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Michael Farrenkopf/Torsten Meyer (Hg.)

Authentizität und industriekulturelles Erbe. Zugänge und Beispiele

(Veröffentlichungen aus dem Deutschen Bergbau-Museum Bochum 238; Schriften des Montanhistorischen Dokumentationszentrums 39), Berlin/Boston 2020, De Gruyter, 396 Seiten mit Abbildungen, teils farbig, ISBN 978-3-11-068300-4


Rezensiert von Claudia Ba
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 27.08.2021

Der Sammelband „Authentizität und industriekulturelles Erbe. Zugänge und Beispiele“ stellt eine anspruchsvolle Auseinandersetzung mit dem Begriff Authentizität in den Geschichts- und Kulturwissenschaften dar sowie auch in den museums- und denkmalpflegerischen Arbeitsfeldern bei der Bestimmung von und dem Umgang mit industriekulturellem Erbe im globalen Norden. Hervorgegangen aus der gleichnamigen Tagung an der TU Bergakademie Freiberg (27.–29.4.2017), ist die Ausrichtung des Bandes am Forschungsbereich Bergbaugeschichte und dem am Deutschen Bergbau-Museum Bochum angesiedelten Forschungsprojekt „Vom Boom zur Krise – der deutsche Steinkohlebergbau nach 1945“ orientiert.
Der Sammelband ist in zwei große Bereiche – „Methoden und Perspektiven“ sowie „Aspekte und Ausprägungen“ – mit insgesamt 17 Beiträgen gegliedert. Einleitend führen die Herausgeber Torsten Meyer und Michael Farrenkopf in die Konzeption des Bandes und die zentralen Begrifflichkeiten ein. Authentizität ist, so Meyer und Farrenkopf, ein „Containerbegriff der Moderne“ (13), der in den vergangenen Dekaden breit diskutiert wurde. 1980 erlangte mit der Einschreibung der norwegischen Bergbaustadt Röros erstmals eine industriekulturelle Hinterlassenschaft den Rang des UNESCO-Weltkulturerbes. Die Beiträge orientieren sich folglich an den Inwertsetzungsprozessen von Authentizität gemäß der Operational Guidelines der UNESCO einerseits und deren kritischer Reflexion in den Critical Heritage Studies andererseits. Die Leitfragen fokussieren auf die diskursiven Praktiken der „regimes of meaning“ (3), die raumkonstitutiven Ordnungen – Räume, Grenzen und Grenzräume des Authentischen – und auf die Authentizität von (Bau)Denkmalen von Industrielandschaften.
Den ersten Teil des Bandes „Methoden und Perspektiven“ eröffnet Torsten Meyer über die Grenzen des Authentischen. Der Autor führt durch den Begriffspluralismus und skizziert die Unterscheidungen zwischen Authentisierung und Authentifizierung. Er geht auf die Kritik am Eurozentrismus der „Authentifizierungsinstitution UNESCO“ (17) ein, auf die mit dem Nara Document on Authenticity (ICOMOS) reagiert wurde, welches Authentizität als kulturelles und wandelbares Phänomen anerkennt. Für Meyer verlaufen daher Analysekategorien der Authentizität entlang räumlicher Dimensionen und Raumdynamiken, den Diskrepanzen zwischen lokalem Erinnern und globalem Bewahren, sowie entlang der Frage nach den Grenzen der digitalen Inszenierung im Spiegel von Rekonstruktionsdebatten. Im anschließenden Beitrag identifiziert Heike Oevermann anhand von fünf Industriekomplexen deren städtebauliche Identität, Authentizität und Konversion. Städtebauliche Identität kann dabei „als die Identität eines Ortes, erzeugt durch den Städtebau, verstanden werden“ (32). Die Autorin liest Garn-, Samt- und Baumwollspinnereien in ihrem städtischen Zusammenhang. Unter der Voraussetzung, dass der soziokulturelle Handlungsraum, die Nutzung und die technischen Eigenschaften der Industriekomplexe ständig ausgehandelt werden, entwirft Oevermann eine Typologie. Als Ausblick stellt sie folgende Dimensionierungen der Identität von Industriekomplexen vor: „Authentizität heißt hier Identität (Eindeutigkeit), Variabilität (Variation) und Alterität (Verfremdung)“ des Baukörpers in seinem städtebaulichen Bezug (52).
Mit seinem Beitrag über die Geschichte der Authentisierung von Altstädten und industriekulturellem Erbe durch Farbauftragungen exemplifiziert Andreas Putz diese Praxis als „Teil der Aneignung und Bewahrung historischer Bausubstanz“ (57). Dabei befasst er sich sowohl mit den sich wandelnden Normierungen von Farbigkeit ehemaliger Arbeitersiedlungen als auch dem Authentisch-Werden durch die Handschrift des Denkmalpflegers. Eine weniger kuratierte Form der Aneignung des Erbes beschreibt Uta Bretschneider in ihrem Aufsatz über die „Lost Places“-Fotografie zwischen Authentizität und Inszenierung. Mittels des relationalen Raumbegriffs nach Martina Löw analysiert sie, dass Authentizität erst durch die körperliche und räumliche Praxis des Fotografierens geschaffen werde. Dabei changieren die Fotograf_innen immer auch zwischen Authentizitätserwartungen und Inszenierungszwängen, die durch diese spezifische Raumpraxis zu einem visuellen Raumkonsum führt. Weiterführend ist der Beitrag von Jana Golombek zur Urban Exploration Bewegung und dem Rust Belt Chic (RBC) als jüngeres Phänomen der Aneignung von Industriekultur zu lesen. Der RBC zielt auf die Wiederbelebung ehemaliger Industriestädte durch deren authentische Inszenierung und Touristifizierung ab. Dies gelingt durch die Veröffentlichung bildreicher Anthologien sowie auch der Urban Exploration Bewegung, die die Autorin als Heritage Praktiken einstuft. Anna Storm schließt den ersten Teil mit „A landscape of home and a landscape of viewing“ und der Unterscheidung zwischen Verbeheimatung in und Touristifizierung von industriekulturellen Landschaften.
Der zweite Teil des Bandes legt zahlreiche Beispiele von Industriekulturlandschaften und deren Aushandlungen durch Heimatvereine, Museen und Denkmalpflege dar. Carla-Marinka Schorr zeigt im LWL-Industriemuseum Henrichshütte Hattingen, dass die Mediatisierungs- und Transformationsprozesse von Zeitzeugen selbst in Aushandlung stehen. Der Bedeutungsgewinn der Oral History und von Zeitzeugenschaft für den Ruhrbergbau wird im Beitrag von Katarzyna Nogueira in der kulturwissenschaftlichen Tradition Lutz Niethammers betont. Verschiedene Geschichtswettbewerbe von der „Industriegeschichte“ zur „Heimat Ruhrgebiet“ dynamisieren regionale Authentizitätsdiskurse, wie Susanne Abeck und Uta C. Schmidt am IBA-Emscherpark darstellen. Helen Wagner untersucht wiederum die Konstruktion des IBA Emscherparks als „einer Kulturlandschaft neuen Typs“ (219) durch dessen Umwidmung und Einbezug in die Route der Industriekultur.
Über das noch auszuhandelnde Erbe der Industriekultur der Habsburger Monarchie stellt Gerhard A. Stadler Fragen zu Konservierung, Dekontamination und künftigen Touristifizierung. Er sieht in den Hinterlassenschaften die Möglichkeit gegeben, dass „wir die Chance [haben] die Denkmale weiterhin als Teil unserer Identität zu verankern“ (267). Dieses Erbe ist auch vom Mangel an Investitionen betroffen. Sönke Friedreich zeigt die Unmöglichkeit des Erhalts der vogtländischen Textilindustrie. Was kann erhalten werden, wenn es keine Repräsentationen oder räumlich kohärenten Industrien zum Vererben gibt? Die Grenzen des Zeigbaren enden hier in der Umwidmung oder dem (Teil)Abriss der Textilindustrien. Kathrin Kruner zeichnet den Authentizitätsbegriff der Deutschen Demokratischen Republik nach. In der Ausführung durch Kulturbund und die Technische Denkmalpflege kam es hier „zu einer Identifizierung mit der marxistischen Geschichtsauffassung“ (307) und einer Aufwertung der Industriekultur für die Bevölkerung.
Mit der Frage nach der Translotion ganzer Gebäudeteile, wie hier am Beispiel des rheinisch-westfälischen Steinkohlereviers, wendet sich der Band wieder der denkmalpflegerischen Praxis in der BRD zu. Anhand verschiedener Eingriffe an Zechen und Kokereien zeigt Eva-Elisabeth Schulte, wie dynamisch die relationalen Dimensionen „Material, Form, Bedeutung und Funktion“ (333) gedeutet werden müssen. Bei räumlich wenig kohärenten Industrielandschaften macht Gerhard Lenz die denkmalpflegerischen Grenzerfahrungen deutlich, wenn es darum geht, authentische Orte der Industriekultur zu inszenieren. Der Autor bezeichnet daher die Kulturlandschaft des Weltkulturerbes im Harz als „Benutzeroberfläche“ (350) durch verschiedene Formen des Vernetzens und der Musealisierung. Die Klammer des Buches ist der letzte Beitrag von Friederike Hansell über die Montanregion Erzgebirge/Krušnohoří als UNESCO-Welterbe. Hier führt die Autorin durch die Operational Guidelines der UNESCO, den außergewöhnlichen universellen Wert sowie die Bedingungskriterien der Authentizität, die dieser Region zur Aufnahme in die repräsentative Liste verhalf.
Es ist ein kohärentes Werk über die verschiedenen Triangulationen von Authentizitäts-, Identitäts- und Erbekonstruktionen sowie ihren materiellen und immateriellen Dimensionen gelungen. Denn so häufig diesen drei Konstruktionen immer wieder quasi-stabile Eigenschaften zugesprochen werden, so zeigen die Autor_innen den Handlungsbedarf bei deren Analyse. Gerade das kritische Denken der Praktiker_innen und Denkmalpfleger_innen über ihr Handeln im Umgang mit dem industriekulturellen Erbe weist auf einen Paradigmenwechsel hin. Der Band zeigt auch eindrucksvoll, dass die Bedeutung von Authentizität nur als partikulares Phänomen analysiert werden kann. Auch die detailreichen empirischen Beispiele und Visualisierungen in den einzelnen Beiträgen sind ein großer Verdienst. Vermissen lässt der Band jedoch Ansätze über die politischen und ökologischen Einordnungen der beschriebenen Beispiele in globaler Dimension. Welche Phänomene, die den Strukturwandel auch mit bedingt haben, machen die Erinnerungsarbeit und Diskussionen über Authentizität des westlichen Industrieerbes erst möglich? Welche globalen Vernetzungen ließen sich hier aufweisen? Da sich die Herausgeber der Herausforderung stellen, Industrielandschaften als raumgebundene Phänomene zu begreifen, hätte es darüber hinaus weiterer raumtheoretischer Überlegungen bedurft. Die Autor_innen zeigen eindrücklich, dass das industriekulturelle Erbe und der Umgang damit auch noch künftige Generationen beschäftigen und sich die Frage nach dessen Vermittlung und Analyse weiter aufdrängen wird.