Aktuelle Rezensionen
Museen Stade/Museum Lüneburg (Hg.)
Pilgerspuren. Wege in den Himmel. Von Lüneburg an das Ende der Welt. Begleitband zur Doppelausstellung „Pilgerspuren“: 1. „Von Lüneburg an das Ende der Welt“ im Museum Lüneburg vom 26.7.2020–1.11.2020 und 2. „Wege in den Himmel“ im Museum Schwedenspeicher Stade vom 3.10.2020–14.2.2021
Petersberg 2020, Michael Imhof, 528 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-7319-1004-6
Rezensiert von Wolfgang Brückner
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 27.08.2021
1984 veranstaltete das Bayerische Nationalmuseum München zusammen mit dem Adalbert-Stifter-Verein im Rahmen des 88. Deutschen Katholikentages die grandiose und wissenschaftlich bahnbrechende Ausstellung „Wallfahrt kennt keine Grenzen“ mit einem handlichen fast 500 Nummern umfassenden Katalog und einem mächtigen Themenband, in dem zwar mehrere Nationen zur Sprache kamen, doch in der Ausstellung natürlich Süddeutschland dominierte. Man darf die hier angezeigten Ausstellungen in den beiden norddeutschen Hansestädten Lüneburg und Stade als ein kompensierendes Pendant unseres Wissens ansehen. Sie stehen unter der Schirmherrschaft beider Konfessionen, nämlich ihrer Bischöfe aus Hildesheim und Hannover, und des Kultusministers von Niedersachsen, dazu als Sponsoren die Klosterkammer Hannover der Evangelischen Landeskirche, die Stiftung Niedersachsen und die Niedersächsische Sparkassenstiftung. Nur dadurch konnte der für seine fachlich wie technisch hochwertige Buchherstellung bekannte Verlag Michael Imhof ein Prachtwerk produzieren mit erlesenen Farbabbildungen für die vorreformatorische Kulturgeschichte in Mittel- und Nordeuropa.
Kulturhistoriker wussten schon immer, dass die Mobilität der Bevölkerung an den nördlichen Küsten gleich stark war wie im bergigen Süden, denn es gibt längst für Lübeck die systematische Auswertung von Testamenten, Akten, Nachlasspapieren und Chronikaufzeichnungen. Für die religiöse Reiselust hatte man sich schon im frühen 18. Jahrhundert vor Ort interessiert, und also beginnt die vorliegende Dokumentation mit einer übersichtlichen Aufstellung und illustrierten Auswertung. Das Werk endet mit dem Gesamtkatalog einer modernen archäologischen Kampagne im einstigen Hanse-Hafen von Stade zu Beginn unseres Jahrhunderts. Unter tausenden von Metallgegenständen fanden sich rund 200 Pilgerzeichen aus Blei-Zinn-Legierungen, alle sind abgebildet.
Dazwischen entfalten neun Großkapitel das breite Feld des Wissenswerten: 1. Quellen und Zeugnisse der Wallfahrtsforschung (Pilgerbriefe [= Ausweise], Testamente, Ablässe, Mirakelbücher, Rechnungen, Sühneverträge, Chroniken, Pilgerzeichen, Bildzeugnisse, Hospitäler) – 2. Reisen aus Norddeutschland nach Santiago de Compostela (fünf Unterkapitel) – 3. Reisen aus Norddeutschland nach Rom (neun Beispiele) – 4. Reisen aus Norddeutschland nach Jerusalem (mehrere konkrete Beispiele und Kultpraktiken) – 5. Die rheinische Wallfahrtslandschaft (Aachen, Maastricht, Köln) – 6. Die großen Wallfahrten im Nordosten Deutschlands (Wilsnack und Sternberg) – 7. Zeugnisse ehemaliger Wallfahrtskirchen in Norddeutschland (acht Orte) – 8. St. Hulpe – Ein vergessener Heiligenkult in Norddeutschland – 9. Reformation und Wallfahrt (als deren Ende) – 10. Katalog der Stadener Pilgerzeichenfunde.
Das von langer Hand gründlich vorbereitete Unternehmen besitzt einen Spiritus Rector, den Berliner Kirchenhistoriker und christlichen Archäologen Hartmut Kühne aus einem leider nicht mehr existierenden traditionsreichen Institut der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität. Er steht inzwischen unter der besonderen Fürsorge des Leipziger Landeshistorikers Enno Bünz (zwei wichtige Beiträge im Band), der in Dresden Mitdirektor des Instituts für Sächsische Geschichte und Volkskunde ist. Kühnes bisherige Werke sind meist im Bayerischen Jahrbuch für Volkskunde rezensiert worden: 2001 „Ostensio Reliquiarum“ (Heiltumsschauen), 2004, 2012, 2014 Publikationen unter anderem zu Pilgerzeichen. Er ist Mitherausgeber der inzwischen auf 12 Nummern angewachsenen Reihe „Europäische Wallfahrtsstudien“. Das vorliegende Projekt veranstaltete er zusammen mit der Kunsthistorikerin Nadine Mai und dem Historiker Martin Sladeczek; außerdem gab es ein erstes Symposion „Pilgerfahrten und Wallfahrtskirchen zwischen Weser und Elbe“ in Lüneburg, das auch der Gewinnung von Artikeln diente, deren Liste jetzt 67 Namen aus den verschiedensten Institutionen umfasst. Von Hartmut Kühne als Autor habe ich 21 selbständige Texte ausgemacht. Er hat zehn verschiedene ganzseitige Karten entwerfen lassen für die Ortsverteilung, die Wege durch Europa, die Verbreitung bestimmter Pilgerzeichen. Die Wiedergaben mittelalterlicher Kartenversuche vervollständigen die Kenntnisnahme der Kulte im Raum. Damit die Benutzenden auch selbst tätig werden können, sind viele Urkunden, Akten, Rechnungen und schriftliche Belege faksimiliert, zu deren genauer Betrachtung man in Ausstellungen nie richtig kommt. Ihre vorzügliche technische Wiedergabe muss hier nochmals eigens benannt werden. Es ist eine Lust, sie zu studieren.
Warum Wallfahrtsforschung kein privates Hobby, sondern gerade für Norddeutschland eine Notwendigkeit der Sozial- und Kulturgeschichte ist, begründet Kühne zu Beginn mit den seinerzeit von Karl Bosl in München geförderten statistischen Wallfahrts-Studien des Kanadiers Lionel Rothkrug über mentale Voraussetzungen für die Reformation in Mitteleuropa. Nach dem Stand damaliger Kenntnisse über Wallfahrten auch in Norddeutschland kam eine Landkarte zusammen, die für den Norden nicht etwa geografisch unbekannte Gegenden konstatierte, sondern ein interpretierbares Fehlen. Dieser falsche Ansatz war aber seinerzeit den beiden Herren nicht auszureden. Ich erinnere mich noch gut an eine gegenüberstellende Begutachtung in den Räumen der DFG in Bad Godesberg, die ich als geladener Fachmann miterlebte. Das war allerdings auch die Zeit, als die damalige Volkskunde außerhalb Bayerns den komplexen Forschungsgegenstand aus ideologischen Gründen zu tabuisieren begann. Heute endlich rücken in manchen Universitätswissenschaften Geschichte und Archäologie der Alltagskultur an den Museen wieder an die Front und zaubern aus ihren neuen Erkenntnissen und Beständen fulminante Ausstellungen und herrliche Publikationen wie die vorliegende.
Kühne vermag inzwischen Phasen und Räume der norddeutschen Wallfahrtsgeografie abzustecken aus dem 14. bis frühen 16. Jahrhundert. Sie reicht von den hochfürstlichen Reisen nach Jerusalem, wie von Herzog Heinrich dem Löwen gemeinsam mit tausend Bewaffneten, bis zu Lübecker Patriziern nach Rom und Santiago de Compostela. Letzteres Ziel hingegen wurde auch von einfacheren Leuten zu Hauf aufgesucht, zum Teil sogar zu Schiff. Doch die Meisten strömten nach Wilsnack und, regional beschränkt, zu immer neuen Kultorten, die auch eine frühneuzeitliche Territorialisierung spiegeln. Diesen dauernden Concursus populi beendete schließlich die Reformation.
Die Pilgerzeichen-Dokumentation der Stader Hafengrabungen stellt ein großes ergänzendes Kapitel zu den durch den Frankfurter Hilfswissenschaftler und Bibliothekar Kurt Köster aufbereiteten weltweiten Funden dar, deren Archiv sich jetzt im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg befindet. Für das mittelalterliche Flandern und seine Häfen hat 2006/2007 das Bruggemuseum-Gruuthuse durch Jos Koldeweij eine Wallfahrtsausstellung („Geloof & geluk“/ Foi & bonne fortune ‒ parure et dévotion en Flandre médiévale) anhand der Devotionalien veranstaltet, mit großartigem Katalog, darin hunderte von im Bild dokumentierten metallenen Pilgerzeichen, meist aus dem Wasser, übrigens eine Menge erotischer Darstellungen dabei. Gab es das bei uns nicht? Souvenirs durften schon immer auch leicht schlüpfrig sein.
Heute ist wandernde Pilgerschaft wieder in Mode, wenn auch mehr als Privatereignis im Performanz-Rahmen unserer Erlebnisgesellschaft, und zwar als Fußmarsch nach Santiago de Compostela am einstigen Ende der alten Welt. Überall werden Jakobuswege wiederentdeckt und für den Fremdenverkehr gepflegt. Unser Thema ist sozusagen „in“ und gehört zum gegenwärtigen Tourismus. Also werden die beiden Ausstellungen auf großes öffentliches Interesse stoßen, während das Thema der Universitätsforschung weiterhin und vielfach als irrelevant gilt. Ja klar, frei nach dem Münchner Komiker Karl Valentin: Historie ganz schön, macht aber viel Arbeit.