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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Daniela Mysliwietz-Fleiß

Die Fabrik als touristische Attraktion. Entdeckung eines neuen Erlebnisraums im Übergang zur Moderne

(Transkult: Studien zur transnationalen Kulturgeschichte 2), Wien/Köln/Weimar 2020, Böhlau, 452 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-412-50779-4


Rezensiert von Kurt Luger
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 23.08.2021

Die touristische Neugier und der dazugehörige Blick sind schon sonderbare Phänomene. Im Welterbe-Dörfchen Hallstatt mit seinen 800 Einwohner_innen, das vor Corona jährlich von einer Million Schaulustiger aus Asien überrollt wurde, gingen die Einheimischen gelegentlich absichtsvoll in den Ort hinein, zum „Chinesen schaun“, so sonderbar kam den Einheimischen der touristische Habitus der Besucher_innen aus dem fernen Osten vor. Was diese interessant fanden, worüber sie sich wunderten oder begeisterten – dieser fremde Blick auf die eigene Umgebung wurde zum Gaudium für die Hallstätter. Sonst wollten sie lieber nicht deren Wege kreuzen, was angesichts der Kleinheit des Dorfes mit nur einer Seepromenade aber kaum zu verhindern ist. Selbst die Begräbnisse auf dem pittoresken Gottesacker fanden ihr touristisches Publikum und erhielten als vermeintliche Aufführungen ihren verdienten Applaus. Die Begegnung von Menschen verschiedener Kulturen ist eben eine Herausforderung auf beiden Seiten, birgt die große Chance zum Missverständnis und eine kleine zum interkulturellen Verständnis.
So oder so ähnlich muss es gewesen sein, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als die Bürger als Touristen die fremde Welt in den Fabriken entdeckten – wenige Jahre nach der bürgerlichen Revolution 1848 und nachdem Marx und Engels ihre Studien über das Elend der Arbeiterklasse beziehungsweise das kommunistische Manifest formuliert hatten. Die Autorin der vorliegenden Monografie, Daniela Mysliwietz-Fleiß, analysiert den touristischen Blick scharf – er ist zumeist männlich, oft deklassierend und meist ideologisch, sprich: er dient der Aufwertung der eigenen Person beziehungsweise der Selbstvergewisserung der eigenen Klasse. Der Schauwert – egal ob er sich auf exotische Tiere, außereuropäische Menschen oder unterprivilegierte Angehörige einer europäischen Nation bezieht – war immer ähnlich: Die Betrachtenden suchten das Andere, über das beziehungsweise über die Abgrenzung davon sie sich dann selbst definieren konnten. Die interkulturelle Kommunikationstheorie hat hierfür die Modi des Fremdverstehens entwickelt. Die Autorin entfaltet dafür einen breiten Erklärungszusammenhang, in dem sie Tourismus als symbolische Praxis und performativen Akt vorstellt und die Erfahrung als „touristische Wissensräume“ (21 ff.) definiert.
Es geht also um die Konstruktion von Bedeutsamkeiten, im Konkreten eben um die für das Bürgertum nicht näher bekannte Arbeitswelt der industriellen Produktion. Die großen Werkshallen müssen zumindest einen überwältigenden Raumeindruck hinterlassen haben – aber was konnte der bürgerliche Blick den Arbeitsprozessen an Erkenntnis abgewinnen? Dem Zeitgeist geschuldet, stand die Begeisterung für Naturwissenschaften und deren technischen Einsatz im Vordergrund des fast ausschließlich männlichen Interesses. Den bürgerlichen Tugenden angemessen musste so ein als Freizeitbeschäftigung verstandener Fabrikbesuch als Bildungsmaßnahme ausgewiesen werden und somit sogar noch Statusrelevanz haben. Der Gang durch die Produktionsstätte lieferte natürlich nur höchst oberflächliche Eindrücke von der Fabrik und der dortigen Arbeitswelt, aber er hatte Erlebnisqualität, zumal am Ende die Unternehmensleitung zu einem festlichen Gastmahl einlud, Sekt oder hochwertige Souvenirs reichte. Zwischen der Fabrik als Ort des ökonomischen Wertschöpfungsprozesses und dem Ort des touristischen Erlebnisses entstand so eine erhebliche Diskrepanz. Weil Zuseher Arbeitsabläufe ja eher stören, musste man sie separieren und so wurden nur manche Arbeitsplätze in Form eines Parcours der touristischen Neugier zugänglich gemacht. Mit der Öffnung der Fabrik als touristisches Ziel startete eine Entwicklung, die heutzutage mit den opulenten Leistungsschauen und firmengeschichtlichen Inszenierungen etwa der Automobilbranche – der BMW-Welt in München, dem Mercedes-Benz-Museum in Stuttgart oder dem Audi-Forum in Ingolstadt um nur einige zu nennen – zur Eventkultur und Heritage-Pflege gehört und einen vorläufigen architektonischen Höhepunkt erreicht hat.
Wie im Alpentourismus oder in der Betrachtung inszenierter Sehenswürdigkeiten in einer Warenausstellung, im Zoo oder in den Völkerschauen, wie sie im Kontext von Weltausstellungen damals populär waren, umfasste dieser touristische Blick immer ein genau umrissenes Ensemble. Bei den Alpen waren es spezielle Aussichtspunkte, die den Besucherblick auf das „Erhabene“ fokussierten. In der Ästhetisierung der industriellen Arbeitswelt stand die faszinierende Technik und deren Abläufe oder die eindrucksvoll in Vitrinen präsentierten Waren und hergestellten Produkte im Zentrum. Dem Interesse des Bürgertums kamen die Unternehmen insofern entgegen, als sie erkannten, dass eine gezielte Information der Öffentlichkeit über den Kundenkreis hinaus eine image- und damit absatzfördernde Wirkung hatte.
So entstanden spezielle Medien wie Fabrik- oder Werksführer, die schon vor der Besichtigung konsumiert wurden und den Blick lenkten, so wie wir heute jenen Sehnsuchtsorten erwartungsvoll nachreisen, die sich erfolgreich mit ihrem Marketing im Wettbewerb um Aufmerksamkeit durchsetzen. Die Lenkung der Besucher durch den Innenraum Fabrik erfolgte also nach einem Ordnungssystem, das einen vermeintlichen Bildungseffekt erspüren ließ, malerischen Aspekten den Vorzug gab und die eigenen bürgerlichen Wertvorstellungen nach Möglichkeit bestätigte. Arbeiterinnen und Arbeiter wurden als Anschauungsobjekte entindividualisiert, eher als Objekte der sozialen Fürsorge gesehen, oder ihre Arbeitswelt unter ästhetischen Gesichtspunkten betrachtet. Mit Besuchen der Werkssiedlungen wurde dann dieser verklärende Charakter von Unternehmen als Wohlfahrtseinrichtungen noch bestätigt.
Bis zum Ersten Weltkrieg hatte sich die Fabrik in Deutschland als touristisches Ziel etabliert. In den Folgejahren und ganz besonders nach dem Zeiten Weltkrieg warben Firmen offensiv für einen Besuch ihrer Werksanlagen, wurden viele Fabriken oder ganze Gewerbegebiete zu Ausflugszielen und touristischen Sehenswürdigkeiten für Gäste aus jeder Gesellschaftsschicht, wie ja auch die Konsumgesellschaft Individuen aller sozialen Gruppen oder Schichten als Konsument_innen wie als Tourist_innen vereinnahmt hat.
Daniela Mysliwietz-Fleiß hat einen interessanten Band zur Kulturgeschichte des Bürgertums und seiner Reisepraxis vorgelegt. Sie hat differenziert ausgearbeitet, was Tourismus bis heute im Wesentlichen ist: ein Ausflug in eine inszenierte Welt, oftmals unreflektierter Konsum von Landschaften und Menschen, verschnürt in einem Angebot und genossen wie eine ambulante Vergnügungseinrichtung. Dem oberflächlichen Interesse für das Fremde entspricht die Begegnung auf Distanz, und von Erkundungsfahrten in die tatsächliche Anderswelt kann zumeist nicht die Rede sein.