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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Aktuelle Rezensionen


Claudia Öhlschläger (Hg.)

Urbane Kulturen und Räume intermedial. Zur Lesbarkeit der Stadt in interdisziplinärer Perspektive

Bielefeld 2020, transcript, 254 Seiten, ISBN 978-3-8376-4884-3


Rezensiert von Burkhart Lauterbach
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 30.08.2021

Wenn man das Farbfoto auf dem Umschlag des anzuzeigenden, von Claudia Öhlschläger herausgegebenen, Sammelbandes betrachtet, erkennt man Hochhäuser, Straßen mit Kraftfahrzeugen, Straßenkreuzungen sowie eine kleine Ecke eines Parks, dies alles aus der Vogelperspektive aufgenommen. Man kann den Eindruck gewinnen, dass man es wieder einmal mit Ausführungen zu Entwicklungen der gegenwärtigen und zukünftigen Versionen der modernen Großstadt zu tun bekommt. Aber der Eindruck täuscht, zum Glück! Denn die insgesamt elf Beiträge setzen sich durchaus auch mit historischen Objektivationen und Subjektivationen auseinander. Die Texte stammen aus den Federn von vier Damen und neun Herren, die an verschiedenen deutschsprachigen Universitäten in der Lehre und Forschung tätig sind und mehrere Disziplinen, von verschiedenen Literaturwissenschaften über Medienwissenschaft, Kunstgeschichte/Kunst und Kulturanthropologie bis hin zur Ökonomie vertreten. Der Band geht auf eine Ringvorlesung zurück, welche im Wintersemester 2018/2019 an der Universität Paderborn zu dem etwas präziser gefassten Thema „Urbane Kultur und Räume intermedial. Zur Lesbarkeit der Stadt in Journalliteratur, Medien und Künsten“ veranstaltet wurde. Ausgehend von dem weltweit zu registrierenden Trend im Bereich der Verstädterung von Lebensräumen, wird mehr oder minder durchgängig die Perspektive verfolgt, sich mit unterschiedlichen Formen und Inhalten des Umgangs mit großen Städten auseinanderzusetzen, wobei nicht nach genaueren Kategorien differenziert wird, welche die Geografie herausgearbeitet hat, nämlich zwischen Landstadt, Kleinstadt, Mittelstadt, Großstadt, Millionenstadt, Weltstadt, Metropole und Megastadt, wie es etwa Reinhard Paesler (Stadtgeographie. Darmstadt 2008) vorführt. Und so kommt es, dass gleichermaßen Paris (mehrfach), New York, Wien, Berlin und Neapel behandelt werden, aber auch Paderborn.
Peter Utz untersucht die Praktiken und Ideologien, einschließlich der dazugehörigen Bedeutungen und dialektischen Beziehungen, welche sich zwischen einerseits dem literarischen Feuilleton und andererseits dem im 19. Jahrhundert aufkommenden französischen Flanieren und dem deutschen Spazierengehen in der Stadt zu Beginn des 20. Jahrhunderts ausmachen lassen, wobei der gesamte Komplex einer gewissermaßen doppelten Vernichtung unterworfen worden ist: „Der uniforme Marschschritt der ‚Machtergreifung‘ hat den Spaziergänger eingeholt. Er macht auch der einzigartigen Weimarer Feuilletonkultur ein brutales Ende.“ (33) Sabiene Autsch erörtert Strategien des Gehens in Manhattan als realem Bewegungsraum unter besonderer Berücksichtigung künstlerischer Gestaltungsweisen, während Markus Greulich, Simon Oberthür und Nicole M. Wilk Möglichkeiten der digitalen Stadterkundungen am Beispiel Paderborns diskutieren und einen prototypischen Stadtrundgang vorstellen, der eine innovative Form von historisch orientierter, wie sie das nennen, Raumvertiefung gewährleisten soll.
Das dann folgende Trio von Aufsätzen bildet einen, allerdings nicht als solchen ausgewiesenen, Block; es geht nämlich gleichermaßen um den visuellen Umgang mit großstädtischem Leben: Jens Ruchatz nimmt sich ausgesprochen ausführlich das in den Jahren 1898 und 1899 erschienene, zwischen Buch und Zeitschrift anzusiedelnde Lieferungswerk „Paris instantané“ vor, welches pro Lieferung eine bestimmte Anzahl von Momentfotografien aus dem Alltag der Menschen in der französischen Hauptstadt präsentiert. Aufgabe des Autors ist es, anschaulich die Themen, die Motive und die spezifischen Aufnahmetechniken zu analysieren und das gesamte Projekt (mehr als 500 Bilder auf 320 Seiten) in die Geschichte der Fotografie einzuordnen. Mareike Stoll untersucht Umgangsweisen des Fotobuchs mit der Großstadt während der Zeit der Weimarer Republik, etwa mit New York, Berlin oder Paris. Die Kategorie Fotobuch ist, in ihrer Diktion, nur dann zu verwenden, „wenn die Fotografie darin wesentlich ist, das Buch also von dem, was die Fotografie ist, definiert wird“ (141). Das leuchtet zunächst ein. Was allerdings nicht einleuchtet, ist eine Reihe von Zuschreibungen: Da wird etwa Erich Mendelsohns „Amerika. Bilderbuch eines Architekten“ aus dem Jahr 1925 als „eines der ersten Fotobücher überhaupt“ (135) bezeichnet; und deutschsprachigen Fotobüchern wird die Wirkung untergeschoben, „schnell inspirierend auf die europäischen Nachbarn aus[zustrahlen], auf Frankreich etwa, wo mit Germaine Krulls ‚Metal‘ Ende 1927 ein erstes Fotobuch in Frankreich veröffentlicht wird“ (138 f.). Hätte die Autorin den im Jahr 2011 erschienenen Hamburger Ausstellungsbegleitband „Eyes on Paris. Paris im Fotobuch 1890 bis heute“ (herausgegeben von Hans-Michael Koetzle; Rezension in: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde 2013, S. 155 f.) zur Kenntnis genommen, hätte sie erfahren können, dass allein die französische Fotobuchgeschichte bis ins ausgehende 19. Jahrhundert zurückreicht, wovon übrigens auch der Autor des dritten Aufsatzes, Wolfram Nitsch, in seinen Betrachtungen zu Stadtbrachen in Paris-Fotobüchern der Nachkriegszeit ausgeht. Es sieht so aus, als ob Stoll nur solche Bände als Fotobücher anerkennt, welche sich in gewissermaßen dezidiert-pädagogischer Mission, „Medienkompetenz auszubilden“ (157), einsetzen lassen. Sie selbst vertritt damit einen engen, die anderen Autoren und Autorinnen einen weiten Fotobuch-Begriff.
Drei weitere Aufsätze widmen sich recht disparaten Themen, den Reflexionen zum Erleben von Luftverschmutzung im Medium der Großstadtlyrik seit der Romantik (Christoph Ribbat), den Zusammenhängen von populären religiösen Kulten und politischen Praktiken am Beispiel Neapels (Ulrich van Loyen) sowie arbeitsbezogenen städtebaulichen Problemlösungsversuchen am Beispiel von Company Towns und Unternehmenscampussen (Martin Schneider), bevor der Kulturwissenschaftler Moritz Ege noch einmal ins Grundsätzliche geht und sich die Kategorie des „Urbanen“ beziehungsweise des „Urban-Seins“ vornimmt, dies mittels kulturanalytischer und ethnografischer Erkundung, anders gesagt: mittels eines anschaulichen und plausiblen Durchgangs durch die breit angelegte Wissenschaftsgeschichte, das Spektrum einschlägiger theoretischer Konzepte sowie methodischer Ansätze, welche im genannten Forschungsfeld zur Anwendung gelangen (können). Letztlich bietet Eges Text als einziger Beitrag zum Sammelband „Urbane Kulturen und Räume intermedial“ eine differenzierte und damit konstruktive sowie weiterführende Auseinandersetzung mit der zentralen Begrifflichkeit rund um das „Urbane“, was auf jeden Fall in deutlicher Weise zu würdigen ist!