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Katharina Schuchardt

Zwischen Berufsfeld und Identitätsangebot. Zum Selbstverständnis der deutschen Minderheit im heutigen Opole/Oppeln

(Kieler Studien zur Volkskunde und Kulturgeschichte 13), Münster/New York 2018, Waxmann, 364 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-8309-3901-6


Rezensiert von Uta Karrer
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 30.08.2021

Wie stellt sich eine nationale Minderheit in Europa den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts? Auf welche Weise werden (multiple) Identitäten und Zugehörigkeiten ausgehandelt? Diesen Fragen geht Katharina Schuchardt anhand der Identitätskonstruktionen der deutschen Minderheit in der Woiwodschaft Opole/Oppeln in der Republik Polen nach. Ihre Forschung „Zwischen Berufsfeld und Identitätsangebot. Zum Selbstverständnis der deutschen Minderheit im heutigen Opole/Oppeln“ entstand als Dissertation an der Christian-Albrechts-Universität Kiel mit einer Förderung durch ein Kant-Stipendium des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa. Schuchardt untersucht einen wichtigen Bereich der Minderheitenpolitik der Europäischen Union und ebenso der deutsch-polnischen Beziehungen. Die deutsche Minderheit ist eine wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Kraft in Polen, zu der sich nach der Volkszählung von 2011 etwa 110 000 Personen zählen. Sie bildete sich in Folge der Verschiebungen der politischen Landkarten nach dem Zweiten Weltkrieg. Ihr Hauptsiedlungsgebiet ist die von Schuchardt untersuchte Region von Opole/Oppeln. Während des Sozialismus war die deutsche Minderheit in der Volksrepublik Polen einer restriktiven Kulturpolitik ausgesetzt; offizielle politische Anerkennung erfuhr sie dort erst im Zuge der Transformationsprozesse nach 1990 und dem EU-Beitritt Polens. In diesem Zeitraum setzt Katharina Schuchardts Untersuchung zu den Aushandlungs- und Transformationsprozessen von Identität und Selbstverständnis der deutschen Minderheit an. Nach ihrer offiziellen Anerkennung entstand eine Vielzahl von Organisationen, die sich für die Belange der Deutschen in Polen einsetzen und deren Identitätsmanagement Schuchardt untersucht. Weiterhin analysiert sie, wie Angehörige der jungen Generation, besonders der nach 1980 Geborenen, für die die deutsche Minderheit eine Wahlmöglichkeit darstellt, ihre Identitäten und Zugehörigkeiten aushandeln.
Die Autorin verfolgt einen multi-methodischen Ansatz. Sie führte leitfadengestützte und narrative Interviews mit Führungskräften der Minderheitenorganisationen und Vertreter*innen der „jungen Generation“. Darüber hinaus setzte sie teilnehmende Beobachtung ein. Zugang zum Feld eröffnete ihr ein Praktikum in einer Minderheitenorganisation. Weiterhin erstellte Schuchardt eine qualitative Medienanalyse der größten Verbandszeitung der deutschen Minderheit in Polen, „Wochenblatt.pl“, sowie der Zeitschrift „Antidotum“ des Bunds der Jugend der Deutschen Minderheit (BJDM). Durch die kritische Reflexion ihres Forschungsprozesses und eine dialogische Darstellungsweise ihrer Ergebnisse möchte sie der Polyvokalität kultureller Wirklichkeitskonstruktionen gerecht werden.
Ihre Untersuchung gliedert Schuchardt in acht Kapitel. Die ersten vier, und damit etwa ein Drittel der Publikation, widmet die Autorin dem historischen Kontext sowie ihrem theoretischen und methodischem Vorgehen. Die folgenden Kapitel beschäftigen sich mit den Identitätsaushandlungen durch die Minderheitenorganisationen beziehungsweise deren Führungskräfte, mit der Analyse der analogen Medien der Minderheit sowie mit der jüngeren Generation. Im Analyseteil stellt Schuchardt verschiedene Minderheitenorganisationen vor und schildert deren Geschichte und Entwicklung, Organisationsstruktur, Finanzierung und internationale Vernetzung sowie (beanspruchte) gesellschaftliche Funktionen. Kritisch analysiert sie die zentrale Rolle einer eng miteinander vernetzten Elite von Führungskräften, die sie als Deutungselite bezeichnet. Diese produziere im Rahmen ihrer politischen Handlungsmacht ein öffentliches Bild der Minderheit, das wiederum auf die Angehörigen der Minderheit einwirke. Gegenwärtig stünden die Minderheitenorganisationen vor den Herausforderungen abnehmender Mitgliederzahlen und einer sich stark wandelnden Mitgliederstruktur, die dadurch bedingt ist, dass seit den 2000er Jahren immer mehr Personen der Erlebnisgeneration sterben. Dies führt zu einer Neuausrichtung der Organisationen hin zu Sprachvermittlung und Identitätsmanagement beziehungsweise Stärkung des Identitätsbewusstseins. Die (Veranstaltungs-)Angebote richten sich zunehmend an breitere Zielgruppen, die auch die Mehrheitsgesellschaft miteinschließen. Sichtbarstes Merkmal nach außen sei die deutsche Sprache, die innerhalb der Minderheit jedoch nur eingeschränkt verwendet werde, weil viele Mitglieder, die nach 1950 geboren wurden, die deutsche Sprache nur begrenzt beherrschten. Als rückwärtsgewandtes Konzept beschreibt Schuchardt den starken Bezug der Minderheit auf die Vergangenheit, besonders auf die nach 1945 sich konstituierenden Opfernarrative. Die „Oberschlesische Tragödie“ und die Versöhnungsmesse in Kreisau 1989 fungierten hier als die zwei zentralen Gründungsmythen und dienten der Selbstvergewisserung, Legitimation sowie Abgrenzung der Minderheit nach außen.
Die Analyse der Identitätsaushandlung der jüngeren Generation basiert auf der Grundlage narrativer Interviews, die die Innenperspektive einer Generation vermitteln, die zwischen verschiedenen Identitätsoptionen wählen kann und muss. Die Herausforderungen für die jüngeren Angehörigen der deutschen Minderheit werden eindrücklich dargelegt. Ab dem Kindesalter sind sie innerhalb der Minderheits- sowie in der Mehrheitsgesellschaft beziehungsweise an staatlichen Institutionen mit divergierenden Deutungen von (nationaler) Identität und Geschichte konfrontiert. Dies führe in der Wahrnehmung der jüngeren Generation zu einem „Identitätsproblem“ (296 ff.). Eine eindeutige Verortung in Bezug auf eine ethnische Identität, wie in einem historischen, essentialistischen Nationenverständnis vorgesehen, würde daher von vielen jüngeren Minderheitenangehörigen abgelehnt. Vielmehr würden Patchwork- und Teilidentitäten gewählt, die sich in unterschiedlichen Lebensphasen verändern und situativ anpassbar seien. Die regionale Verortung als Schlesisch nehme einen wichtigen Stellenwert ein, da in diese sowohl polnische wie deutsche Teilidentitäten integriert werden könnten. Angeknüpft wird damit an die im Grenzgebiet Preußens, des Habsburgerreichs und Polens historisch gewachsene Region Schlesien mit dem Schlesischen als von der Minderheit im Alltag verwendeten Sprache. Als zentral für die jüngere Generation stellt Schuchardt die beruflichen Distinktionsmerkmale und Möglichkeiten dar, die durch die Sprachkenntnisse und Angebote der Minderheitenorganisationen zur Verfügung stehen. Die Mitgliedschaft und das Engagement innerhalb der Minderheit bieten Karrieremöglichkeiten.
Durch ihre Analyse bietet Schuchardt einen umfassenden Einblick in die aktuellen Entwicklungen und die Innenperspektive der deutschen Minderheit in Polen. Durch ihre breit gefächerten Quellen und Methoden bezieht sie sowohl die historischen Entwicklungen als auch die Herausforderungen der Gegenwart in ihre Untersuchung ein. Die Studie ist ein wichtiger Beitrag für die Kulturwissenschaften im Allgemeinen und die Untersuchung der Aushandlung und den Wandel von Identitäten im Besonderen. Darüber hinaus trägt sie zu einem besseren Verständnis der aktuellen politischen Entwicklungen in Europa, der europäischen Minderheiten und der deutsch-polnischen Beziehungen bei. Wünschenswert für die Einlösung der von Schuchardt angestrebten Polyvokalität kultureller Wirklichkeitskonstruktionen wäre eine Erweiterung der Forschungsperspektive. Während die Perspektive der Minderheitenorganisationen im Vordergrund steht und diejenige der staatlichen und fördernden Institutionen aus der Bundesrepublik Deutschland einbezogen wird, ist die Rolle der polnischen staatlichen Institutionen kaum berücksichtigt. Für ein umfassendes Verständnis der gegenwärtigen Situation und der Handlungsoptionen der deutschen Minderheit wäre das Aufzeigen von Zuschreibungen, Entwicklungsperspektiven und Erwartungen von Seiten politischer Vertreter*innen der Mehrheitsgesellschaft in Polen Voraussetzung.
Die Untersuchung der Identitätsaushandlungen durch die Minderheitenorganisationen und die von Schuchardt herausgestellte Deutungsmacht der Führungskräfte könnte durch eine breitere Rezeptionsanalyse ergänzt werden. Zu untersuchen wäre, welche Bezugsgrößen es für Minderheitenangehörige außerhalb der Minderheitenorganisationen gibt: Inwiefern nehmen weitere kulturelle oder religiöse Institutionen, Sportler*innen, Musikgruppen, Künstler*innen oder Orte wichtige Funktionen in der Identitätskonstruktion und Selbstverortung ein? Wertvolle Einblicke könnte in diesem Bereich eine Analyse der sozialen Medien bieten, die hier unberücksichtigt geblieben sind. Die von Katharina Schuchardt bezüglich der jüngeren Generation aufgezeigten Identitätsoptionen und Patchworkidentitäten könnte eine teilnehmende Beobachtung in unterschiedlichen Situationen erweitern. Vertieft betrachtet werden könnten im Kontext der Eigen- und Fremdzuschreibung von Identitäten auch die Perspektiven auf Abstammung. Während in der Selbstrepräsentation der Minderheitenorganisationen Abstammung als Identitätskriterium im Kontext zunehmender Europäisierung und einer Öffnung zur Mehrheitsgesellschaft zurücktritt, stellt sich die Frage nach dem Umgang mit dieser im Alltag.
Schuchardts Studie richtet sich nicht nur an Interessierte an der Geschichte Schlesiens sowie an der schlesischen und deutschen Minderheit. Sie ist auch für Fragestellungen zu Identitäten und Identitätspolitiken in der Europäischen Union sowie bezüglich ethnischer Minderheiten weltweit von großer Relevanz.