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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Katharina Raabe/Frank Wegner (Hg.)

Warum Lesen. Mindestens 24 Gründe

Berlin 2020, Suhrkamp, 345 Seiten, ISBN 978-3-518-07399-5


Rezensiert von Burkhart Lauterbach
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 09.09.2021

Warum Lesen? Nun, hinter dem scheinbar vordergründigen Substantiv „Lesen“ verbirgt sich ein höchst komplexes und kompliziertes menschliches Handlungsfeld, welches in Vergangenheit und Gegenwart mit immer neuen Festlegungen, Eingriffen, Ausrichtungen und somit Praxisformen zu tun gehabt hat. Bei Rudolf Schenda, dem Grandseigneur der volkskundlich-kulturwissenschaftlich-sozialhistorischen Erzähl-, Lese(r)- und Lesestoffforschung, findet man die einschlägigen Kapitelüberschriften: „Lesen lernen, lesen dürfen und lesen können“ sowie „Lesenutzen, Lesesucht“. [1] „Lesen“, das bezieht sich, abgesehen davon, dass man auch Gedanken, Verhaltensweisen, Bilder, Ausstellungen, Landschaften und dergleichen mehr „lesen“ kann, in der Regel auf den Umgang mit den einer je konkreten Sprache zur Verfügung stehenden Buchstaben des Alphabets. Es stellt somit eine volksbildnerische Kulturtechnik dar sowie, in den Worten des Herausgeberduos Katharina Raabe und Frank Wegner der hier zu besprechenden Publikation, eine „Überlebenstechnik“ (329).
Der Band, eine Anthologie aus Anlass des siebzigsten Geburtstages des Suhrkamp Verlags im Jahr 2020, ist dem langjährigen, in demselben Jahr verstorbenen Cheflektor des Verlags, Raimund Fellinger, gewidmet. Neun Autorinnen und fünfzehn Autoren aus dem In- und Ausland, zum Teil wissenschaftlicher, zum größeren Teil literarischer Provenienz, haben sich das Thema unter vollkommen verschiedenen Aspekten und mit unterschiedlichem Umfang vorgenommen. Da geht es in manchen Beiträgen streng wissenschaftlich zu, in anderen Fällen eher literarisch; ein Beitrag ist gar als Comic präsentiert. Im Übrigen ist eine autobiografische Nuancierung der Texte, dies in unterschiedlichem Maße, unverkennbar. Auch fällt es auf, dass so gut wie niemand auf sämtliche der in der Nachbemerkung von Katharina Raabe und Frank Wegner en passant gestellten Fragen direkt eingeht. Letzterer Befund gilt auch für den Rezensenten, der lediglich auf einige zentrale Ausführungen verweist.
Katja Petrowskaja beschreibt die Rolle des in starkem Maße oppositionell vonstattengehenden Lesens als „Territorium der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“ in der späten Sowjetunion, dies nach dem Motto: „ich lese, also bin ich“ (22). Andreas Reckwitz unterscheidet in seinem kurzen Durchgang durch die Kultur- und Mediengeschichte fünf verschiedene Phasen, als da sind: die Phase der Mündlichkeitskulturen; die Entstehung der Schrift einschließlich der Herausbildung von Schriftlichkeitskulturen; die Anfänge der Moderne als Bildungskultur; die zunehmenden Einflüsse der audiovisuellen Massenmedien; schließlich die digitale Revolution, welche die sozialstrategisch ausgerichtete Frage präsentiert, ob sich speziell angesichts der sich wandelnden Lesepraxis vom eingeführten, auf Aufmerksamkeit setzenden „deep reading“ zum nunmehr zügigen „hyper reading“ nicht Chancen ergeben, mit der sich „das deep reading gewissermaßen als eine neue gegenkulturelle Praxis positionieren“ (33) lassen könnte, zumal die digitalen Medien die herkömmlichen, aber digitalisierbaren Medien (Schrift, Bild, Ton) übernehmen, allerdings nicht in voneinander getrennter, sondern in kombinierter Art und Weise. Eva Illouz differenziert, vermittelt über den Bereich der Darstellungen von Praktiken der Lektüre in Prosatexten von Gustave Flaubert, John Williams und Jean-Paul Sartre, zwischen verschiedenen Funktionen des Lesens, konkret zwischen dem typisierenden Lesen, dem bildungsbezogenen Lesen sowie dem „Lesen als das Leben selbst“ (72). Annie Ernaux diskutiert das Verhältnis von Trennung und Verbindung zwischen Lesenden und ihrer Umwelt, während Rachel Cusk eine Hommage an just diese Autorin verfasst hat, weil es ihr gelungen sei, ihre Autobiografie „Die Jahre“ (Original 2008, dt. 2017) als kollektive Biografie zu verfassen und damit einen breiteren gesellschaftlichen Gültigkeitsgrad zu erlangen.
Jürgen Habermas stellt historisch fundierte Zusammenhänge her zwischen Lesetätigkeit und religiösen Praktiken, der Einführung der Druckerpresse und sozial-medialen Praktiken, welche mit einem strukturellen „Gefälle zwischen aktiver und passiver Teilnahme am öffentlichen Diskurs“ (107) zu tun haben. Wolf Singer erkundet die kognitiven Funktionen des Lesens. Esther Kinski führt vor, wie frau ein Stück Landschaft lesen kann. Hartmut Rosa geht davon aus, dass Lesen das reale Leben keineswegs ersetzt, sondern dieses erweitert und vertieft, wobei zu berücksichtigen sei, dass der „Akt des Lesens […] eine ganz andere und viel höhere Selbstwirksamkeit als das Anschauen eines Films“ erfordert, Leistungen mithin, in Form von „Modellierungen, Variierungen und Schattierungen der Weltbeziehungen“ (206), welche im Film bereits vorgegeben sind. Oliver Nachtwey erörtert in seinem fulminanten Text über das „Lesen in der regressiven Moderne“ das Verhältnis von gesellschaftlichen Entwicklungen, soziologischer Forschung sowie literarischen Werken, wobei er klar herausarbeitet, dass die Auseinandersetzung mit der Literatur nicht automatisch dazu führt, dass es sich bei Lesenden um „bessere“ Menschen handelt. Im Gegenteil, er verweist auf Tendenzen jener neueren Publizistik und Literatur, welche sich als rechtskonservativ bis neoreaktionär bezeichnen lassen.
Was die jeweilige Handlungsperspektive betrifft, so rundet Habermas seinen Text mit einer Antwort auf die Frage, warum man lesen solle, folgendermaßen ab: „Um wenigstens manchmal einige Zipfel jener vorsprachlich präsenten Erfahrungen, aus denen wir intuitiv leben und mit denen wir dahinleben, als solche zu ergreifen und uns anschaulich vor Augen zu führen. Ob sie nun schön sind oder schrecklich.“ (123) Nachtwey geht einen Schritt weiter, indem er auf die praktische Umsetzung des lesenden Tuns verweist: Es komme letztlich darauf an, „nicht nur – lesend – eine andere Welt zu imaginieren, sondern die unsere zu verändern“ (320). Einen deutlicheren Beleg für den Fortbestand der guten alten „Suhrkamp-Kultur“, welche der amerikanische Literaturwissenschaftler George Steiner am 9. März 1973 in einem Beitrag für „The Times Literary Supplement“ hochschätzte, kann es eigentlich nicht geben! [2]

Anmerkungen

[1] Rudolf Schenda: Volk ohne Buch. Studien zur Sozialgeschichte der populären Lesestoffe 1770–1910. 3. Aufl. Frankfurt am Main 1988, S. 50, 57.

[2] Geschichte des Suhrkamp Verlages: 1. Juli 1950 bis 30. Juni 1990. Frankfurt am Main 1990, S. 97, 159.