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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Jan Bürger

Zwischen Himmel und Elbe. Eine Hamburger Kulturgeschichte

München 2020, C.H. Beck, 383 Seiten mit 60 Abbildungen, ISBN 978-3-406-75814-0


Rezensiert von Burkhart Lauterbach
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 30.08.2021

Bereits das Titelbild von Jan Bürgers neuer Studie ist Programm: Es ist Abend, die Lichter sind bereits eingeschaltet, beim sichtbaren Teil der Hamburger Hochbahnstation „Baumwall“ ebenso wie entlang der Straßen zu beiden Seiten des aufgeständerten Gleiskörpers, auf den beiden am Elbufer angelegten Museumsschiffen, der Dreimastbark „Rickmer Rickmers“ (1896) und dem Stückgutfrachter „Cap San Diego“ (1962), ebenso wie, im Hintergrund, dem Gebäude der neuen „Elbphilharmonie“ sowie einigen Hafenanlagen. Es sieht so aus, als ob es dem Autor und wissenschaftlichen Mitarbeiter des Deutschen Literaturarchivs (Marbach) darum geht, die Lebensbereiche Kultur, Wirtschaft und Verkehr, einschließlich Stadtentwicklung, zentral zu behandeln. Nicht von ungefähr folgt die berühmte Ansicht mit der Innenstadt-Silhouette (in der Version von etwa 1900: südliche Außenalster, Binnenalster, Lombardsbrücke, Kirchtürme und Rathausturm) erst auf dem Vorsatzblatt des Buches.
In der Einleitung heißt es dazu: „Da ich vor allem die Stadt der Moderne in den Blick nehme, geht jedes Kapitel von einer der bekannten Haltestellen der S- und U-Bahnen aus. Geschichte wird also einmal nicht chronologisch erzählt, sondern im Raster der Topografie und damit stets von unserer Gegenwart her“, wobei das Liniennetz als „Mind-Map“ dient (17). Das Verfahren ist bereits erprobt worden, vom Schriftsteller und Schauspieler Lorànt Deutsch in seinem Band „Métronome. L’histoire de France au rythme du métro parisien“ (Neuilly-sur-Seine 2009), allerdings interessiert ihn die gesamte französische Geschichte, nicht nur die einer bestimmten Großstadt. Bürger verfolgt somit einen erheblich konzentrierteren Ansatz in seiner Darstellung, was dadurch unterstrichen wird, dass er nicht 21, sondern lediglich ein Dutzend der Haltestellen des Hamburger Verkehrsverbundes als Ausgangspunkte für seine Ausführungen ansetzt.
Beispiel „Baumwall“: Die nahe Elbphilharmonie bringt ihn dazu, thematische Vernetzungen herzustellen, zwischen diesem gigantischen Kulturprojekt und dem einstigen, allerdings peu à peu verschütteten, Konzertleben, der dazugehörigen Berufungspolitik (Georg Philipp Telemann und Carl Philipp Emanuel Bach als Musikdirektoren der Stadt Hamburg), dem literarischen Leben der Stadt (Klopstock, Claudius, Lessing), der weltweit zunehmenden Bedeutung des Hafens und der sich in diesem Prozess herausbildenden Mentalität: „Ende des 19. Jahrhunderts war es gar keine Frage mehr, dass die Ökonomie den Hamburgern über alles ging. Als sprichwörtliche Pfeffersäcke inszenierten sie ihre wirtschaftliche Macht nun selbstbewusster denn je. Ihre Kathedralen waren die Gewürzspeicher und Kontorhäuser. Ob Protestant oder Katholik, religiöse Bedürfnisse interessierten, sofern überhaupt vorhanden, nur noch am Rande, ebenso wie die Wissenschaften und die Künste.“ (25) Das heißt: Der Autor thematisiert und problematisiert das, was er im Umfeld einer Haltestelle sieht, in gegenwartsbezogener und historisch ausgerichteter Perspektive.
Bei der „Mönckebergstraße“ stehen der Abriss des Mariendoms, der damit verbundene Eingriff in das Stadtbild und die verschiedenen Phasen des Umgangs damit im Zentrum der Darstellung, darüber hinaus die seit Ende des Zweiten Weltkriegs zunehmende Ballung von Presse- und Medienhäusern in der unmittelbaren Nachbarschaft (Spiegel, Zeit, Welt, Hör Zu, Constanze), dies einschließlich unterschiedlicher Tendenzen politischer Ausrichtung sowie rechtlicher Auseinandersetzungen und Zensur-Skandale. Weitere Haltestellen sind: „Gänsemarkt“, „Meßberg“, „Rödingsmarkt“, „Dammtor“, „Hallerstraße“, „Hauptbahnhof“, „St. Pauli“, „Königstraße“, „Altona“ und „Blankenese“. Hans Christian Andersens Hamburg-Betrachtungen aus dem Jahr 1831 kommen ebenso zur Sprache wie der Umstand, dass Hamburg „damals die bei Weitem am dichtesten besiedelte Stadt Europas war“ (20); es geht um Theater ebenso wie um Kino-Paläste, um den Brand von 1842 ebenso wie die Zerstörungen durch alliierte Bomber 1945, um das jüdisch geprägte Grindelviertel ebenso wie die sehr spät zur Realisierung kommende Universität (1919), um bekannte Gelehrte (Ernst Cassirer, Erwin Panofsky) ebenso wie die Leistungen in den Bereichen der Modernisierung von Architektur und Wohnungsbau, um die Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg ebenso wie die Kunstmuseen, um die Reeperbahn ebenso wie die frühe Karriere der „Beatles“ und um vieles andere mehr, wobei das Prinzip der Bezugnahme auf literarische (und auch künstlerische) Akteure und Akteurinnen wie auch der unterschiedlichen Werke konsequent zur Anwendung gelangt. Jan Bürger ist sich dessen bewusst, dass sein eigenes, an Assoziationen und Facetten reiches Werk einen „Spiegel seines Wissens, seiner Interessen und Erfahrungen“ (16) darstellt. Der dabei zur Wirkung kommende Kulturbegriff wird explizit reflektiert in seinen Ausführungen über eine bestimmte Buchhandlung: „Wenn man die Hamburger Kulturgeschichte nüchtern betrachtet, gleichsam aus etwas größerem Abstand, so ist die heute von Frank Bartling mit ungebrochener Leidenschaft für das Auserlesene geführte Bücherstube nicht weniger bedeutend als der Renommierpalast am Hafen“ (141), nämlich die Elbphilharmonie.