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Moritz Ege/Johannes Moser (Hg.)

Urban Ethics. Conflicts Over the Good and Proper Life in Cities

(Routledge Studies in Urbanism and the City), London 2021, Routledge, XV, 304 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-0-367-33842-8


Rezensiert von Susanna Azevedo und Ana Rogojanu
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 27.08.2021

Der vielseitige und umfassende Sammelband „Urban Ethics. Conflicts Over the Good and Proper Life in Cities“, herausgegeben von Moritz Ege und Johannes Moser in der Reihe „Routledge Studies in Urbanism and the City“, bietet ein breites Spektrum an Perspektiven interdisziplinärer Kultur- und Sozialforschung auf Aushandlungen des guten und angemessenen Lebens in der Stadt. Damit werden die Ergebnisse der an den Universitäten München, Göttingen und Regensburg angesiedelten interdisziplinären DFG-Forschergruppe „Urbane Ethiken“ einem internationalen Publikum zugänglich gemacht. Sieben empirische Fallstudien aus diesem Forschungskontext werden um neun weitere Beiträge internationaler Forscher*innen mit unterschiedlichen disziplinären Hintergründen ergänzt.
Gerahmt werden die vielfältigen Einzelbeiträge durch ein sehr informatives Einleitungskapitel, in dem die Herausgeber jenes Verständnis von Ethik in Zusammenhang mit Urbanität ausführen, das für das DFG-Forschungsprojekt grundlegend war. Sie distanzieren sich dabei von einem philosophischen Ethikbegriff normativer Prägung, aber auch von anwendungsorientierten wissenschaftlichen Bemühungen. Mit der Untersuchung von gesellschaftlichen und politischen Initiativen, Projekten und Debatten unter dem Label des Ethischen geht also nicht eine Einordnung dieser als „gut“ einher und die Beiträge des Bandes verfolgen auch nicht das Ziel herauszufinden, wie „gutes Leben“ in der Stadt aussehen kann. Vielmehr wird die Auseinandersetzung mit Fragen nach dem „richtigen“ oder „guten“ Leben in der Stadt, die sich in sogenannten „ethical projects“ (7) konkretisiert, als soziokulturelles Phänomen gefasst, das Institutionen, Diskurse, Praktiken und Materialitäten miteinschließt und als Assemblage konzeptualisiert werden kann. Die Prominenz des Ethischen als Thema wissenschaftlicher Forschung und als Leitlinie politischer und gesellschaftlicher Initiativen reflektieren die Herausgeber in ihrer zeitlichen, regionalen und sozialen Spezifik als vorrangig westeuropäisches gegenwärtiges Mittelschichtsphänomen. Zudem betrachten sie die Präsenz ethischer Projekte, Initiativen und Ansprüche als Teil einer spezifischen Logik der Gouvernementalität und fordern deren kritische Analyse ein.
Im Anschluss an die Einführung erweitern zwei Beiträge von Forscherinnen, die nicht unmittelbar in das Projekt eingebunden waren, die theoretischen Perspektiven. Henrietta L. Moore führt das Konzept der „ethical imagination“ (29) ein, um die Inbezugsetzung des Selbst zu seiner Umgebung zu fassen. Am Beispiel lokaler musikalischer Praktiken in afrikanischen Städten veranschaulicht sie, wie das Verhältnis zur urbanen Umwelt – konzipiert als Zusammenspiel von Materialitäten, Organisationsformen, Alltagspraktiken, Diskursen etc. – durch Imaginationen eine ethische Dimension erhält. Alexa Färbers Beitrag regt am Beispiel der normativ aufgeladenen Praktik von Kollaborationen zur kritischen Reflexion des Ethischen an, indem sie die Versprechen thematisiert, die mit dem Anspruch des gemeinsamen, guten Arbeitens in Städten einhergehen. Mit dem Konzept der „promissory assemblage“ (58) schlägt sie eine weitere Dimension für das Verständnis urbaner Ethiken vor.
Der zweite Abschnitt des Bandes nähert sich urbanen Ethiken anhand einer Reihe von Fallstudien, die in unterschiedlichen historischen Perioden und geografischen Räumen situiert sind. Die Beiträge von Martin Baumeister über Vorstellungen mediterraner Urbanität und Nora Lafi über sich wandelnde Normen des Zusammenlebens und Wirtschaftens in Städten der arabischen Welt arbeiten anhand von wissenschaftshistorischen Texten und historischen Dokumenten heraus, wie sich das Verhältnis zwischen Mittel- beziehungsweise Westeuropa und dem mediterranen respektive arabischen Raum in die Vorstellungen und Normen von Urbanität und Modernität einschreibt und zugleich über diese konstituiert wird. Diese vorwiegend diskursanalytischen Annäherungen an das Thema werden ergänzt durch zwei Aufsätze, die am Beispiel südosteuropäischer Städte nachzeichnen, wie (identitäts-)politische und ideologische Kontroversen sowie Vorstellungen der „guten“ Stadtbürgerin und des „guten“ Stadtbürgers über die Gestaltung und Nutzung baulicher Strukturen – konkret der Istanbuler Stadtmauer (Julia Strutz und Christoph K. Neumann) und des historischen Stadtzentrums von Bukarest (Daniel Habit) – im Lauf der jüngeren Geschichte ausgehandelt wurden und werden. Die umkämpfte Rolle der Architektur für das Verständnis von guter Stadt steht auch im Zentrum des anschließenden, umfassend kontextualisierten Interviews von Isabelle Doucet mit dem belgischen Architekten, Urbanisten und Aktivisten Maurice Culot, der – inspiriert durch die von Henri Lefebvre angefachte Debatte um das Recht auf Stadt – die Bewegung für die europäische postmoderne Stadt mitbegründet hat.
In den vier Fallstudien des dritten Abschnitts werden Konflikte um das „richtige“ Bauen und Wohnen in Städten untersucht. Gegenstand der Analyse sind zwei „ethische Projekte“ in Berlin (Max Ott) und München (Laura Gozzer), schichtübergreifende Protestbewegungen zur Wohnungsnot in Budapest und Bukarest (Ioana Florea, Agnes Gagyi und Kerstin Jacobsson) und die gesellschaftliche Aushandlung eines geplanten Architekturprojekts in Singapur (Michaela Busenkell). Gozzer und Busenkell reflektieren dabei Prozesse der ethischen Subjektbildung und Subjektwerdung, Busenkell und Ott setzen Ethik in Bezug zu räumlicher Gestaltung und Architektur, während Florea, Gagyi und Jacobsson den Bogen hin zu den sozialen Auswirkungen nationaler Politiken spannen.
Der nächste Abschnitt beschäftigt sich mit einer aktuell vieldiskutierten Kategorie des Ethischen, nämlich mit Vorstellungen und Praktiken von ökologischer Nachhaltigkeit, für die Städte aufgrund zunehmender weltweiter Urbanisierung und ihres Beitrags etwa zur Klimaerwärmung eine besondere Rolle spielen. Beide Fallstudien, die von Julie Sze zu Bauprojekten in Shanghai und New York sowie die Studie von Jeannine-Madeleine Fischer zum Umgang mit Müll in Auckland, stellen in überzeugender Weise die oft unhinterfragten Normen und Ansprüche umweltrelevanten Handelns mit ihren positiven Konnotationen zur Diskussion, indem sie darauf hinweisen, wie die untersuchten Projekte soziale Ungleichheiten und neoliberale Formen der Gouvernementalität befördern.
Die drei ethnografischen Studien des letzten Abschnitts untersuchen die spannungsgeladene Beziehung des Ethischen zum Politischen am Beispiel widersprüchlicher Dynamiken verschiedener Protestbewegungen. Olga Reznikova zeichnet in einer Langzeitstudie am Beispiel von Protesten gegen Bauvorhaben in Moskau nach, wie die ethische Aushandlung einer „guten Stadt“ zunehmend mit exklusivistischen Vorstellungen von Zugehörigkeit besetzt wird. Alexander Bikbov problematisiert in seinem Beitrag die Wirkung von staatlichen Partizipationsprozessen auf das Selbstverständnis der Moskauer Bürger*innen als „owner citizens“ und zeigt, wie die daraus resultierenden Ziele der Protestierenden tiefgreifende gesellschaftliche Transformationen untergraben. Anhand der „Gilets Jaunes“-Protestbewegung zeichnet schießlich Ida Susser Mehrdeutigkeiten ethischer Forderungen nach, betont dabei ihre Fragilität in Bezug auf politische Instrumentalisierbarkeit aber auch ihre transformative Potentialität für eine urbane Ethik jenseits des Mittelschichtphänomens.
Der Sammelband zeichnet sich durch eine beeindruckende Breite hinsichtlich der zeitlichen und lokalen Verortung der Beiträge aus, ebenso durch eine große Vielfalt an methodischen Zugängen, die zum Teil in den verschiedenen disziplinären Verortungen der Fallstudien begründet ist. Darüber hinaus wählen aber auch die einzelnen Beiträge oft Kombinationen von Methoden, um urbane Ethiken auf verschiedenen Ebenen zu erschließen. In vielen Beiträgen werden politische Debatten und rechtliche Reglementierungen, bauliche Strukturen, literarische Abhandlungen und Alltagsdiskurse, Alltagspraktiken sowie subjektive Selbstverständnisse und -deutungen – im Sinne der in der Einleitung ausgeführten Konzeptualisierung des Ethischen – zueinander in Beziehung gesetzt. Etwas mehr Aufmerksamkeit könnte man sich vielleicht mit Blick auf die Frage nach der Spezifik verschiedener Urbanitäten im Verhältnis zu Fragen von Normen und Idealen des Lebens in der Stadt wünschen, auch wenn diese durch die Zusammensetzung der Fallstudien durchaus implizit eine Rolle spielt.
Eine besondere Leistung des Bandes ist jedenfalls, dass er nicht nur Teil eines „ethical turn“ ist, sondern diesen auch kritisch und in produktiver Distanz zu den Bemühungen, „ethische Projekte“ umzusetzen, einordnet. Den Autor*innen gelingt es in überzeugender Weise quer durch alle Beiträge, das implizit oder explizit Ethische der jeweiligen Phänomene, Diskurse oder Bewegungen zeitlich und gesellschaftspolitisch zu verorten und dabei Brüche, Inkonsistenzen und Konflikte sichtbar zu machen. Dass diese Perspektive durchgehend eingehalten wird, ist umso bemerkenswerter, als nicht alle Beiträge aus dem unmittelbaren Umfeld des Forschungsschwerpunkts „Urbane Ethiken“ stammen und dementsprechend auch nur ein Teil der Autor*innen auf gemeinsame theoretische Vorüberlegungen zur Konzeptualisierung des Ethischen zurückgreifen kann. Aus Sicht der Europäischen Ethnologie bleibt festzuhalten, dass es mit der DFG-Forschergruppe und dem vorliegenden Band gelungen ist, das Fach in überaus produktiver Weise in einen interdisziplinären und internationalen Forschungskontext einzubinden und damit einen relevanten und weitreichenden Beitrag zu einer hochaktuellen kultur- und sozialwissenschaftlichen Debatte zu leisten.