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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Gerlinde Irmscher

Die Touristin Wanda Frisch. Eine Reisebiografie im 20. Jahrhundert

(Histoire 183), Bielefeld 2020, transcript, 321 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-8376-5386-1


Rezensiert von Burkhart Lauterbach
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 23.08.2021

Die Autorin der hier anzuzeigenden Studie, Gerlinde Irmscher, Privatdozentin am Institut für Kulturwissenschaft der Berliner Humboldt-Universität mit den Schwerpunkten Kulturgeschichte und Kultursoziologie, verfolgt ein eher ungewöhnliches Ziel, indem sie den Versuch unternimmt, auf der Basis der Auswertung eines Nachlasses einer bestimmten Persönlichkeit eine Form von „Reisebiografie“ zu erstellen. Der Nachlass befindet sich im Historischen Archiv zum Tourismus an der Technischen Universität Berlin; er besteht aus mehr als einem Dutzend Ordnern mit Reiseunterlagen sowie weiteren Dokumenten, konkret etwa Fahrkarten, Flugtickets, Skipässen, Zeitschriftenartikeln, Rechnungen und Briefwechseln, dies aus den Jahren zwischen 1935 und 1995, darüber hinaus aus eineinhalb Dutzend Fotoalben aus den Jahren zwischen 1928 und 2003, welche nicht nur eigene, sondern auch von den Eltern überlieferte Fotos enthalten. Die Sammlung wird ergänzt durch Reiseliteratur, Postkarten sowie Souvenirs. Die Akteurin selbst (Pseudonym: „Wanda Frisch“; Geburtsjahr: 1923; Geburtsort: Essen; Eltern: „mittlerer“ Angestellter und Ehefrau; keine Geschwister) besuchte eine Mädchenschule bis zum Alter von 16 Jahren und absolvierte eine Bürolehre, „die es ihr ermöglichte, zu einer geachteten Chefsekretärin aufzusteigen“, also im Angestelltenbereich zu arbeiten; sie blieb ledig und hatte keine Kinder (14 f.). Von zentraler Bedeutung ist in diesem Zusammenhang, dass sie sich, im Gegensatz zu ihren Eltern, nicht mit deutschen und deutschsprachigen Destinationen zufriedengab, sondern ausgesprochen vielseitig und vielfältig unterwegs gewesen ist, im Winter in alpinen Skigebieten, im Frühjahr in europäischen Städten und im Sommer in Ländern ebendort, mit Eisenbahn und Automobil, meistens in Begleitung von Freundinnen. Ab Mitte der 1960er Jahre standen dann mehr und mehr Fernreisen auf der Agenda, per Flugzeug und Schiff, nach Nordamerika, Ost- und Südostasien, Vorderasien, Nordafrika, in die Sowjetunion, wobei weiterhin europäische, auch innerdeutsche, Ziele von Interesse waren. Die Reiseintensität war enorm. Und: „Zuletzt reiste sie im Jahre 2003 als immerhin Achtzigjährige per Schiff nach Helsinki.“ (74)
Gerlinde Irmscher nimmt sich die Nachlass-Materialien detailliert vor, indem sie je nach Thematik unterschiedliche wissenschaftliche Ansätze einbringt und auf diese Weise versucht, die Spezifik des Reiselebens der Wanda Frisch zu erhellen, also zu beschreiben, zu analysieren sowie auszudeuten, so dass eine Form von Gesamtbild entsteht, welches die Akteurin als Typus und als handelndes menschliches Wesen in je konkreten Situationen in bestimmten sozio-kulturellen Kontexten erkennbar macht. Zunächst geht es um die lange Zeit eher marginal behandelte Thematik der Geschlechterverhältnisse im Tourismus, dies einschließlich Aspekten des Alleinreisens von Frauen, insgesamt um jene Problematik, welche in unserer Disziplin Hiltgund Jehle in ihrer Dissertation (Ida Pfeiffer. Weltreisende im 19. Jahrhundert. Münster 1989) erstmals in den Blick genommen hat. Sodann werden verschiedene Konzepte von Biografie-, Lebenslauf- sowie Generationskonstruktionen erörtert; es wird eine Art Sozial- und Kulturgeschichte der Jahre zwischen der Jahrhundertwende und den 1970er Jahren, als Hintergrundfolie für die Entwicklung der Aktivitäten der Protagonistin, entfaltet; es erfolgt eine Untersuchung dieses Reiselebens unter den Gesichtspunkten des Lebensstils, des Habitus, des Interesses, des Massentourismus, der Generationsspezifik sowie der Bürgerlichkeit, also der Existenz am Rande des Bürgertums; betrachtet wird das touristische Tun von Wanda Frisch als eine Form von kultureller Praxis sowie, im Anschluss daran, eine auf private Fotoalben und Urlaubsfotos bezogene Quellenkritik; abgerundet wird die Studie durch ein kurzes Schlusskapitel, in dem die Autorin noch einmal ihren Forschungsansatz erläutert, diesen rechtfertigt und würdigt sowie zur Erstellung weiterer vertiefender Studien auffordert.
Dieser Forschungsansatz zeichnet sich dadurch aus, dass er ausgesprochen vielfältig und vielseitig daherkommt und durchgängig das Ziel verfolgt, nicht etwa einen enggefassten Durchgang durch die touristische Karriere der Protagonistin zu liefern, sondern sich in jeder nur denkbaren Hinsicht in ein selbst gewähltes Forschungsfeld zu begeben, welches die Autorin als „Experimentierfeld“ (8) begreift, was dadurch zum Ausdruck kommt, dass aus unterschiedlichen kultur- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen entstammende Konzepte zur Anwendung gelangen und dass historische wie auch typologische wie auch geschlechtsspezifische Vergleiche hergestellt werden. Im Ganzen entsteht solchermaßen ein Gesamtbild von höchster soziokultureller Dynamik, bei dem man lediglich, insbesondere vom Schlusswort her betrachtet, bemängeln mag, dass die in vier autobiografischen Bänden präsentierten und reflektierten, umfangreichen Reiseerfahrungen der französischen Autorin Simone de Beauvoir aus den Jahren zwischen 1958 und 1972 in Gerlinde Irmschers Diskurs nicht einbezogen werden. Dabei erfüllt doch gerade sie nahezu sämtliche der einschlägigen Kriterien, nämlich als ledige, zunächst junge, als „Fräulein“ angesprochene, kinderlose Frau reisend unterwegs zu sein, allein oder zusammen mit Freunden, dies durchaus auf der Basis eigener Berufstätigkeit.