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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Aktuelle Rezensionen


Patricia Jäggi

Im Rauschen der Schweizer Alpen. Eine auditive Ethnographie zu Klang und Kulturpolitik des internationalen Radios

(Musik und Klangkultur 46), Bielefeld 2020, transcript, 262 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-8376-5164-5


Rezensiert von Astrid Reimers
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 23.08.2021

In den historischen Wissenschaften erfolgt die Wissensvermehrung klassischerweise durch das Studium und die Analyse schriftlicher Quellen. Darüber hinaus wurden auch neue Ansätze erprobt, etwa das Reenactment, eine Inszenierung historischer Gegebenheiten zur Erlangung von Erfahrungswissen. Diese beiden methodischen Wege, verknüpft mit Hörexperimenten, verbindet die Autorin Patricia Jäggi, um den Schweizerischen Kurzwellendienst (KWD) – betrieben von 1935 an bis zu seiner Einstellung 2004, in vorliegender Arbeit fokussiert auf 1950 bis 1975 – im Zusammenhang mit der Vermittlung von „Swissness“ zu untersuchen. Der KWD sendete in verschiedenen Sprachen und diente damit sowohl der Verbindung zu Auslandsschweizern als auch der Information über beziehungsweise Werbung für die Schweiz im Ausland weltweit. Hervorgegangen ist Jäggis Untersuchung aus dem vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) geförderten Forschungsprojekt „Broadcasting Swissness“, in dessen Mittelpunkt die Konstruktion und Vermittlung von Schweizer Identität mittels Musik und Klängen im Radio steht. Bei vorliegender Veröffentlichung handelt es sich um eine überarbeitete Version ihrer an der Universität Basel entstandenen Dissertation, in der Jäggi der Frage nach der Rezeption der Kurzwellensendungen nachgeht.
Ihre historisch-ethnologische Forschung basiert auf einem hörenden Zugang. Die akustischen Quellen sind Digitalisate der im Archiv des KWD erhaltenen Tondokumente, vor allem Sendungen und O-Töne („Bruitage“), vornehmlich Archivalien des Englischen Dienstes. Daneben finden auch erhalten gebliebene schriftliche Korrespondenz in Form von Hörerpost, QSL-Postkarten (normierte technische Empfangsberichte der Hörer*innen) und Programmhefte sowie Oral History Interviews mit Zeitzeug*innen Berücksichtigung. Da den im Archiv erhaltenen Sendungen die durch die Übertragung verursachten Störgeräusche („Noise“) fehlen, findet die Autorin einen ergänzenden Zugang zu dem Thema über die experimentelle Verwendung historischer Kurzwellenempfangsgeräte. In einer ausführlichen Darlegung der Methodik im Kapitel „Hören als Methode“ baut Jäggi unter anderem die von Pierre Schaeffer und Michel Chion entwickelten Hörmodi aus, um Hörgewohnheiten zu reflektieren, der analytischen Durchdringung des Hörens eine Form zu geben und damit die verschiedenen Ebenen zu erfassen: die der Vermittlung von Inhalten und die ihrer medientechnischen Übermittlung. Die hörende Annäherung fand in drei Versuchsanordnungen statt: einem autoethnografischen Zugang, einem kollektiven Hören der ausgewählten Beispiele in einer Gruppe, die dann Fragebögen ausfüllte, und im Nachstellen des Hörens an Empfangsgeräten für Kurzwellen außerhalb des Archivs.
Die KWD-Sendungen wurden damals zwar nicht systematisch archiviert, sind also eher Spuren des damals Gesendeten, dennoch fallen heute in der groben Durchsicht die Alpen als thematische Präsenz auf. Anhand der vier exemplarisch ausgewählten Beispiele (eine Adaption von „Heidi“ in arabischer Sprache als Interview gestaltet, eine Reportage über alpine Sportarten und eine Live-Sendung von einer Matterhorn-Besteigung sowie ein von Jäggi erstelltes Demonstrationstape mit verschiedenen Kurzwellen-Klängen) zeigt die Autorin jedoch noch Weiter- und Tiefergehendes auf: die Unmittelbarkeit und emotionale Dimension des Hörerlebens aufgrund der journalistischen Machart, aber auch aufgrund der Eigenklanglichkeit, der Geräuschhaftigkeit des Mediums. Das durch die Übertragung entstehende Rauschen des Kurzwellensenders konnte einen Eindruck von Räumlichkeit und Distanz hervorrufen, dies aber nicht nur als trennende Erfahrung, sondern auch als Gefühl internationaler Verbundenheit und als ein kosmopolitisches Erlebnis. Somit diente der KWD nicht oder nicht nur der Verbreitung propagandistischer Inhalte und Schweizer Kulturvermittlung, sondern vermittelte aufgrund der Medienbeschaffenheit auch nicht semantische Informationen zur Schweiz und schuf Räume für emotionales Erleben. Eine Zusammenfassung dieser Ergebnisse der Untersuchung bildet das sechste Kapitel „Anderes Hören“. Fazit: Vorliegende Veröffentlichung ist ein interessanter Beitrag zur experimentellen Medienarchäologie und zu den Radio Studies als Teil der Sound Studies.