Aktuelle Rezensionen
Hannah Rotthaus
Aushandlungen von Schwangerschaftsverhütung im Kontext digitaler Selbstbeobachtung
(Hamburger Journal für Kulturanthropologie 2020/11), Hamburg 2020, Empirische Kulturwissenschaft/Universität Hamburg, 93 Seiten mit 5 Abbildungen, eISSN 2365-1016
Rezensiert von Debora Frommeld
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 27.08.2021
Im Jahr 2016 veröffentlichte Deborah Lupton ihre Monografie zu „The Quantified Self“, in Deutschland griffen im selben Jahr Stefanie Duttweiler et al. und Stefan Selke dieses Thema auf. [1] Daraufhin setzten intensive sozial- und kulturwissenschaftliche Erkundungen der digitalen Selbstbeobachtung ein. Mit dem „Body Turn“ in den 1990er Jahren rückten das Subjekt, der Körper und –damit verbunden – ein Körperwissen enger zusammen. Bereits mit den Arbeiten von Mike Featherstone, Chris Shilling und Bryan S. Turner kündigte sich diese Hinwendung an. [2] Schon zuvor sind es die Überlegungen von Michel Foucault, mit denen Praktiken der Subjekte und Fragen der (Bio-)Macht in den Fokus rückten, sowie jene von Donna Haraway, die eine sogenannte Cyborgisierung der Gesellschaft im Verhältnis zwischen Wissenschaft, (neuen) Technologien und Geschlecht betrachteten.
In diesen Bezugsrahmen fällt die Masterarbeit von Hannah Rotthaus, die an der Universität Bonn eingereicht wurde und 2020 im Hamburger Journal für Kulturanthropologie erschienen ist. Sie beschäftigt sich mit den Aushandlungen von Schwangerschaft im Kontext digitaler Selbstbeobachtung und fragt danach, „wie das Verhüten […] unter Verwendung von Zyklus-Apps alltagskulturell ausgehandelt wird“ (5). Dazu wird ein ethnografischer Zugang gewählt. Die Arbeit stützt sich auf neun qualitative Leitfadeninterviews mit Frauen im jungen und mittleren Erwachsenenalter, die unter anderem entlang von Diskursen in einschlägigen Internetforen analysiert werden. Rotthaus geht entsprechend der Vorgehensweise der digitalen Ethnografie vor und orientiert sich hier etwa an Gertraud Koch. Ziel der Arbeit ist es, die Aneignung von Wissen zu alternativen Verhütungsmethoden, Selbstexpertisierung und das Teilen von Wissen in der Gemeinschaft der Nutzer*innen im Netz zu untersuchen.
Zentraler Bezugspunkt der Studie ist die symptothermale Methode. Diese Art der Verhütung wird in Kombination mit Zyklus-Apps eingesetzt und dabei wird täglich die Körpertemperatur gemessen, um fruchtbare von unfruchtbaren Tagen zu unterscheiden. Die Methode wird von Rotthaus als moderner Gegenentwurf emanzipierter Frauen zur üblichen Verhütung mit der Antibabypille verstanden. Die befragten Frauen berichten zwar von einem Initationsritus im Jugendalter, durch den Mädchen mit der Einnahme der Pille zur Gruppe der erwachsenen Frauen dazugehörten. Mit zunehmendem Alter werde diese Praktik jedoch auf ihre Sinnhaftigkeit und Nebenwirkungen hinterfragt, auch weil die Automatisierung und Fremdsteuerung des Körpers durch die Pille als nicht-natürlicher Vorgang im Körper wahrgenommen werde. So wird das Absetzen der Pille intersubjektiv als „Schlüsselerlebnis“ (27) und Befreiungsakt erlebt, was eng mit der eigenen Identität verknüpft ist. Die Abkehr von der Pille, die seit einigen Jahrzehnten nicht nur zur Verhütung, sondern auch zur Optimierung des äußeren Erscheinungsbildes eingesetzt wird, etwa bei unreiner Haut, werde von Frauen nach der Aneignung von spezifischem, teils medizinischem und medizinkritischem Wissen bewusst vollzogen und schaffe ein neues Körpergefühl. Rotthaus folgert entsprechend: „Durch die Beschäftigung mit dem Zyklus […] und fast spielerischem Zeitvertreib (zwischendurch durch die App scrollen und bspw. verschiedene Statistiken über den eigenen Zyklus ansehen) […] entwickelten die Interviewten einen neuen, selbstermächtigenden Zugang zu ihrem Körper.“ (35) Das Geschlecht und die Wahl der Verhütungsmethode werden sozusagen zum Unterscheidungsmerkmal vom Rest der Gesellschaft, wodurch ein „Gemeinschaftsgefühl“ (42) entstünde, das die Autorin als „Digitale Wissensgemeinschaften“ umschreibt (39).
Das Teilen von Spezialwissen zu Verhütung, Gesundheit und Nebenwirkungen der Pille in einschlägigen Internetforen konstituiert eine Absicherung. Dadurch entwickeln sich gewisse Abläufe und Logiken, an denen sich die Nutzer*innen orientieren und die ihren Alltag strukturieren. Zusätzlich etabliert sich eine fachsprachliche Dimension, mit der über den Körper gesprochen wird. Gleichzeitig wird über diese (nicht-)diskursiven Praktiken eine Abgrenzung zu anderen Verhütungspraktiken vollzogen.
Dadurch ändert sich der Blick der Frauen auf den eigenen Körper, so die schlüssige Folgerung der Autorin: Das Sprechen über den Körper gleicht anderen digitalen Gemeinschaften wie der Quantified Self-Bewegung, die Körper-Daten mit Medientechnologien erfassen, auswerten und auf diese Weise eine kontinuierliche Leistungsverbesserung anstreben: „Hierbei verwenden sie oftmals eine Sprache, die den Körper in gewisser Weise abstrahiert, quantifiziert sowie technisiert und die der Sprache der Apps ähnelt.“ (48) Der Vergleich mit eigenen Daten oder der Gemeinschaft schafft eine Rückversicherung, wenn die Werte im Normalbereich oder Optimum liegen. Wie die Berechnungen der Apps über Algorithmen erfolgen, ist kaum nachvollziehbar und bleibt unsichtbar, wie auch Rotthaus resümiert. Die Autorin zeigt mit Rückgriff auf Donna Haraway und Bruno Latour anschaulich auf, wie sich Körper und digitale Technologien im Alltag der Selbstvermessung einander annähern.
Das Dilemma der Anwender*innen der digitalen Version von Verhütung beschreibt Rotthaus in impliziter Weise. Es handelt sich hier um Grenzen moderner Selbsttechnologien, die an gesellschaftlichen Normen (noch) scheitern. Hier wäre ein Begriff von Macht hilfreich gewesen, der mit Foucault weiter ausgeführt werden könnte. So wird das Wissen, das in Opposition zur herkömmlichen Verhütung mit der Pille oder anderer Methoden steht und in den Internetforen „gefeiert“ wird, im Alltag sozusagen zum Verhängnis. Auf der einen Seite sind es Abhängigkeiten von Körper-Daten, deren Erfassung und die Apps selbst, die die Eigenmächtigkeit der Subjekte begrenzen. Auf der anderen Seite sind es naturalistische Konzepte, die der im Netz und in der Gemeinschaft entwickelten Semantik eigentlich widersprechen. Dazu zählen „stark gegenderte Zusammenhänge“ (61), also die Auffassung, dass Hormone den weiblichen Körper grundlegend steuern würden. Daraus folge nicht selten eine (freiwillige) Unterwerfung der Subjekte unter eine solche naturgegebene Biologie des Körpers beziehungsweise die Problematik, dass die untersuchten Apps dieses Wissen teilweise als einzig legitimes beim Einüben und Praktizieren der Verhütungsmethode anbieten. Die ausgewerteten Daten können dann nicht mehr nur im Sinne einer Selbstermächtigung verstanden werden, wenn eine Pathologisierung sämtlicher Vorgänge des Frauenkörpers erfolgt (63, 66, 78). Nicht nur an diesem Ergebnis der vorliegenden Studie, sondern auch am traditionellen Diskurs über Verhütung lässt sich ablesen, wie Frauen als Patient*innen in der (männlichen) Medizin des ausgehenden 19. Jahrhundert betrachtet wurden – es kann aktuell also eine Wiederbelebung medizinischer Konventionen festgestellt werden. Gerade auch kulturell normierte Idealvorstellungen von Körper, Gesundheit und Schönheit kommen beispielsweise in Design und Inhalt der Apps zum Ausdruck und zementieren klassische Geschlechterauffassungen, was in der Studie bisweilen anklingt (z. B. 61). Die untersuchten Verhütungspraktiken können dann nicht mehr nur als feministisches Empowerment gelesen werden. Sie sind in der Studie von Hannah Rotthaus immer noch Teil einer nicht-entlohnten Sorgearbeit, die in Paar- und Familienkonstellationen von Frauen übernommen wird.
Die Ergebnisse der Abschlussarbeit verdeutlichen, dass sich die moderne Form der symptothermalen Verhütungsmethode in einen Zeitgeist von Selbstoptimierung und „Medical Wellness“ einbetten lässt, was mit einer entsprechenden Vermarktlichung der Angebote der letzten Jahre einhergeht. Hier zeigen sich die typischen Effekte digitaler Selbstbeobachtungen und neoliberaler Selbstführungskonzepte der Moderne, was unter anderem in den eingangs genannten Studien verhandelt wird. Die Autorin führt zugleich aus, dass die „Praxis eines bewussten und gesunden Lebensstils“ (65) und die Optimierung des Selbst (die Spannweite reicht von Körperflüssigkeiten bis hin zu Coachings) bei der Auswertung des Quellenmaterials teilweise deutlicher zum Ausdruck kommt als das ursprüngliche Ziel, eine erfolgreiche Verhütung. Mit dem Beispiel der Schwangerschaftsverhütung gelingt es Rotthaus jedoch auch, Praktiken aufzudecken, die sich nicht ausschließlich an einer Optimierung des Körpers ausrichten, sondern vielmehr an Prämissen eines nachhaltigen Lebensstils. Angesichts der Fülle des empirischen Materials und der Argumentationsstränge wäre es wünschenswert gewesen, wenn genau solche Fäden am Ende der Arbeit zusammengeführt und ausführlicher diskutiert worden wären, um so neue Impulse für eine sozial- und kulturwissenschaftliche Analyse zu liefern.
Die Studie enthält durchweg reichhaltige Anregungen zum Weiterlesen, so dass diese sowohl für Studierende als auch bereits vorgebildete Leser*innen einen breiten und bis 2018 gut recherchierten Fundus an Literatur bietet. In dieser Stärke zeigt sich jedoch auch eine Schwäche der Arbeit. So werden die gewählten theoretischen Bezüge bis auf wenige Ausnahmen (z. B. den Rekurs auf Haraway) nur schlaglichtartig beleuchtet. Zudem weist gerade die zentrale Positionierung von Körper, Wissen und Technologien in der Studie sowie der Schluss auf einen Konnex zwischen Machtverhältnissen, Normalität, Selbstsorge und -disziplinierung auf die Arbeiten von Michel Foucault hin, die aber in die Arbeit nicht eingebunden wurden. Diese Gedanken könnten weiterentwickelt werden. Das Konzept der Medikalisierung von Peter Conrad und die in der Soziologie gut untersuchte Rolle von Selbsthilfegruppen, die Lai*innen zu Expert*innen werden lassen, bieten sich als weitere Diskussionsrahmen an. Profitabler für eine tiefergehende Analyse wäre die Entscheidung für wenige zentrale statt der vielen, zahlreich präsentierten theoretischen Perspektiven und Interpretationsangebote. Der Reiz der sehr interessanten Studie liegt gerade in der Hinwendung zu den Arbeiten von Donna Haraway und an diesem inter- und transdisziplinären Anschluss.
Anmerkungen
[1] Deborah Lupton: The Quantified Self. A Sociology of Self-Tracking. New York, NY 2016; Stefanie Duttweiler u. a. (Hg.): Leben nach Zahlen. Self-Tracking als Optimierungsprojekt? Bielefeld 2016; Stefan Selke (Hg.): Lifelogging. Digitale Selbstvermessung und Lebensprotokollierung zwischen disruptiver Technologie und kulturellem Wandel. Wiesbaden 2016.
[2] Mike Featherstone (Hg.): Body Modification. London 2000; Chris Shilling: The Body in Culture, Technology and Society. Thousand Oaks 2004; Bryan S. Turner: The Body & Society. Explorations in Social Theory. London u. a. 1984.