Aktuelle Rezensionen
Edith Raim
„Es kommen kalte Zeiten“. Murnau 1919–1950
München 2020, Volk, 752 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-86222-351-0
Rezensiert von Burkhart Lauterbach
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 15.09.2021
Bei der hier anzuzeigenden Studie handelt es sich um eine Begleitveröffentlichung zur gleichnamigen Sonderausstellung, die 2020/2021 im Schlossmuseum in Murnau zu sehen ist. Als Ausstellungskuratorin wie auch als Buchautorin fungiert Edith Raim, die als Privatdozentin für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Augsburg tätig ist und bereits mehrere einschlägige Publikationen vorgelegt hat.
Ausgangspunkt ist die Auffassung, dass, entgegen der Annahme der eigenen disziplinären Fachwelt, manche Thematiken zur fraglichen Geschichtsperiode noch nicht bearbeitet worden seien, zudem, dass gerade in den letzten beiden Jahrzehnten die erstmalige Zugänglichkeit mehrerer Aktenbestände, etwa aus dem ehemaligen Berlin Document Center und vom Internationalen Suchdienst in Bad Arolsen, das Quellenspektrum erheblich erweitert hätten, schließlich, dass insbesondere der „mikroskopische Blick“ auf die als eher „provinziell und wenig reizvoll“ betrachtete Lokalgeschichte immer noch eine minoritäre Forschungsrichtung repräsentiere. Dies sei erstaunlich, da Murnau, obwohl mitten im katholischen und konservativen Oberbayern gelegen, bereits seit den frühen 1920er Jahren „mehrheitlich nationalsozialistisch bzw. völkisch“ gewählt habe und daher als „Hochburg des Nationalsozialismus“ galt, was aber Andersdenkende politischer, religiöser, künstlerischer und literarischer Provenienz, zum Teil von internationaler Bedeutung, zumindest phasenweise nicht gehindert habe, just dort zu leben (16–21). Damit ist im Grunde die Aufgabe formuliert, herauszufinden, welche Vorgänge dazu geführt haben, dass Murnau zu diesem zweifelhaften Ruf gekommen und wie es im Laufe der Jahrzehnte damit umgegangen ist.
Die Autorin hat ihre Studie aus den Quellen heraus erarbeitet und zu diesem Zweck die Bestände zahlreicher Archive unterschiedlicher Kategorien in Deutschland und den USA ausgewertet, wobei eine besondere Rolle die planmäßige Auseinandersetzung mit der Berichterstattung der Lokalzeitung (seit 1888: Staffelsee-Bote, ab 1930 Murnauer Tagblatt) gespielt hat, was sich deutlich im Anmerkungsteil mit knapp über 5 000 Einträgen dokumentiert. Die Studie ist so aufgebaut, dass einer Einleitung vier ausgesprochen umfangreiche und reich untergliederte Kapitel folgen, in denen die Murnauer Geschehnisse zu Beginn des 20. Jahrhunderts, sodann während der Zeit der Weimarer Republik, während der Zeit der NS-Diktatur sowie während der frühen Nachkriegszeit behandelt werden, bevor ein Schlusskapitel mit einem forschungsbezogenen Ausblick die Arbeit abrundet.
Wer nun erwartet hat, dass sich die Autorin peu à peu die Marktgemeinde unter besonderer Berücksichtigung politischer Organisationen vornimmt, wird angenehm enttäuscht, da sie ausgesprochen vielseitige und vielfältige Handlungsbereiche in ihren jeweiligen Entwicklungen verfolgt, so dass man den Schluss ziehen kann, dass sie eine gleichermaßen politik-, wirtschafts-, sozial-, kultur- und alltagshistorische sowie biografische Aspekte untersuchende Studie vorgelegt hat, welche durchgängig akteurszentriert ausgerichtet ist. Zudem herrscht eine Frageperspektive vor, der es stets vorwiegend darum geht, nach dem „Wie“ der verschiedenen Prozesse zu fragen – und nicht unverzüglich nach dem „Warum“, was der Studie ansatzweise eine geradezu ethnografische Note zu verleihen in der Lage ist.
Grob gesagt, in Murnau war eine Melange aus militärischen Einflüssen (Niederlage im I. Weltkrieg), politischen Einflüssen (unbeliebte Reichsgründung, Versailler Vertrag, nach 1918 Verlust bayerischer Sonderrechte, Revolution, gegenrevolutionäre Kräfte), finanziellen Einflüssen (Inflation), ökonomischen Einflüssen (Krisen), bevölkerungspolitischen Einflüssen (vorübergehende oder gar kontinuierliche Anwesenheit von Touristen, Neu-Murnauern, auch pensionierten Offizieren) und ordnungspolitischen Einflüssen (zunehmender Verlust von Werten, Hierarchien, Orientierungen) am Wirken, welche dafür gesorgt hat, dass man weiterhin, letztlich gemeinsam, wenn auch nicht unbedingt zeitgleich, „patriarchalische Gesellschaftskonzepte“ (344) verfolgte, die während der Zeit des Nationalsozialismus ihren brutalen und Menschenleben verachtenden Höhepunkt fanden. Gleichwohl heißt es: „Nennenswerten Profit zog die Gemeinde Murnau nicht aus dem ‚Dritten Reich‘. […] Anstatt florierendem Einzelhandel gab es noch in der Vorkriegszeit die Rationierung selbst gewöhnlicher Alltagsgegenstände. Zu dauerhaften größeren Unternehmens- und Industrieansiedlungen kam es ebenso nicht. Anstatt einer repräsentativen Garnison, die konsumfreudige und schneidige Soldaten, schmissige Militärmusik und glanzvolle Paraden mit sich bringen und Geld in die Kassen des Orts spülen sollte, waren während des gesamten Zweiten Weltkriegs polnische Kriegsgefangene in einer der beiden Kasernen untergebracht.“ (567 f.) Gab es nach der Beendigung der Kriegshandlungen, während der Besatzungszeit und ebenso direkt danach, durchaus konstruktive Ansätze in Richtung eines wirtschaftlichen und kulturellen Neuanfangs, von Strukturwandel ist die Rede, so herrschte gleichzeitig, abzulesen an der immer wieder unterlaufenen Entnazifizierungspraxis, eine Atmosphäre der Verharmlosung der eigenen NS-Vergangenheit, was zunächst eher nicht für einen parallel einsetzenden Mentalitätswandel spricht.
Alles in allem haben wir es bei Edith Raims Murnau-Studie mit einer wohl formulierten, didaktisch einwandfreien, interessanten und zu weiteren Fragen anregenden Publikation zu tun, der lediglich eine Karte fehlt. Nicht jede*r Leser*in ist mit der Region vertraut.
Nachtrag: Bei der auf Seite 464 erwähnten „Deutschen Akademie“ handelt es sich keineswegs, wie in Anmerkung 915 auf Seite 717 vermutet wird, um die Bayerische Akademie der Wissenschaften, sondern um eine zwischen den Jahren 1924 und 1962 von München aus aktive, als eingetragener Verein gegründete „Akademie zur wissenschaftlichen Erforschung und Pflege des Deutschtums – Deutsche Akademie (D. A.)“, welche aus einer „wissenschaftlichen“ und einer anwendungsbezogenen „praktischen“ Abteilung bestand, sich besonders auf dem Gebiet der Förderung der sogenannten Auslandsdeutschen hervortat, sich zu einer NS-Propagandainstitution entwickelte, nach 1945 verboten wurde sowie spätere Neugründungsversuche nicht überstand. Über sie hat Edgar Harvolk 1990 die Studie „Eichenzweig und Hakenkreuz. Die Deutsche Akademie in München (1924–1962) und ihre volkskundliche Sektion“ veröffentlicht.