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Helge Gerndt
Sagen – Fakt, Fiktion oder Fake? Eine kurze Reise durch zweifelhafte Geschichten vom Mittelalter bis heute
Münster/New York 2020, Waxmann, 244 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-8309-4200-9
Rezensiert von Kathrin Pöge-Alder
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 23.08.2021
Das vorliegende Buch von Helge Gerndt folgt einem Reiseplan: Beispiele und theoretische Abhandlungen wechseln einander ab. Die selbstständigen Kapitel gründen auf frühen Arbeiten des Autors, auf Artikeln für die „Enzyklopädie des Märchens“ und Aufsätzen. Das hier aufgerollte Themen- und Theoriespektrum erscheint zu einer Zeit, zu der die Veränderungen im Vielnamen-Fach „Volkskunde“ von der Erzählforschung wegführen und letztere zunehmend außeruniversitär gepflegt wird. In seiner persönlichen Rückschau endet Helge Gerndt in dem Gedanken, dass die Erzählerinnen und Erzähler das Wesentliche weitertragen, wie es seine Tochter Cordula in ihrem Erzählerinnen-Leben tut. Sie studierte unter anderem Volkskunde und ist daher entsprechend historisch ausgebildet.
Helge Gerndt erhielt 2020 den Märchenpreis der Märchen-Stiftung Walter Kahn für seine Lebensleistung in der Erzählforschung. Ein erster Meilenstein dazu war seine Promotion, die 1966 in Kiel mit der Schrift „Fliegender Holländer und Klabautermann: Sagengestalten der See“ erfolgte. Die Figur des Kapitäns mit dem Fluch zum ewigen Segeln, von der zuerst im „Blackwood’s Edinburgh Magazine“ anonym 1821 zu lesen war, ist dann auch Thema des zweiten Kapitels von „Sagen – Fakt, Fiktion oder Fake?“. Ein früherer Beleg stammt vom englischen Admiral Jeffrey Baron de Raigersfeld, der 1787 als junger Matrose vom nimmer rastenden Schiff auf dem Indischen Ozean gehört hatte. Gerndt belegt die Folge aus „Glaubens- und Erzählüberlieferung“: Die Portugiesen umrundeten Afrika 1497 zuerst. Ihnen folgten die Holländer mit dem Ostindienhandel, um dann von den Engländern im 18. Jahrhundert abgelöst zu werden. Illusionistische Lichterlebnisse und die frühere Pracht holländischer Segler seien für dieses Sagenerzählen grundlegend gewesen, zumal „Dutch“ im Englischen „einen negativen Akzent“ habe (28). Für das 19. Jahrhundert deuten die Zeugnisse auf einen latenten Glauben an Geisterschiffe und erklären die Erscheinungen mit dem Fliegenden Holländer oder aber rationalisiert als sogenannte Kimmung, bis um 1880 Motorschiffe die Umrundung des Kaps der Guten Hoffnung zu einer maschinellen Aufgabe bar aller Romantik werden ließen. Aus dem 20. Jahrhundert bietet Gerndt eine Schwankfassung und rationalisierende Erinnerungserzählungen, die auch auf die Flying-P-Liner übertragen wurden. Sie belegen das Wissen um den Fliegenden Holländer, das als Geflecht von mündlicher und schriftlicher Überlieferung in einem Schaubild deutlich wird (30). Hier wären auch die fünf Filme der „Pirates of the Caribbean“ von Gore Verbinski aus den Jahren 2003 bis 2017 anzufügen, die Piratenromantik sowie Gold- und Glückssuche mit dem unsterblichen Schiff verbinden, das von schönen Frauen begleitet beziehungsweise erlöst wird.
Der historische Blick richtet sich auf „Die Entdeckung der Volkssagen um 1800“ (Kapitel 3) und stellt die „spezifischen soziokulturellen Bedingungen“ heraus, unter denen die Textsorte Sage „entdeckt oder – wenn man will – ‚erfunden‘“ wurde (33). In diesem Prozess waren die Brüder Grimm maßgeblich und dies gerade auch deshalb, weil ihre Vordenker und Vorarbeiter in der späteren Sagenforschung kaum kommuniziert werden. So etwa der „Vorschlag, die Deutschen Volkssagen zu sammeln“, von Karl Teuthold Heinze, 1806 in „Der Freimüthige. Berlinisches Unterhaltungsblatt für gebildete, unbefangene Leser“ erschienen (34). Zu Vorläufern gehören ebenso Otmar (das ist Johann Carl Christoph Nachtigal), Johann Gustav Büsching und Friedrich Gottschalck. Die jeweiligen theoretischen Erörterungen der Editoren zeigen, dass sich in den Sagen zuerst noch die Zwecke Unterhaltung, Menschen beobachten und Suche nach historischer Wahrheit finden würden, die Brüder Grimm hingegen sehen in ihnen – in dieser Reihenfolge – einen poetischen, geschichtlichen und sprachlichen Wert, doch den größten Wert hätten die Sagen, weil sie „uralte deutsche Volksdichtung“ seien (38). Es scheint, als ob sich die mangelnde Nähe der Grimms zur heute sogenannten Feldforschung auch in der geringeren Wertschätzung des inhaltlichen Ausdrucks ihrer Erzähler niederschlage. Die Versuche von Herkunftsbestimmungen beschreibt Gerndt als Weg vom stärker historisch Orientierten (Otmar) zum eher Psychologischen (Beckendorff), von „empirischen Gebilden“ zur Idee, von der Analyse zum Glauben (41): Woher Sagen kommen, rückt in mythische Unbestimmtheit (Grimm). Nach Gerndt sollte gerade die Sagenarbeit der Brüder Grimm zum Problem erhoben werden. Kulturwissenschaftliche Sagenforschung müsse sich „auf ihre wissenschaftsgeschichtlichen Anfänge rückbesinnen“, also auf die genannten Vorläufer Otmar (Nachtigal), Büsching, Gottschlack und Beckendorff (46).
Die „sogenannten Auerberg-Sagen“ (Kapitel 4) dekonstruiert Gerndt als Kompositionen, die den Vorstellungen der jeweiligen Sagen-Kompilatoren entsprungen seien. Sie setzen sich aus Überlieferungsschichten zusammen, die aus aufklärerischen Intentionen katholischer Geistlicher, dann 100 Jahre später aus der Befragung der „einfachen Bevölkerung“ eines Landrichters und danach aus dem romantischen Sageninteresse entstammen. „Der die Vergangenheit erhellende Quellenwert der […] von akademisch gebildeten Personen geformten Auerberg-Sagen tritt gegenüber dem ihrer Zeitzeugenschaft entschieden zurück.“ (64) Dieses Resultat wäre ein Anfang in der Beschäftigung mit diesen Erzählstoffen unter Einbeziehung bekannter schriftlicher und aus Gesprächen hervorgegangener Literatur.
Die folgenden Kapitel beschäftigen sich mit dem Sagenkomplex „Heinrich der Löwe“ (Kapitel 6); mit den wissenschaftlichen Arbeiten in Bayern, wobei die theoretische Diskussion weiter gediehen ist, als in Kapitel 5 deutlich wird; mit der Frage von „Mündlichkeit und Schriftlichkeit“ (Kapitel 7); mit der Bedeutung von „Sagen als Zeichen der Zeit“ (Kapitel 9) und mit ihrem „Sitz im Leben“ (Kapitel 11). Auseinandersetzungen mit den Darstellungen Ruth B. Bottigheimers (2014) oder Willem de Blécourts (2012), die konsequent auf schriftliche Tradierung rekurrieren, werden nicht geführt. Vielmehr arbeitet sich Gerndt weiter an dem romantischen Paradigma von der Entstehung der traditionellen Überlieferungen im „Volk“ und ihrer mündlichen Weitergabe als „Interpretationsmuster für die Wirklichkeit“ (107) unter Hinzunahme immer wieder interessanter Quellen ab, so von Zedler, Nachtigal, Büsching, Gottschalck und Grimm. Die Grimmschen Märchen- und Sagen-Sammlungen als Gesamtkonvolut zu betrachten, stellt eine ähnliche Auffassung von „Mündlichkeit“ heraus. In Anknüpfung an Wolfgang Brückner betont Gerndt, dass sie „neben der mythologischen Kontinuitätsprämisse auch in Bezug auf fleißiges Sammeln und Exzerpieren eine barockzeitliche Tradition aufnehmen und fortführen“ (119). Die Überlieferungen wurden als „ubiquitäre ‚Naturpoesie‘ exzerpiert, dann als Quellensammlung für die Rekonstruktion der deutschen Mythologie publiziert und schließlich […] als Mustersammlung für ‚deutsche Sagen‘ oder generell für ‚Volkssagen‘ rezipiert“ (120). So engte sich der Blick der Brüder auf nationale Erzählstoffe ein, verhängnisvoll in der Folge.
Die Tradierung der Erzählstoffe von Palästinafahrern, Abenteuern und exotischen Tieren am Beispiel der Sage „Heinrich der Löwe“ ist beispielhaft aufschlussreich, da Gerndt die vorgelegten Forschungen vor allem hinsichtlich des sogenannten romantischen Paradigmas dekonstruiert. Letztlich werden auch Zuschreibungen wie historische, ätiologische und Lokalsage angesichts der Belege fraglich. Die „Erzählgestalten blieben von der historischen Person losgelöst“ (104).
Zwei weitere Beispiele führen zur theoretischen Zusammenfassung im 13. Kapitel, einmal der Klabautermann (Kapitel 8), zu dem eine Übersicht subjektive und gesellschaftliche Wirklichkeit, Wahrnehmungen, Erklärungsmodelle, Meinungen, Erlebnis, Memorat und Fabulat anschaulich darstellt, zum anderen „Die fliegende Kuh“ (Kapitel 10) als Beispiel für eine medial verbreitete Sage vom April 1997, als eine „Urban Legend“ und deren Rezeption. Hier verweist Gerndt erneut auf seinen kulturwissenschaftlichen Forschungsblick auf „Erscheinungen des gewöhnlichen Alltags, der unser Leben zutiefst prägt“ (164). Eine „direkte Rückwirkung volkskundlich-kulturwissenschaftlicher Arbeit auf das alltägliche Leben“ registriert Gerndt vor allem bezüglich der Erweiterung des historischen Bewusstseins, das Sagenüberlieferung als ein historisches Erbe betrachtet, das lokale und regionale Identität fördert (177). Diesen Forschungsansatz setzt Gerndt in „Die Milzbrand-Attacke 9/11“ als Beispiel für moderne Sagen fort (Kapitel 12) und kommt zu dem Fazit, dass Sagen einerseits „Indikatoren für spezifische Fragen der Lebensführung und -bewältigung“ sind und in historischer Perspektive Bedeutungen aufdecken können (195). Andererseits sind Sagen heute aber vielmehr Symptome, die einen Zustand oder Prozess repräsentierten; exemplarisch würden in ihnen gesellschaftliche Probleme sichtbar.
Die Sage als „Kommunikationsereignis“ (204) versteht Gerndt denn auch als Textsorte, die Bericht ablegt: „ein relativ kurzer Erzählbericht über ein ungewöhnliches, oft unheimliches Ereignis (oder Erlebnis), das tatsächlich geschehen sein soll und im Kommunikationsprozess zwischen Wahrheitsanspruch und Zweifel oszilliert“ (206). Weitere Grafiken im Band verdeutlichen die Stellung von Sagen beziehungsweise sagenhaften Erzählungen zwischen Fakt und Fiktion, zwischen sakralem und profanem Erzählen und innerhalb der sogenannten Einfachen Formen. Darin stehen Memorate als Erinnerungserzählungen im Zentrum, während Fabulate fehlen, wohl da sie eine auf das Ausgedachte hin orientierte Erzählgattung sind.
Helge Gerndt hat ein neues Grundlagenwerk zur Sagenforschung vorgelegt, das auf seinem Lebenswerk fußt und mit neuen Materialien und Überlegungen erweitert ist.