Logo der Bayerischen Akademie der Wissenschaften

Kommission für bayerische Landesgeschichte

Menu

Aktuelle Rezensionen


Richard van Ess

Der Underground war amerikanisch. Vorbilder für die deutsche Undergroundpresse

(Sonderband der Tübinger Vereinigung für Volkskunde e. V.), Tübingen 2018, Tübinger Vereinigung für Volkskunde e. V., 595 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-932512-98-8


Rezensiert von Burkhart Lauterbach
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 09.09.2021

Noch eine kulturwissenschaftliche Studie über Themen aus der Zeit rund um das Jahr „1968“? Aber ja doch – und zwar eine bei Monique Scheer und Gottfried Korff (1942–2020) am Tübinger Ludwig-Uhland-Institut erarbeitete Dissertation von Richard van Ess (1972–2017) zu einem bedeutsamen, aber weitgehend vernachlässigten Handlungsbereich. Es geht dem Autor nämlich zentral um die Auseinandersetzung mit einer Quellengattung, welche Kultur und Lebensweise einer ganz bestimmten, politisch-radikalen und außerparlamentarischen, Subkultur hierzulande spiegelt, dies, grob gesagt, im Jahrfünft zwischen 1968 und 1973. Die Selbstbezeichnung „Underground“ stammt ursprünglich aus dem New York der frühen 1960er Jahre, bezog sich zunächst auf avantgardistische Kulturaktivitäten, bevor sie eine begriffliche Ausweitung in Richtung des Kampfes um eine umfassende Gegengesellschaft zur damaligen Gegenwart in zahlreichen Ländern rund um den Globus erfuhr. Angesichts der Tatsache, dass ebendort eine besondere Form von Presse entstand, „die aus der Szene für die Szene über die Szene schrieb“ (41), also als Sprachrohr einer kulturellen und sozialen Bewegung fungierte, nimmt sich Richard van Ess die deutschsprachige Variante vor mit dem Ziel, nicht nur die jeweiligen Eigenheiten einer Analyse zu unterziehen, sondern speziell der Frage nachzugehen, welche Einflüsse da am Wirken gewesen sind, welche Kulturtransfers stattgefunden haben. Ein Teil der einschlägigen Hypothese findet sich bereits im Titel seiner Studie wieder: „Der Underground war amerikanisch.“ Insgesamt gelangten 490 Ausgaben von rund 120 Presseprodukten zur näheren Untersuchung.
Die Studie ist so aufgebaut, dass in einem ersten Schritt nicht nur die theoretischen und methodologischen Grundlagen thematisiert werden, sondern es auch zu einer differenzierten Darlegung des Forschungsstands sowie zur Charakterisierung und Feingliederung des empirischen Materials samt seiner Verwendungskontexte kommt. In weiteren drei Schritten nimmt der Autor jenen Teil der Auswertung vor, den man als Synthese von Analyse und Ausdeutung bezeichnen kann. Zunächst breitet er ein ganzes Spektrum von Handlungsmöglichkeiten „des Underground-Revolutionärs“ aus, als da sind: Kriegsdienstverweigerung, Engagement in der Black Panther Party und weiteren politischen wie auch subkulturellen Organisationen, Orientierung an subkulturellen Kultpersonen. Sodann werden die verschiedenen Wege „des Musikers und des Künstlers“ nachgezeichnet, in den Bereichen Folk- und Rockmusik, Theater, Kunst, Literatur sowie Comics. Es folgt die Auseinandersetzung mit als neu bezeichneten „Formen selbstverwalteter Lebensentwürfe“, was sich konkret auf kollektive Formen des Zusammenlebens, auf Festivals, Kommunen, Umweltschutzinitiativen, die Orientierung an der historischen und gegenwärtigen „Indianerbewegung“, auf Drogenkonsum sowie Esoterik bezieht.
Dem Autor gelingt es, ganzheitlich und detailliert, konkret und anschaulich vorzuführen, welche nordamerikanischen kulturellen und sozialen Praxisformen als Vorbilder für hiesige Szenen in Frage kommen und wie mit ihnen umgegangen wird, durch welche Mittler, mit welchen Modifikationen und aus welchen Begründungszusammenhängen. Stets geht es darum, vorzuführen, wie die (west-)deutschen Produkte der Underground-Presse mit US-amerikanischen Themen sowie deren Themenbehandlungen umgehen, welche Verbindungen sich zwischen dortigen Entwicklungen und den hiesigen Darstellungen ausmachen lassen sowie welche Kulturtransfers konkret stattgefunden haben. Im Zentrum der Untersuchung stehen Vorgänge, die man als Aneignungsweisen, also einseitige Anleihen, bezeichnen kann; Prozesse der gegenseitigen „Transkulturation“ (41, 68) stehen nicht zur Debatte, dies angesichts der Tatsache, dass sie nicht stattgefunden haben. In diesem Zusammenhang wünschte man sich erheblich deutlicheren Aufschluss über das Vorgehen: Welches theoretische Konzept von „Kulturtransfer“ liegt der Studie zugrunde?
Ungeachtet dessen gelingt es dem Autor in souveräner Art und Weise, die These des britischen Historikers John R. Davis, formuliert in seinem Buch „The Victorians and Germany“ (Oxford et al. 2007, S. 18), zu verifizieren: „For one thing, though the notion ‚cultural transfer‘ artificially emphasises ‚high culture‘, this in fact overlooks the multitude of areas in which transfer took, and takes, place.“