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Peter-Paul Bänziger

Die Moderne als Erlebnis. Eine Geschichte der Konsum- und Arbeitsgesellschaft, 1840–1940

Göttingen 2020, Wallstein, 452 Seiten mit 17 Abbildungen teils farbig, ISBN 978-3-8353-3646-9


Rezensiert von Kaspar Maase
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 23.08.2021

Auch ethnografisch arbeitende Kulturforscher*innen wissen meist den Reiz historiografischer Darstellungen zu schätzen, die theoretisch gegründete Synthesen langfristiger Entwicklungen bieten. Sie können den Blick für übergreifende Zusammenhänge schärfen und Konzepte liefern, die auch für die Interpretation aktueller Fallstudien hilfreich sind. Das auf einer Basler Habilitationsschrift beruhende Buch von Peter-Paul Bänziger hat das Zeug für eine solche Lektüre. Es verfolgt, sehr kurz gesagt, die Herausbildung dessen, was seit Gerhard Schulze „Erlebnisgesellschaft“ heißt. Der Klappentext spitzt zu: „Spaß und Abwechslung statt Arbeitsamkeit und Mäßigung: wie die Menschen um 1900 Berufsleben und Freizeit neu arrangierten.“
Für den Zeitraum zwischen 1840 und 1940 wird die Veränderung von Einstellungen und Praktiken in Berufsarbeit und arbeitsfreier Zeit dargestellt. Dass dabei die Periode „um 1900“ als Phase des qualitativen Umschlags bestimmt wird, deckt sich mit vielen kultur- und ideengeschichtlichen Arbeiten zu dieser Periode. Einen eigenen Weg wählt Bänziger allerdings, indem er gegen die von ihm als einseitig wahrgenommenen Paradigmen „Arbeitsgesellschaft“ oder „Konsumgesellschaft“ ein neues Modell vorschlägt: die „Konsum- und Arbeitsgesellschaft“. Im 19. Jahrhundert sei eine zunehmende „Komplementarität von produktiver Arbeit und konsumorientiertem Vergnügen“ (13) entstanden. Um ca. 1900 voll ausgebildet, veränderte dies die Leitvorstellungen und Praxismuster der Menschen gegenüber Arbeit wie Freizeit und formte die neue Konstellation der „Konsum- und Arbeitsgesellschaft“. Von den auf Schulze zurückgehenden Vorstellungen der „Erlebnisgesellschaft“ unterscheidet sich Bänzigers Modell in einem wesentlichen Punkt: Die Suche nach „Spaß und Abwechslung“ sieht er nicht nur, nicht einmal dominant, in der Freizeit; diese Orientierung habe ebenso tiefgreifend Arbeitseinstellungen und arbeitsbezogene Praktiken geprägt.
Soweit die zentrale These. Angelehnt insbesondere an Überlegungen von Andreas Reckwitz zur Subjektivitätsentwicklung der Moderne, betrachtet Bänziger die Herausbildung einer neuen Subjektkultur in den Jahrzehnten um 1900 quasi als Schlüsselgröße in der sozialen Transformation zur Konsum- und Arbeitsgesellschaft. Die Studie operationalisiert dieses Konzept, indem sie für Beruf wie Freizeit jeweils zwei Dimensionen in den Fokus rückt: zum einen „Leitvorstellungen“ und „Identifikationsangebote“ als „Richtlinien und Wertvorstellungen […], an denen die Menschen ihr Handeln […] ausrichten“, zum anderen die Praktiken und „Handlungsroutinen, über die kulturelle Codes unser Tun, Fühlen und Denken grundlegend strukturieren“ (13).
Der Titelbegriff der Moderne verweist nicht auf Modernitätstheorien. Er dient Bänziger vielmehr dazu, eine Alternative zu vermeiden, die in einigen Debatten der vergangenen Jahrzehnte polarisierend gewirkt hat: den Streit, ob wesentliche gesellschaftsgeschichtliche Wandlungen nun bürgerlich oder unterschichtlich geprägt worden seien. Er betont die Diskontinuitäten der Entwicklung. Die Konsum- und Arbeitsgesellschaft sei nicht aus Traditionen bestimmter sozialer Gruppen herzuleiten; sie stelle vielmehr etwas qualitativ Neues dar und habe Subjektivitäten im bürgerlichen Milieu wie in den lohnabhängigen Schichten gleichermaßen verändert und teilweise angenähert. Damit werden Erklärungsangebote wie „Verbürgerlichung“ oder „Nachahmung oberschichtlicher Lebensformen“ grundlegend zur Disposition gestellt (194 ff.).
Solche Fragen haben auch die Post-Volkskunde und insbesondere die Arbeiterkultur- und Alltagsgeschichtsforschung der 1970er bis 1990er Jahre beschäftigt. Auf deren Befunde greift Bänziger allerdings kaum zurück. Zwar wird mehrfach neben anderen unterbürgerlichen Gruppen „der Einfluss der einfachen Arbeiterinnen und Arbeiter und ihrer Erfahrungen“ (15) betont, der in Lebensformen und Selbstsichten der Konsum- und Arbeitsgesellschaft eingeflossen sei. Doch hätte die Studie von dieser Seite her dichter gearbeitet werden können. Bänziger belegt und konkretisiert seine Thesen nämlich mit der Auswertung von Tagebüchern und vergleichbaren Texten über die Zeitspanne von 1840 bis 1940. Diese Quellen decken zwar das soziale Spektrum ungefähr ab; doch sind auch in den vom Autor genutzten Beständen Materialien aus der Arbeiterschaft deutlich unterrepräsentiert. Er füllt die Lücke mit diaristischen Texten von Handwerkern, Haushaltspersonal und männlichen wie weiblichen Angestellten. Auswahlkriterium war die „Verallgemeinerbarkeit“, die Typizität der vertretenen Lebensform (25). Die O-Töne werden kontextuiert und interpretiert mithilfe einschlägiger historischer Studien – und hier wurde das Potenzial alltagsgeschichtlicher Forschungen zu den Lebensweisen von Arbeiterinnen und Arbeitern nicht wirklich genutzt.
Thematisch verfolgt die Studie zwei durchgehende Linien: die Einstellungen zu Arbeit und Leistung einerseits, den Umgang mit Freizeit und Vergnügung andererseits. Das geschieht in sechs Kapiteln, die den Untersuchungszeitraum in etwa chronologisch abdecken. Die Schwerpunkte wechseln dabei. Das erste Kapitel fokussiert Alltage, die um 1850 quer durch die soziale Schichtung vom Wirtschaften innerhalb eines familiären Bezugsfeldes geprägt wurden. Anschließend wird herausgearbeitet, wie sich bürgerliche Alltage an den Geboten allgemeiner Arbeitsamkeit (innerhalb wie außerhalb formeller Arbeitsverhältnisse) und der Mäßigung in Arbeit wie Vergnügung orientierten. Das individuelle Leistungsethos, für Teile der Forschung ein Grundelement des bürgerlichen Wertehimmels, kann Bänziger in seinen Quellen interessanterweise nicht entdecken.
Von hier aus fragt das dritte Kapitel, wie sich im späten 19. Jahrhundert die „arbeitsbezogenen Praktiken und Leitvorstellungen der Unterklassen“ (26) entwickelten. Während Bedienstete teilweise bürgerliche Vorstellungen übernahmen, verwandelte sich das handwerklich-wirtschaftsbürgerliche Produktethos im Zeitalter der Großindustrie in ein abstrakteres „Produktionsethos“. Das erwies sich als „leichter anschlussfähig für ein erfolgs- beziehungsweise ergebnisorientiertes Leistungsdenken“ und wurde so auch von Teilen der Arbeiter- und Angestelltenschaft vertreten (26). Nach 1900 zählte es, so Bänziger, zu den übergreifenden Elementen der Subjektkultur in der Konsum- und Arbeitsgesellschaft.
Deren bestimmende normative Rahmungen untersucht das vierte Kapitel. Zunächst wird gegenüber einigen Ansätzen der Konsumgeschichtsschreibung belegt, dass die Lohnabhängigen „nicht nur bezüglich des Arbeitsethos, sondern auch im Zusammenhang mit Vergnügen und Genusspraktiken nicht einfach bürgerliche oder aristokratische Vorbilder nachahmten. Sie spielten nicht nur durch ihre Arbeits- und Kaufkraft eine wichtige Rolle […], sondern auch durch ihre Vorlieben und spezifischen Lebensbedingungen“ (204). Vor diesem Hintergrund wird dann veranschaulicht, wie sich Nation, Kleinfamilie und Betrieb zu „Eckpunkte[n] im Wertesystem der [frühen; KM] Konsum- und Arbeitsgesellschaft“ (204) verbanden; deren Normen sorgten dafür, dass Leistungsorientierung und Massenkonsum nicht zu hemmungslosem Individualismus und damit zur Bedrohung des gesellschaftlichen Zusammenhalts führten, wie es viele zeitgenössische Kritiker prophezeiten.
Im fünften Kapitel geht es zentral um die Erlebnisorientierung, verstanden als „eine spezifische Form der Ästhetisierung des Alltagslebens durch die Orientierung an Glück, Spaß und Genuss und eine Relativierung des bürgerlichen Handlungsmusters der aufgeschobenen Befriedigung“ (17). Es setzte sich die Bewertung von Ereignissen und Dingen anhand ihrer „emotionale[n] Qualität und Intensität“ (17) sowie ihrer Eignung zur Abwechslung durch. Diese Einstellung bildete laut Bänziger eine „subjektkulturelle Klammer“ (17), die gleichermaßen in Berufsarbeit wie Freizeit Anlässe und Befriedigung fand.
Ob diese Gleichrangigkeit der Erlebnissphären zutrifft und wie sie sich zu Gerhard Schulzes „Projekt des schönen Lebens“ verhält, auf das Bänziger sich bezieht, wird vermutlich noch diskutiert werden. Die These, dass Erlebnisorientierung zentral in der Subjektkultur der Konsum- und Arbeitsgesellschaft sei, wird jedenfalls eindrucksvoll unterstützt durch das letzte Kapitel, das das diaristische Material medienhistorisch betrachtet. Hier geht es nicht um die Inhalte der Texte, sondern um Schreibweise und Materialität der Tagebücher. Diese wandelten sich, griffig formuliert, aus biografischen Aufzeichnungen in „Erlebnistagebücher“. Zum geschriebenen Wort traten farbige Ornamente und Zeichnungen, Postkarten, Zeitungsausschnitte und Eintrittskarten. Ein zunehmend emotionaler, informeller und assoziativer Stil machte das Schreiben selbst, so die plausible Interpretation, zur „Praktik der Erlebnisproduktion“ (368).
Das Buch ist gut lesbar und klar auf die tragenden Thesen hin formuliert; regelmäßige Zusammenfassungen halten den roten Faden präsent. Zugleich profitieren die Leser*innen von den anschaulichen Quellenbelegen, die der historischen Alltagskulturforschung viele Anregungen bieten. Insgesamt präsentiert Bänziger ein starkes Argument für das „Zusammenführen von Perspektiven der Arbeits- und der Konsumgeschichtsschreibung“ (385) – und sollte damit im Vielnamenfach auf offene Ohren stoßen. Mit der Erlebnisorientierung bietet er ein produktives Konzept an, um wesentliche Tendenzen der Subjektkulturen des 20. und 21. Jahrhunderts herauszuarbeiten. Seine Definition von „Erlebnis“ bleibt allerdings recht offen; Stichworte wie „Alltagsästhetisierung“ und „schönes Leben“ (Gerhard Schulze) weisen auf Forschungslinien hin, die auch in der Europäischen Ethnologie/Kulturanthropologie (die bisher mit Schulze erheblich fremdelt) mit Gewinn heranzuziehen wären. Man muss ja nicht an der Begrifflichkeit kleben.
Mit ihren Argumenten für eine kulturanalytisch informierte Forschung, die neben den Traditionen von Bürgerlichkeit die Rolle der „Massen“ Lohnabhängiger in der Geschichte der „Konsum- und Arbeitsgesellschaft“ untersucht, empfiehlt sich die Studie für persönliche Lektüre wie für post-volkskundliche Fachbibliotheken.