraum zu erlangen. Ausführlich geht Armin Griebel auf die Art und die Größe von Besetzungen ein und weist nach, dass neben der Blasmusik – die man landläufig mit Franken in Verbindung bringen würde – auch Streichinstrumente eine große Rolle gespielt haben. Ebenso erfährt man von Repertoire und Spielweisen und somit auch von der ländlichen Tanzpraxis in diesen Jahrzehnten, denn das Hauptgeschäft der Horlbecks war die Tanzmusik. Wirtschaftliche Aspekte werden beleuchtet, etwa Einnahmen, Verteilung der Gagen, Akquise von Auftritten. Einen besonderen Eindruck hinterlassen die persönlichen Zitate, vor allem das von Karl Horlbeck, der bereits als 12-jähriger Schüler als vollwertiges Mitglied in der Kapelle eingesetzt wurde. Ebenfalls mit Tanz und Tanzmusik befasst sich der Beitrag „,Jeder nach seiner Weise‘. Tanz und Tanzmusik in Franken 1932“, der auf eine gänzlich andere Quelle zurückgreift, nämlich die Umfragebögen zum „Atlas der deutschen Volkskunde“ von 1932. Deren Auswertung zeigt ein sehr differenziertes Bild von Tanzgelegenheiten, Besetzungen und Stilen der Kapellen sowie den Tänzen selbst. „Die Fragen betreffen das allgemeine Tanzgeschehen der Gegenwart und sind nicht wie bei der gleichzeitigen Volkstanzforschung auf relikthafte, als ‚Volkstanz‘ gedeutete Erscheinungen fixiert. […] [Man kann] an den Antworten ablesen, welche modernen Entwicklungen sich am Vorabend der Machtergreifung der Nationalsozialisten abzeichneten […].“ (145) Die Illustration mit Bildquellen aus der Sammlung der FFV bereichert den Aufsatz.
„Ditfurth und das fränkische Volkslied“ – so kurz und prägnant wie sein Titel ist, bietet der Beitrag eine Übersicht über Leben und Wirken des Franz Wilhelm Freiherrn von Ditfurth, der zwischen 1835 und 1855 in Franken als Liedersammler tätig war. Armin Griebel bestätigt dessen fortschrittliche Ansätze: „allein Ditfurths Melodieaufzeichnungen bedeuten einen Fortschritt gegenüber den reinen Textsammlungen des frühen 19. Jahrhunderts. Fortschrittlich ist Ditfurth auch darin, dass er […] den Melodien die Texte wirklich unterlegt.“ (52 f.) „Eine der überraschenden Erkenntnisse ist, dass die Aufzeichnungen sehr viel Liedgut enthalten, das Ditfurth nicht zum Volkslied rechnet. Er hat also nicht beim Vorsingen selektiert, sondern das Liedangebot seiner Vorsänger respektiert […].“ (48 f.)
Neben der Darstellung der sehr wechselhaften Biografie des Freiherrn wird der Verbleib seines Nachlasses und dessen Rezeption nachgezeichnet. Die 1855 von Ditfurth herausgegebenen „Fränkischen Volkslieder mit ihren zweistimmigen Singweisen“ waren für die in der Mitte des 20. Jahrhunderts einsetzende fränkische Volksliedpflege eine maßgebliche Quelle. In eben jener „Szene“ sind auch viele Lieder neu entstanden. In „Neugemachte Lieder in Franken – Themen und Tendenzen“ setzt sich Armin Griebel (man möchte fast sagen: zwangsläufig kritisch) mit dieser Liedgattung auseinander: „Man könnte sie Lieder des Frankenbewusstseins nennen, auch wenn diese Befindlichkeit nicht direkt besungen wird.“ (87) Nach einem Exkurs zum 1932 stattfindenden „Unterfränkischen Volksliedwettbewerb“ des Rundfunks, dessen Initiatoren „von der Realität abgehobenen Vorstellungen von Volksliedern [...] anhingen“ (89), zeichnet Griebel ausführlich die Entwicklung des Dialektliedes in Franken und seiner Sujets seit den 1920/30er Jahren nach. Er kommt trotz aller kritischen Betrachtungen zu dem Urteil, dass die neugemachten Lieder ihre neue Funktion als „Träger identifikatorischer Werte der Heimat“ (116) erfüllen und deswegen auch als pflegenswert erachtet werden können. Ebenso differenziert beantwortet er die Frage „Heimat aus zweiter Hand? Oder: Kann man in Franken authentisch jodeln?“. In diesem Beitrag geht es um Jodellieder im nördlichen Frankenwald, die ihren Ursprung wohl in der folkloristischen Alpenmode des frühen 20. Jahrhunderts haben. Sie werden von ihren Sängern als „eigen“ empfunden, was so gar nicht den Vorstellungen der fränkischen Volksliedpflege entspricht. Armin Griebel stellt ganz treffend fest: „Die Frage ist nicht, ob man in Franken authentisch jodeln kann, sondern ob man das Jodeln als Ausdruck kultureller Identität akzeptieren will.“ (86)
Die Kirchweih ist als Teil der kulturellen Identität Frankens immer wieder Forschungsgegenstand der FFV. Im Beitrag „Brauchgebundenes Singen und Tanzen auf der fränkischen Kirchweih“ zeichnet Griebel die Entwicklung des Plantanzes in Gochsheim mit der Bedeutung als Rechtshandlung in der Zeit des alten Reichs nach, geht der „Historisierung des Brauchkomplexes“ (134) im 19. und 20. Jahrhundert nach und legt dessen Bedeutung für die fränkische Volkstanzpflege dar. Auch das heute noch gebräuchliche Singen von Vierzeilern betrachtet er, das durch die FFV immer wieder dokumentiert wurde. Beispiele für gegenwärtiges Singen und Tanzen bei der Kirchweih finden sich in den verschiedenen Aufsätzen, etwa in „,Bairisch‘-Tanzen. Eine fränkische Sicht auf den Zwiefachen“ und in „,Wie die Alten?‘ Deutungen und Umdeutungen musikalischer Traditionen“. In letzterem untersucht Griebel Tonaufnahmen aus verschiedenen Jahrzehnten, durchleuchtet ihren Entstehungshintergrund, vergleicht sie und stellt Fragen: „Welche Rollen spielen Innovationen, werden sie wahrgenommen? Wann geht Tradition in Traditionalismus über? Muss Volksmusikpflege zwangsläufig im Traditionalismus münden […]?“ (247) Umfangreich mit der Ideen- und Ideologiegeschichte der Volksmusikforschung und -pflege befasst sich „Vom Umgang mit Volksmusiktraditionen“ aus dem Jahr 2012. Ein überraschender Einstieg ins Thema gelingt Armin Griebel mit mehreren Absätzen über den Umgang mit jüdischen Musiktraditionen in Deutschland. Im weiteren Verlauf scheut er sich nicht, ideologische Irrtümer in der Volksmusikpflege klar zu benennen. Armin Griebel ist nicht nur beobachtender Zeitzeuge, er war auch Protagonist, wie in „Der Dudelsack in der neueren Bordunmusikbewegung in Bayern“ nachzulesen ist. Leider wurden hierzu die zahlreichen Abbildungen der Erstausgabe nicht abgedruckt. Auch mit dem Landjudentum in Franken und dem Antisemitismus hat sich Griebel immer wieder auseinandergesetzt. Zu dieser Thematik findet sich im Band der Aufsatz „,Kein falsches Bild!‘ Ludwig Richter zeichnet und schreibt über jüdische Musikanten“.
Ein ausführliches Register und ein Schriftenverzeichnis runden die Aufsatzsammlung ab, die ein stimmiges Bild der jahrzehntelangen fundierten Auseinandersetzung Armin Griebels mit der tradierten Musikpraxis in Franken ergibt.