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Wolfgang Mieder

Schneewittchen. Das Märchen in Literatur, Medien und Karikaturen

(Kulturelle Motivstudien 20), Wien 2020, Praesens, 377 Seiten mit 169 Abbildungen, ISBN 978-3-7069-1053-8


Rezensiert von Akemi Kaneshiro-Hauptmann
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 30.08.2021

Die Frage „Spieglein, Spieglein an der Wand: Wer ist die Schönste im ganzen Land?“ gehört zu den bekanntesten Fragen aus den „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Grimm. Fast jeder weiß, in welchem Märchen sie vorkommt und von wem sie gestellt wurde. Ebenso bekannt sind die Figuren dieses Märchens: die Stiefmutter, die unbedingt die Schönste im Land bleiben will; Schneewittchen mit ihrer schneeweißen Haut, den roten Wangen und den schwarzen Haaren, die von der Stiefmutter fast ermordet wird; die sieben Zwerge, die tagsüber Gold und Edelsteine in den Bergen suchen und in deren Abwesenheit Schneewittchen, einem Dienstmädchen gleich, die Hausarbeit erledigt; sowie der Königssohn, der sich in das tote Schneewittchen verliebt. Die Charaktere und Handlungen dieses Märchens wurden verschiedenartig in Literatur und Medien rezipiert. Der Autor der vorliegenden Monografie, Wolfgang Mieder, ist Germanist und Folklorist an der University Vermont und international besonders bekannt für seine Sprichwörterforschung. Dem zwanzigsten Band seiner Reihe „Kulturelle Motivstudien“ im Wiener Praesens Verlag widmet er dem Märchen vom „Schneewittchen“. Davor erschienen bereits zwei Bände mit dem Schwerpunkt „Grimms Märchen“: 2007 über „Hänsel und Gretel“ (Bd. 7), Mieders Lieblingsmärchen, und 2019 „Der Froschkönig“ (Bd. 19). Wie für die bisherigen Veröffentlichungen dieser Wiener Reihe, stellte der Autor auch diesmal sein internationales Privatarchiv für Erzählforschung zur Verfügung, in dem sich nicht nur deutsche, sondern auch angloamerikanische Prosatexte, Gedichte, Aphorismen, Graffiti, Karikaturen, Grußkarten, Zeitungs- und Zeitschriftenartikel sowie Werbetexte befinden, womit die permanente und internationale Rezeption des Märchens vom Anfang des 20. Jahrhunderts bis heute deutlich wird.
Die Sprache und Struktur der Publikation sind klar und verständlich, die Gestaltung und der Aufbau orientieren sich an den zwei früheren Märchenbänden. Auf das Vorwort folgt ein Kapitel zur Forschungsgeschichte, danach werden die Texte nach den wichtigen Auflagen der „Kinder- und Hausmärchen“ chronologisch wiedergegeben; es wird auf die heutigen Adaptionen des jeweils thematisierten Märchens hingewiesen, und es werden Texte, Bilder und Zeichnungen gezeigt. Diese Struktur ist hier relevant, da Mieder nicht nur die von ihm gesammelten Belege präsentiert, sondern durch die Einführung in die Märchenforschung in (klassischer) Art und Weise auch das Verstehen der Parodien und unterschiedlichen Interpretationen erleichtert.
Im zweiten Kapitel „Herkunft und Bedeutung des Märchens“ fasst Mieder die Forschungsgeschichte auch in Hinblick auf nicht-deutschsprachige Untersuchungen zeitlich geordnet zusammen: Die literaturwissenschaftlichen Arbeiten von Johannes Bolte sowie Georg Polívkas gemeinsam mit Bolte verfassten „Anmerkungen zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm“ (1913–1932); Hans-Jörg Uthers internationalen englischsprachigen Märchenkatalog „The Types of International Folktales“ (2004), der die Erweiterung des Index der Märchenmotive und -typen von Antti Aarne und Stith Thompson darstellt; Christine Shojaei Kawans Artikel „Schneewittchen“ in der „Enzyklopädie des Märchens“, der auch die englischsprachige Untersuchung von Steven Sven Jones von 1990 berücksichtigt; die Märchenanalysen von Max Lüthi, Wilhelm Schoof und Lutz Röhrich; die englischen und amerikanischen psychoanalytischen Untersuchungen von Grant Duff, Alexis Susan Macquisten, Ralph William Pickford und Bruno Bettelheim, dessen Interpretationen in Bezug auf die Sexualität und den Reifungsprozess von Schneewittchen ungeteilt Zustimmung finden. Die chronologische Aufstellung von 155 Prosatexten und Gedichten und 169 Abbildungen erleichtern in Verbindung mit der Forschungsgeschichte das Verständnis. Außerdem spiegeln die Varianten in gewisser Weise den Zeitgeist und die politische Situation des Erscheinungsjahrs wider.
Im dritten Kapitel „,Schneewittchenʻ-Märchentexte“ sind die vier relevanten Fassungen der „Kinder- und Hausmärchen“ aus den Jahren 1810 (handschriftliche Fassung), 1812 (erste Auflage), 1819 (zweite Auflage) und 1857 (letzte Auflage, welche man als „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Grimm kennt) in voller Länge abgedruckt; vorneweg erläutert Mieder die durch Wilhelm Grimm erfolgten stilistischen Veränderungen der Texte. Zum Vergleich sind noch zwei weitere Texte, einer von Ludwig Bechstein und ein amerikanischer, von Jack Zips übersetzter Text hinzugefügt. Aus den Märchentiteln der jeweiligen Auflage wird ersichtlich, dass das Märchen in der handschriftlichen Manuskriptversion ursprünglich „Schneewittchen“ hieß und ab der ersten Auflage von 1812 „Sneewittchen“. Außerdem kann man selbst nachvollziehen, welchen neuen Eindruck die veränderten Stellen vermitteln, da beispielsweise das Wort „Mutter“ ab der zweiten Auflage durch „Stiefmutter“ ersetzt wurde. Auch ein paar andere Ausdrücke änderten sich, zum Beispiel das überraschende und wütende Gesicht der Stiefmutter, als der Spiegel Schneewittchen als die Schönste bezeichnet: „gelb und grün vor Neid“. Mieder gibt auch Einblicke in seine Forschungsergebnisse zu Sprichwörtern und Redewendungen in der Literatur und in den Märchen der Brüder Grimm, auch wenn sie auf das Thema Schneewittchen beschränkt bleiben.
Ab dem dritten Kapitel steht am Anfang jeden Kapitels ein Kommentar von jeweils einer Seite, gefolgt von zahlreichen entsprechenden Beispielen. Den Grund, warum das „Schneewittchen“-Märchen so viele Menschen, unter anderem Schriftsteller*innen und Lyriker*innen, motiviert, eine Parodie, ein Gedicht oder einen Witz zu schreiben, erklärt Mieder wie folgt: „Das Kontinuum der philosophischen aber auch erotischen Reflektion über dieses Märchen nimmt kein Ende, denn es enthält allgemeine Lebensumstände.“ (72) Hinsichtlich geschlechtsspezifischer Unterschiede ist festzuhalten, dass die Gedichte von Frauen – von denen nur ganz wenige in die Publikation aufgenommen wurden – entweder durch die Sehnsucht nach einem zukünftigen Partner gekennzeichnet sind oder ganz im Gegenteil, dass sie selbstbewusst „nein“ sagen können, wenn sie nicht (so wie die Männer) wollen. Die Texte von männlichen Autoren hingegen basieren oft auf sexuellen Fantasien, welche nicht immer denen der Frauen entsprechen. Das ist meines Erachtens ein interessanter Aspekt und eine Aussage zur Märchenanalyse, die auch die Textauswahl des Autors unbewusst geleitet haben könnte. In Kapitel sieben und acht werden Karikaturen und Witzzeichnungen präsentiert, die „Frauen vor dem Spiegel“ (Kap. 7) beziehungsweise „Männer vor dem Spiegel“ (Kap. 8) mit der Frage „Spieglein, Spieglein an der Wand…“ zeigen. In Kapitel neun und zehn beschäftigt sich Mieder mit den Zwergen, in elf und zwölf mit dem vergifteten Apfel und dem gläsernen Sarg. Erwartungsgemäß gibt es ein Kapitel über sexuelle Anspielungen zu Schneewittchen und den sieben Zwergen. Die letzten zwei Kapitel widmen sich Schneewittchen in Printmedien-Schlagzeilen und in der Werbung.
Mittlerweile ist Walt Disneys Film „Snow White and the Seven Dwarfs“ aus dem Jahr 1937 weltweit populär und beliebt. Diese Disney-Version scheint besonders in den Vereinigten Staaten von Amerika verbreitet zu sein, da spätere Illustrationen von Schneewittchen und den sieben Zwergen Doc, Dopey, Bashful, Grumpy, Sneezy, Sleepy und Happy den Figuren im besagten Zeichentrickfilm ähneln. Ohne Disneys „Snow White“ kann man sich heute die Adaption des Grimmschen Märchens „Sneewittchen“ nicht mehr vorstellen. Weitere Filmanalysen zu „Schneewittchen“-Filmen oder wenigstens ein Literaturhinweis hätten ergänzt werden können.
Diese Arbeit Mieders ist sowohl für Wissenschaftlter*innen, als auch für Nichtwissenschaftler*innen aufschlussreich, um das Märchen zu verstehen, und man kann sich an den unterschiedlichen, vieldeutigen, fantasiereichen Interpretationen erfreuen. Außerdem spürt man, dass der Autor sich seit langem mit der Märchenadaption intensiv und leidenschaftlich beschäftigt und diese Freude auch den Leser*innen vermitteln will. So schreibt er: „So lebt das Märchen in unzähligen innovativen Anspielungen weiter, deren Verständnis jedoch davon abhängt, dass die darin enthaltene Geschichte weiterhin geläufig bleibt.“ (7)