Logo der Bayerischen Akademie der Wissenschaften

Kommission für bayerische Landesgeschichte

Menu

Aktuelle Rezensionen


Holger Pyka

Vom Sittlichkeitskampf zur Büttenpredigt. Protestantische Karnevalsrezeption und Transformationen konfessioneller Mentalität

Stuttgart 2018, Kohlhammer, 384 Seiten mit Abbildungen und Tabellen, ISBN 978-3-17-034590-4


Rezensiert von Alois Döring
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 27.08.2021

Mit der hier anzuzeigenden Publikation liegt die für die Drucklegung geringfügig überarbeitete Dissertation von Holger Pyka an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal/Bethel vor. Der Autor, gebürtiger Kölner (*1982), ist Gemeindepfarrer der evangelischen Kirchengemeinde Uellendahl-Ostersbaum. Das Thema seiner Doktorarbeit über die Haltung der evangelischen Kirche zum Karneval passt zu seinem bunten Leben. Pyka hat sich beim Poetry Slam einen Namen gemacht und tingelte über die Bühnen, zudem gilt seine Liebe den Cartoons; 2015 erschien sein Buch „Schwarz macht schlank“ mit rund einhundert Zeichnungen, die das kirchliche Innenleben treffsicher aufs Korn nehmen. Pyka sieht sich selbst als Karnevalist, wobei er auch die psychologisch-therapeutische Funktion des Karnevals anspricht: „Ich bin Kölner. Da wächst man mit Karneval auf und wächst auch in das Feiern rein. […] Im Karneval kann man Seiten leben, die sonst im Alltag nicht so zu Tage treten. Karneval hat eine Ventilfunktion. Da kann man Dinge machen, die man sich sonst nicht traut.“ [1]
Der damalige Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland, Nikolaus Schneider, erklärte anlässlich des Kölner Rosenmontagszugs 2012: Im Karneval kommen auch ein paar Sachen zum Ausdruck, „die auch für die Kirche wichtig sind […] Da haben wir uns bewegt […] und ein bisschen befreit.“ (14) Dieser „Bewegung und Befreiung“ der evangelischen Kirche in ihrer Haltung zum Karneval seit Mitte des 20. Jahrhunderts bis zur Gegenwart – nach Kritik, Ablehnung und Bekämpfung von reformatorischer Zeit an bis zum 20. Jahrhundert – gilt die vorliegende, konfessioneller Mentalitätsgeschichte verpflichtete Untersuchung. Der Interessenschwerpunkt liegt dabei „auf der protestantischen Karnevalsrezeption seit der romantischen Reform des Kölner Karnevals“ (21). Vorab stellt der Autor die historische Genese des fastnächtlichen Brauchkomplexes dar sowie seine Umformung durch die Kölner Karnevalsreform mit den damit verbundenen charakteristischen Gestaltungselementen (Kapitel 2: Rheinischer Karneval – Geschichte, Phänomenologie, Funktionen).
Im dritten Kapitel folgt die Analyse der protestantischen Karnevalsrezeption vom 16. bis zum 19. Jahrhundert. Im Ganzen kann Pyka dafür drei Stufen ausmachen: Die erste Phase zeichne sich durch spontane, weitgehend unreflektierte Reaktionen auf die Fastnachtsbräuche aus. Als Vertreter dieser Phase könne Martin Luther gelten, dessen Einstellung zur Fastnacht differenzierter zu beurteilen sei, als dies bislang der Fall war. „Dass kritische Äußerungen zu konkreten Eskalationen in das kollektive Gedächtnis des Protestantismus Eingang fanden, scheint unter anderem an der intentionsgeleiteten Darstellung seines ersten Biografen Johann Mathesius gelegen zu haben.“ Mathesius habe „wirkmächtiges Wissen über einen vermeintlich fastnachtsfeindlichen Luther zu produzieren“ gewusst (346). Während sich erst in einer dritten Phase dezidierte theologische Begründungen der Ablehnung der Fastnacht finden lassen, gibt es eine zweite Phase, die geprägt ist durch grundlegende Verbote der Fastnacht in Kirchenordnungen des 16. und frühen 17. Jahrhunderts, „bei denen jedoch vor allem sozialdisziplinatorische Intentionen bestimmend waren und die die Fastnacht neben einer ganzen Reihe anderer Volksbräuche nennen“ (145).
Die Verfasser der evangelischen Kirchenordnungen benennen die Fastnacht in einer Reihe von frühneuzeitlichen Bräuchen ‒ sei es explizit, sei es implizit durch eine Nachbarschaft entsprechender Gebote ‒, „denen gemeinsam ist, dass sie mit vielfältigen Verstößen gegen die öffentliche Ordnung assoziiert werden“ (126).
Im Folgenden behandelt Pyka „mit der Fastnacht assoziierte Brauchelemente“ wie „apotropäische Bräuche wie das ‚Wetterläuten‘ und ‚Räderschieben‘ sowie die damit in Verbindung stehenden ‚Hagelfeiertage‘ […] oder verschiedenste Feuerbräuche“ sowie „stärker mit Verstößen gegen die öffentliche Ordnung assoziierte Bräuche“ wie „Spinn- oder Kunkelstuben, Lehensbräuche“ (121 f.); auch der Dreikönigstag bot „fastnächtliche Anknüpfungspunkte“ (Heischegänge), denn die Wahl eines Bohnen- oder Hauskönigs konnte „Dreikönigs- oder Fastnachtsbrauch sein“ (59). Wetterläuten, Spinnstuben oder Hagelfeiertage stehen nicht mit der Fastnacht in Verbindung. Heischegänge gehör(t)en zum gängigen Repertoire von termingebundenen jahreszeitlichen Festen, die Deutung des Bohnenkönigsfestes („nicht in den Rahmen der Fastnachtsbräuche gehörend“ [2] oder zu den „mittelalterlichen Narrenfesten“ gehörend) ist umstritten. [3]
Wenn Pyka schreibt, Angehörige sozial höher gestellter Kreise der städtischen Gesellschaft „begingen die Fastnacht strikt milieuintern als ‚Familienfest mit Gästen‘, zu denen auch Angehörige des Klerus und des Klosterwesens gehören konnten“ (34), so gilt dies für den Lehensbrauch, der für Köln im 16. Jahrhundert als fastnächtlicher Familienbrauch überliefert ist, im außerstädtisch-ländlichen Bereich eine Umformung mit der Integration in den öffentlichen Maibrauch der Junggesellen erfuhr. [4]
Mit der mehrfach wiederholten Feststellung, dass kirchenamtliche Verbote „die Fastnacht in aller Regel summarisch mit anderen Volksbräuchen nennen“, folgt Pyka den Arbeiten zur Fastnachtsforschung beispielsweise von Konrad Köstlin (viele der „als Elemente der Fastnacht interpretierten Bräuche [waren] durchaus verfügbar“, 34) und Peter Pfrunder (die Fastnacht solle „nicht isoliert von der allgemeinen Festkultur betrachtet werden“, 34, Anm. 86). [5]  
Das im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts einsetzende Vorgehen der evangelischen Kirche gegen den rheinischen Karneval thematisiert das vierte Kapitel („Der Kampf gegen den Karneval im 19. und 20. Jahrhundert“). Als 1823 die Kölner Karnevalsreform vollzogen wurde, blickte der Protestantismus auf mehr als zwei Jahrhunderte kompromissloser Ablehnung der Fastnacht zurück. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts, führt Pyka aus, habe sich der „Kampf gegen den Karneval“ verstärkt, wobei die Sittlichkeitsbewegung „die Mentalität der protestantischen Milieuelite in den folgenden Jahrzehnten entscheidend prägte: In Predigten, Romanen, Behördeneingaben und Zeitungseinsendungen nahmen Pfarrer und Presbyter den Kampf gegen den Karneval auf, auf Sittlichkeitskongressen wurde er als Kristallisationspunkt all jener Probleme gesehen, deren Beseitigung sich die Bewegung verschrieben hatte.“ (347) Das macht der Autor vor allem fest an antikarnevalistischen Schriften von Hermann Petersen „Wider den Carneval“ (1887), Samuel Keller (Pseudonym Ernst Schrill) „Momentbilder vom Carneval“ (1898) oder Karl Wendland „Kölner Karneval in seinem alten, gegenwärtigen und gewünschten Gesicht“ (1932), ebenso an antikarnevalistischen Initiativen beispielsweise des Evangelischen Konsistoriums der Rheinprovinz „Aufruf gegen die Beteiligung am Karneval“ (1925). Auffällig dabei ist, wie Pyka darlegt, „das fast gänzliche Fehlen explizit theologischer Motive“, vielmehr ergab sich die Ablehnung aus der „kulturkritisch-konservativen Mentalität der Milieuelite“, die Wahrnehmung des Karnevals war bestimmt von der „Frage nach dem Verhältnis von Kirche und Welt“ (246 f.).
Das fünfte Kapitel zeichnet die „Öffnung zum Karneval: Reevaluierung und Entwicklung einer evangelischen Brauchpraxis im 20. und 21. Jahrhundert“ nach. Der Karneval erfuhr in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts im Rheinland „eine klare Umwertung seitens der evangelischen Kirche“ (13). Pyka zeigt, dass diese positive Reevaluation des Karnevals „auf einer publizistischen Ebene Mitte der 1950er Jahre einsetzte und in der Entwicklung einer evangelischen Brauchpraxis ab Ende der 1970er Jahre mündete“ (349). Diese sei maßgeblich beeinflusst gewesen von Verschiebungen, die „zentrale Mentalitätsthemen“ betrafen: „Veränderte Sozialisationsfaktoren der nachdrängenden Pfarrergenerationen und die Einsicht über die geringe Wirkung kirchenamtlicher Verbote im Speziellen und einer schwindenden gesellschaftlichen Bedeutung der Kirche im Allgemeinen führten zu einer Reformulierung des Verhältnisses von Kirche und Welt: Aus der Instruktionsinstitution Kirche wurde die Interpretations- und Kommunikationsinstitution, die auf allen Ebenen kirchlichen Handelns eine Öffnung hin zu populären Kulturphänomenen und neuen Lebens- und Aktionsformen unternahm.“ (349) An neuen protestantischen karnevalistischen Aktionsformen beschreibt Pyka beispielsweise Karnevalsfeiern in kirchlichen Einrichtungen, Karnevalsgottesdienste, die Kölner PROT’s-Sitzung (die sich als Pendant zur alternativen Stunksitzung etablierte) und die Büttenpredigten. Die Karnevals-, Narren- oder Büttenpredigt stellt eine spezifische Form der Kanzelrede dar, die „in Inhalt und Form in unterschiedlichem Maße von karnevalistischen Brauchelementen und Erwartungshaltungen geprägt sein kann“ (282 f.). Primärer inhaltlicher und gestalterischer Bezugspunkt ist dabei der Sitzungskarneval.
Am Ende eines langen Weges durch Transformationsprozesse des fastnächtlichen Brauchkomplexes und seiner protestantischen Rezeption zieht Pyka das Fazit: „Bei der Auswertung der Quellen hat sich gezeigt, dass die üblicherweise unterstellten theologischen Argumente, die konfessionspolemische Ablehnung des Karnevals als katholischer Brauch, der Wegfall des Sitzes im Leben der Fastnacht durch die Abschaffung vorreformatorischer Fastenpraxis und die Rückführung auf vermeintlich paganes Erbe, kaum eine Rolle spielten.“ (350) Die fast durchgängig nur sekundäre Bedeutung theologischer Denkmuster für die Rezeption des Karnevals relativiert in der Fastnachtsforschung vorherrschende Deutungen. Anhand exemplarischer Quellen ablehnender katholischer, vornehmlich jesuitischer Provenienz sieht Pyka „die katholische Haltung zur Fastnacht als noch vielschichtiger und ambivalenter […] als die des Protestantismus“ – weiterführende Forschung bleibe „hier ein Desiderat“ (144).
Mit seiner umfangreichen Dissertation über die Karnevalsrezeption im Protestantismus (leider fehlen in der Bibliografie die in Anmerkungen zitierten Texte von Klauser, Moeller und Habel; dort ohne Vornamen) hat Holger Pyka eine erstmalige, in protestantisch-konfessioneller Mentalitätsgeschichte verortete Untersuchung vorgelegt. Sie bietet Anknüpfungspunkte zu weiterführenden Studien theologischer und volkskundlich-kulturanthropologischer Fastnachtsforschung.

Anmerkungen

[1] Zitiert nach einem Interview von Karin Ilgenfritz mit Holger Pyka: Das Gute behaltet. In: Unsere Kirche. Evangelische Wochenzeitung Nr. 8 (2020), auch unserekirche.de/artikel/2020/08/das-gute-behaltet/ [20.3.2021].

[2] Wolfgang Herborn: Die Geschichte der Kölner Fastnacht von den Anfängen bis 1600 (Publikationen des Kölnischen Stadtmuseums, Bd. 10). Hildesheim u. a. 2009, S. 101.

[3] Dietz-Rüdiger Moser: Bräuche und Feste im christlichen Jahreslauf. Brauchformen der Gegenwart in kulturgeschichtlichen Zusammenhängen. Graz u. a. 1993, S. 135 ff.

[4] Siehe neuerdings Alois Döring: Varianten von Maibräuchen im Rheinland. Gegenwart, Geschichte, Vereinsleben. In: Simon Matzerath (Hg.): Maibräuche im Rheinland. Begleitband anlässlich des 175-jährigen Jubiläums des Junggesellenvereins Körrenzig 1843 e. V. Aachen 2018, S. 7–42.

[5] Konrad Köstlin: Fastnacht und Volkskunde. Bemerkungen zum Verhältnis eines Fachs zu seinem Gegenstand. In: Rheinischer Karneval. Rheinisches Jahrbuch für Volkskunde 23 (1978), S. 7–22, hier: S. 16; Peter Pfrunder: Pfaffen, Ketzer, Totenfresser. Fastnachtskultur der Reformationszeit. Die Berner Spiele von Nikolaus Manuel. Zürich 1989, S. 69.