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Daniela Sandner

Konstruierte Männlichkeit. Hygienische Reformliteratur, Prosatexte und Ego-Dokumente im Wilhelminismus und in der Weimarer Republik

(Veröffentlichungen zur Volkskunde und Kulturgeschichte 106), Bamberg/Würzburg 2019, Verlag der Bayerischen Blätter für Volkskunde, 383 Seiten, ISSN 0721-068X


Rezensiert von Florian G. Mildenberger
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 23.08.2021

Schriftstellernde Ärzte, selbst berufene Volksaufklärer und Eheberater hatten um 1900 Konjunktur. Sie alle gingen davon aus, dass ihr Rat gebraucht würde in einer sich stetig verändernden Welt, in der überkommene Werte und Wertvorstellungen bedroht schienen. Hohe Auflagen ihrer Bücher schienen ihre Weltsicht zu bestätigen und auch spätere Historiker folgten diesem Narrativ. Weniger historiografische Beachtung fanden die ebenso auflagenstarken Prosatexte der Jahrhundertwende, obwohl sie eher gelesen und mehr Verbreitung fanden als die medizinische Populärliteratur. Die Europäische Ethnologin Daniela Sandner widmet sich in ihrer an der Universität Bamberg eingereichten Dissertation genau dieser Problematik: Sie vergleicht die beiden Genres der Prosaliteratur und der Aufklärungsschriften. Zusätzlich hat sie im Deutschen Tagebucharchiv Emmendingen Ego-Dokumente von jungen Frauen und Männern aus der Zeit der Jahrhundertwende ausgewertet, um zu ergründen welche Relevanz die literarische und hygienische Volksaufklärung entwickelte.
Das Buch ist in elf Hauptkapitel gegliedert, denen ein umfangreicher bibliografischer Apparat beigeordnet ist. Drei Kapitel sind als Einführung in Thematik, Forschungslage und die Erklärung des „hygienischen Quellenkorpus“ angelegt. Detailliert schildert Sandner am Beispiel von auflagenstarken Schlüsseltexten, welche Anforderungen, Vorstellungen, Vorurteile und Ideale von Männern und Frauen dominierten. Im „Zeitalter der Nervosität“, wie der Historiker Joachim Radkau das zweite deutsche Kaiserreich in der Phase nach Bismarcks Entlassung charakterisierte, gab es strikte Vorgaben, was „den guten Mann“ und „die ideale Frau“ auszeichnete. Das Problem bestand darin, dass insbesondere die Männer diese Ideale bestenfalls als vage Empfehlungen interpretierten. Wirkmächtige Volksaufklärer wie der Naturheilkundige Reinhold Gerling oder der Arzt Heinrich Mann warben für die vollkommene Ehe gleichberechtigter Partner und warnten vor Onanie, Alkoholkonsum und Prostitution. Die unter Pseudonym schreibende Schriftstellerin Betty Kurth geißelte in ihren Schlüsselwerken „Vera“ und „Verus“ aus dem Jahre 1902 männliches Fehlverhalten und benannte den Anspruch der Frauen, sittlich reine Männer zu heiraten. Im Tagebucharchiv jedoch entdeckte Sandner Selbstzeugnisse, die nahe legten, dass die Leserinnen der Aufklärungsliteratur ganz eigene Schlüsse aus den Texten zogen – nämlich dass die Forderung nach Gleichberechtigung in Liebe und Ehe eine Ausweitung der sexuellen Freiheit auf die Frau und nicht etwa den gemeinsamen Zwang zur Monogamie bedeuten könnte. Zugleich wird deutlich, wie gleichgültig junge Männer der Problematik von Geschlechtskrankheiten und Prostitution gegenüberstanden. Die Probleme des Alltagslebens waren für sie bedeutungsschwerer als die theoretische Gefahr der Infektion mit einer Krankheit. Reinhold Gerling, der als Naturheilkundiger mit seinen Patienten auf Augenhöhe agierte – ein deutlicher Unterschied zum zeitgenössischen Machtgefälle zwischen Arzt und Patient – hatte daher neben wohlfeilen Keuschheitsratschlägen auch ganz probate Fluchtwege parat, wenn er wenige Seiten nach der hygienischen Theorie die Verwendung eines Kondoms empfahl. Allen Autoren der Jahrhundertwende war die Doppelmoral der jungen Männer, welche für sich Freiheiten beanspruchten und von den künftigen Ehefrauen Keuschheit verlangten, ein Dorn im Auge. Aber keiner der Autoren konnte oder wollte sich zu jenen Konsequenzen durchringen, welche die Leserinnen insgeheim in ihren Tagebüchern schon beschrieben. In den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg schließlich ersetzten zunehmend eugenische Zukunftsfantasien konkrete Ratschläge für das Hier und Jetzt. Die Verkünder der hygienischen Volks- und Ehekultur hatten, so lässt sich erahnen, erkannt, wie sehr ihre früheren Schriften sich von der gesellschaftlichen Realität unterschieden. Doch noch immer pochten sie auf ihre Kompetenz in der Belehrung des Volkes.
Natürlich haben interessierte Leser*innen auch mit den Tücken einer gedruckten Dissertation zu kämpfen. Gebetsmühlenartig werden die verschiedenen Kampfplätze der Autoren – Männlichkeit, Ehe, Sexualität, Körper – kapitelweise abgearbeitet, was dazu führt, dass Einlassungen der Schriftsteller und ihre Werke sich stetig wiederholen. Die Nähe der einzelnen Akteure zu religiösen Gemeinschaften beziehungsweise ihre Distanzierung hiervon wird nicht genügend herausgearbeitet, der medizinische Kontext – beispielsweise im Zusammenhang mit den Geschlechtskrankheiten – fehlt weitgehend. Ein Register wäre schön gewesen.
Gleichwohl handelt es sich bei der vorliegenden Studie um ein verdienstvolles Werk, das zu weiteren Forschungen geradezu auffordert. Die Möglichkeit von Zeitzeugeninterviews ist vorbei, aber die verstärkte Nutzung von Ego-Dokumenten kann die historische Forschung sinnvoll ergänzen. Daniela Sandner gelingt es erfolgreich, Sozial- und Gesellschaftsgeschichte mit kulturanthropologischen Ansprüchen zu verbinden. Sie führt (ungewollt?) gerade den akademischen Leser*innen vor Augen, wie gering die eigene zeitgenössische Relevanz sein kann.