Logo der Bayerischen Akademie der Wissenschaften

Kommission für bayerische Landesgeschichte

Menu

Aktuelle Rezensionen


Kim Siebenhüner/John Jordan/Gabi Schopf (Hg.)

Cotton in Context. Manufacturing, Marketing, and Consuming Textiles in the German-speaking World (1500–1900)

(Ding, Materialität, Geschichte 4), Wien/Köln/Weimar 2019, Böhlau, 424 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-412-51510-2


Rezensiert von Viola Hofmann
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 30.08.2021

Mit „Cotton in Context. Manufacturing, Marketing, and Consuming Textiles in the German-speaking World (1500–1900)“ ist ein umfangreicher Band in englischer Sprache vorgelegt worden, der sich in der Hauptsache mit der Produktion und dem Marketing von bedruckten Baumwollwaren in deutschsprachigen Regionen sowie deren Absatz und Konsumption innerhalb und außerhalb dieser Regionen beschäftigt. Wie Kim Siebenhüner, eine der drei Herausgeber*innen, in der Einführung verdeutlicht, geht es hierbei nicht um eine Reaktivierung eines historischen Ansatzes mit nationaler Zentrierung. Vielmehr bietet der Fokus auf Textilproduktionsstätten und Umschlagplätze wie Thurgau, St. Gallen, Basel, Bern, Zürich, Wien, Augsburg, den Niederrhein und Berlin die Möglichkeit, besonders die Fäden aufzunehmen, die zugunsten einer historisch aufschlussreichen Inspektion ein gut ausgebautes, europäisches und globales Aktions- und Beziehungsgeflecht aufscheinen lassen. Die Orte, Städte und Regionen wirtschafteten durch ihre vielverzweigten Kommunikationskanäle und Austauschwege kaum nur lokal und national begrenzt, sondern auf europäischer und globaler Ebene. Über viele Adern wurden Rohstoffe, Fertigwaren und Wissen ein- und ausgebracht. Durch die vielseitigen Einblicke des Bandes auf diese Geflechte wird deutlich, wie Textilveredelung, Marketing und Handel in Europa nicht nur den Bedarf und das Gefallen an Materialien, Stoffen und textilen Ausstattungen forcierten, sondern an vielen Hebeln auf protoindustrielle Strukturen einwirkten und die Balancen globaler Ökonomien neu austarierten.
In sechzehn Beiträgen wird ein bisher in seiner Gesamtheit vernachlässigter Teil der textilen Landkarte Europas beforscht, für deren Areale lediglich unzusammenhängende Untersuchungen vorliegen. Die älteren davon nehmen traditionelle entwicklungsgeschichtliche, die neueren soziale und ökonomische sowie unternehmenshistorische Fragestellungen ein. Lediglich wenige englischsprachige Forschungen mit Blick auf die angloamerikanische Baumwollgeschichte vereinen textilhistorische Forschungen mit neuen Ansätzen zur Globalisierungsgeschichte, Konsumgeschichte und der Geschichte materieller Kulturen.  
Den programmatischen und methodischen Ansatz von „Cotton in Context“ bildet die objektbasierte Forschung, die sich auf das materielle Objekt als zentrale Quelle konzentriert. Wie aus Dingen nicht nur eine gefällige Illustration für schriftliche Quellen wird, sondern wie Kulturgeschichte aus Textilien, Kleidung, Musterbüchern für Produktion und Marketing, technischen Rezept- und Anleitungsbüchern, Werbung für Produktsparten etc. selbst heraus erzählt wird, das führen alle Beiträge vor, indem sie ihre Fragestellungen aus dem konkreten Material entwickeln. Die Analysen einer bedruckten Schürze aus Baumwollchintz für Frauen (Claudia Ravazzolo) oder Stoffmustersammlungen mit Tausenden Samples (Gabi Schopf; Alexis Schwarzenbach) zeigen etwa, wie Textilien zum Sprechen gebracht werden.
Der Konferenzband, der aus dem größeren, 2013 bis 2017 vom Schweizer Nationalfonds geförderten Projekt „Textiles and Material Culture in Transition: Consumption, Innovation and Global Interaction in the Early Modern Period“ hervorging, verfolgt damit eine wichtige und vor allem in Deutschland permanent erforderliche (Re-)Positionierung textilgeschichtlicher Forschung. Der Band führt mit den Autor*innen Expertisen aus Universitäten, Museen und handwerklicher Praxis zusammen. Nur mit vielseitigem Wissen und Verständnis um und für die physischen Objekte sowie speziellen Methodensets können historische Sachverhältnisse greifbar gemacht werden, die allein über Schriftquellen nur inadäquat erschlossen werden können.
Die Gliederung des Bandes in drei größere Sektionen folgt der Logik des materiellen Prozesses der textilen Kette. Der erste Teil, „The Production of Textiles: Manufacturing and Colouring“, beschäftigt sich mit einem Teil der Herstellung, dem Färben und Drucken, der in der Forschung bislang als scheinbar erratische Station im Prozess übergangen wurde (Ernest Menolfi). Auch hier bringt der objektbasierte Ansatz neue Einsichten für die Wissens- und Technologiegeschichte. Am Beispiel von Calicos und Indiennes lässt sich ein genaues Bild nachzeichnen, wie sich Wissenstransfers zwischen Indien und Europa entwickelten (Menolfi; Siebenhüner; Ravazzolo) und Übergänge zwischen implizitem und explizitem, technischem und akademischem Wissen um Färbe- und Drucktechniken geschaffen wurden. Für Färbung und Textildruck brauchte es neben den spezialisierten Werkstätten und Fachkräften in der Textilveredelung angeschlossene Betriebe und Fachleute wie Mechaniker für Wasserantrieb, Modelschnitzer, Kupferstecher, Steinschleifer oder Musterzeichner. Geeignete Hölzer, Metalle, Mineralien, Ausgangsstoffe – europäischer und nicht-europäischer Herkunft – für chemische Verbindungen in Bleich-, Ätz-, Reserve-, Färbe-, Fixier- und Reinigungsprozessen wurden beschafft. Es brauchte Transport- und Kommunikationswesen, Kapital und Banken und unternehmerische Aktivitäten (Karl Borromäus Murr und Michaela Breil). Die notwendigen Netzwerke sowie das Wissen um chemische und technische Prozesse, das Expertentum, waren bereits für die Verarbeitung anderer Materialien wie Wolle ausgebildet. Reflektierte Praxis und technische Rationalität wurden durch die Einbettung von Baumwollwaren dynamisiert und innoviert (Jutta Wimmler).
Der zweite Teil, „The Business of Textiles: Marketing and Product Innovation“, wird durch die Geschichte einer Produktadaption eröffnet (Barbara Karl). Seit dem 16. Jahrhundert wurden feinbestickte, bengalische Seidentücher aus der portugiesischen Kolonie von Kaufleuten nach Lissabon verschifft und als Neuheiten verbreitet. Die bengalischen Handwerker*innen antizipierten den Geschmack der portugiesischen Kaufleute, die wiederum durch gezielte Auswahl – ihrem eigenen Geschmackshintergrund folgend – durch ein zuträgliches Maß an „Exotik“ neue Märkte in Portugal und Spanien erschlossen. Die vielen in Sammlungen erhaltenen Textilien dieses Typus deuten auf Marketingstrategien hin, die wir heute als käufergruppenspezifische Produktion für einen genau umrissenen Markt bezeichnen würden.
Dieser konnte nicht nur durch die Waren selbst, sondern durch Warenproben erschlossen werden. Im Fernhandel, an dem nicht nur große und bekannte, sondern auch kleinere Textilveredler im Baumwolldruck oder Hersteller von konkurrenzfähigen Seidentaften beteiligt waren, spielten Briefe oder Bücher mit Waren- und Mustersamples eine bedeutende Rolle (Schopf; Schwarzenbach). Die materielle Quellengattung mit ihrem sehr eigenen sozialen Dingleben, die Textilproben, Texte und Zahlencodes kombinierte, verteilte das Angebot en miniature, leicht und schnell über den Fernhandel. Die Wegenetze können zum Teil über retour gesendete und kommentierte Samples rekonstruiert werden. Sie dienten der Marktausbreitung und als materieller Beweis für die Qualität der Druckereien. Sie schafften Vertrauen zum Klienten. Durch Reaktionen auf die Samples konnte die Produktion flexibilisiert und auf die Marktansprüche hin ausgerichtet werden.
Viele Analysen von Marketingprinzipien leiden, das stellt eine Untersuchung über die Schweizer Stickereiindustrie heraus, unter einer ahistorischen Perspektivierung (Eric Häusler). Das Ausstellen, die Werbung, das (nationale) Branding und die Kommunikation, das Herstellen von guten Verbindungen zwischen Produzent*innen und Konsument*innen, haben lange Wurzeln. Mit gutem Beispiel verlangt der Autor einen scharf gestellten Blick auf die strategischen Aktivitäten historischen Marketings. Der zweite Buchteil wird damit durch eine wichtige Forderung abgeschlossen.
Der dritte Teil, „The Consumption of Textiles: Clothes and Fabrics“, richtet den Fokus auf den europäischen Textilkonsum. Für die untersuchten Orte und Regionen wurde verschiedenes Quellenmaterial ausgewertet, das Aufschluss darüber bietet, wie Baumwoll- und andere Waren distribuiert wurden und welche textilen Sachbesitze in unterschiedlichen Milieus zu Beginn der Industrialisierung und im Entstehungskontext einer Konsumgesellschaft vorhanden waren. Am Beispiel Dänemarks zeigt sich, dass der Konsum an Baumwollwaren während des 18. Jahrhunderts anstieg. Anhand von Quellenmaterial wie Auktionskatalogen der Asiatisk Kompagni wird gezeigt, dass auch in Dänemark nicht bedruckte, sondern weiße oder unbehandelte Stoffe das größte Importvolumen ausmachten. Die Ware wurde in Europa, das erweist eine Fallstudie über einen bestens vernetzten Schweizer Kaufmann mit Haupt-Handelsstandort in Kopenhagen, zum Bedrucken weiter vertrieben. Zum anderen stieg auch der inländische Konsum an und veränderte die Art zu Wohnen und sich zu kleiden (Vibe Maria Martens). Insofern entstanden auch neue Strukturen und Muster im Sachbesitz von Gesellschaften, die sich auch je nach gesellschaftlicher Position differenzieren. Anhand einer spannenden aber unterschätzten Quelle, der Intelligenzblätter oder  zettel, kann das Angebot und der „Gebrauch“ von Textilien und Kleidung erforscht werden. Vor allem Diebstahlsanzeigen beschreiben die verlustig gegangenen Güter aus Kaufmannsläden oder Privathaushalten detailgenau und Materialien, Stoffe, Ausführung und Mengen lassen sich Geschäften, Berufsgruppen oder bestimmten Gesellschaftsmitgliedern, Männern, Frauen und Kindern sowie nach Stadt oder Land zuordnen. Der Vergleich mit musealen Kleidungsstücken dient als Referenz (Isa Fleischmann-Heck).
Im geografisch und demografisch expandierenden Wien änderte sich die Kultur der Erscheinung seiner Bürger*innen durch politische Transformationen, die unmittelbar die Versorgung und Verfügbarkeit von Kleidung und unterschiedlichen Materialien beeinflussten. Anhand der kritischen Auswertung von Inventaren lässt sich eine fortschreitende Homogenisierung der Garderoben, in die auch Baumwollwaren integriert sind, der Wiener Mittelklasse feststellen. Die Nachfrage nach neuen Waren, schnellerem Austausch – ein Auslöser für die Vereinheitlichung – steigt, weniger alte und abgetragene Kleidung befindet sich in den Hinterlassenschaften der untersuchten Gruppe. Trotz auch noch bestehender sozialer Differenzierung finden sich zahlreiche Indizien für eine Orientierung an und Identifizierung mit – intensiver durch Frauen – beginnender industrieller Produktion und Konsumption (Aris Kafantogias).
Bei alledem kann der Baumwolle nicht uneingeschränkt das Potenzial des revolutionären Materials zugesprochen werden, wie es zuweilen in der Forschung unter dem Stichwort „Calico Craze“ geschieht. Im Bern des 18. Jahrhunderts wurden Baumwollwaren konsumiert und waren Teil der Garderobe und Bestandteil der häuslichen Ausstattung. Zwar wurde die Baumwolle importiert und weiterverarbeitet, dennoch überflügelte das Material nicht den Gebrauch von Wolle und Leinen und hatte hier vor dem 19. Jahrhundert noch keinen nachhaltigen Einfluss auf die materielle Kultur. Insofern schließt der Band mit einem Aufruf, die „Globalität“ europäischer Konsumption für die beleuchtete Zeit kritisch zu bedenken (John Jordan).
Es ist erfreulich, dass mit dieser Publikation Forschungsergebnisse vorliegen, die materielle Prozesse wie die Herkunft eines Materials, seine Verarbeitung und das Marketing mit der Dimension des Konsums verbinden. Es ist nur konsequent, dass die hergestellten, beworbenen und zirkulierenden Dinge im Mittelpunkt stehen. Sie sind schließlich in ihrem gemacht- und gebraucht-werden stets mit der Herausbildung und Transformation von Lebens- und Gesellschaftsformen verknüpft. Der stringente Aufbau des Bandes – die Aufteilung der Beiträge in thematische Felder, die übersichtliche Binnenstrukturierung der Beiträge von der Vorstellung der Fragestellung und den Quellen bis zum Fazit – sichert die Übersicht für Leser*innen. Die zwischen der Einleitung und „Part 1“ positionierten Beiträge über textile Material-, Mode- und Marketingkulturen im frühneuzeitlichen Europa (John Styles) sowie über die Technologien des indischen Textildruckes mit Modeln (Eiluned Edwards) liefern ein Update beziehungsweise öffnen die Tür auch für eine fachfremde Leserschaft. Kartenmaterial, Statistiken, Tabellen, historische Abbildungen, Zeichnungen und Objektaufnahmen flankieren alle Beiträge.
Im heutigen globalen Baumwollgeschäft geht es um Ungleichheit, Menschenrechtsverletzungen, ausbeuterische Arbeitsverhältnisse, Kinderarbeit, Umweltverschmutzung und Ressourcenübernutzung. Auch diese Probleme zeitigen eine lange Tradition. Unweigerlich denkt man bei den im Band beschriebenen Schiffsladungen aus Indien und anderen baumwollproduzierenden Ländern auch an die Umstände ihrer Beschaffung im kolonialen Kontext. Es ist das Manko des Bandes, dass diese Dimension fast gänzlich ausgeklammert wird.