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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Nina Berding

Alltag im urbanen Quartier. Eine ethnografische Studie zum städtischen Zusammenleben

(Interkulturelle Studien), Heidelberg 2020, Springer, XI, 395 Seiten mit 20 Abbildungen, meist farbig, ISBN 978-3-658-29292-8


Rezensiert von Sarah May
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 02.09.2021

Oberbilk – das ist ein Stadtteil unweit der Altstadt Düsseldorfs, der, durch Bahntrassen aber weithin abgeschnitten vom Rest der Stadt, eine ganz eigene urbane Prägung entwickelte: Seit Mitte des 19. Jahrhunderts etablierte sich Oberbilk zu einem wichtigen und bis zum Zweiten Weltkrieg stets aufstrebenden Industriestandort, der neben der Schwerindustrie in dichter Blockbebauung auch Raum für Wohnen und Kleingewerbe bot. Im „Industrie- und Arbeiterstadtteil“ (151) Oberbilk trafen sich Wohnen, Arbeiten, Bildung, Freizeit und Konsum in nächster räumlicher Nähe. Durch den Strukturwandel der Industrie- zu einer Dienstleistungsgesellschaft seit Beginn der 1970er Jahre veränderte sich aber auch Oberbilk: Industrieflächen wurden zugunsten des tertiären Sektors umgebaut, neue Bebauungen, Begrünungen und der Zuzug von „Gastarbeitenden“ prägten nun den Stadtteil – ein „fast explosionsartige[r] Wandel“ (158), in dessen Folge sich zunehmend Prozesse der Segmentierung, Segregation und Marginalisierung im Stadtteil zeigten. In den 1970er und auch 2000er Jahren zielte die Stadt Düsseldorf mit konkreten Maßnahmen darauf, die Lebens- und Wohnqualitäten im Stadtteil zu verbessern und das soziale Miteinander zu fördern. Doch bis in die Gegenwart steht Oberbilk Herausforderungen der Stadtraumgestaltung (Verkehr, Grünflächen, Freizeit), der hohen Arbeitslosigkeit, des steten, vor allem migrationsbedingten Zuzugs und der Förderung eines sozialen Miteinanders im Stadtteil gegenüber: Den einen gilt Oberbilk heute als „buntes Mosaik“, den anderen als „soziale[r] Brennpunkt“ (9).
In diesem räumlichen Kontext, der „seit jeher durch Diversität und Mobilität geprägt ist und damit ein hohes Maß an alltäglichen Irritationen aufweist“ (2), verortet Nina Berding ihre ethnografische Analyse. Für ihre Doktorarbeit an der Universität Konstanz, die 2020 unter dem Titel „Alltag im urbanen Quartier. Eine ethnografische Studie zum städtischen Zusammenleben“ publiziert wurde, entwickelt Berding dichte ethnografische Beschreibungen von Alltagspraktiken rund um den Lessingplatz in Oberbilk/Düsseldorf, mit welchen sie herausfinden will, wie Menschen aus verschiedenen Milieus und mit unterschiedlichen Lebensstilen konfliktfrei neben- und miteinander ihren Alltag deuten und gestalten.
Berding entfaltet ihre Argumentation auf Basis von theoriegeleiteten Überlegungen zu Stadt, Diversität, Alltag und Raum, welche sie in den ersten beiden großen Kapiteln ihres Buches erarbeitet. So beschreibt sie zunächst, inwiefern sich eine „diversitätsgrundierte Stadt“ (13) unter anderem und doch zentral durch urbane Distanziertheit, migrationsspezifische Fremdheitskonstruktionen und die Veralltäglichung von Grenzziehungen auszeichne, die sich exemplarisch in Beheimatungsprozessen im Quartier zeigen. Im darauffolgenden zweiten großen Theoriekapitel ihrer Arbeit stellt Berding die Bezüge von Stadtraum und Alltagshandlungen heraus: Sie fokussiert auf routinisierte Praktiken und verdeutlicht, dass sich die Alltage der Menschen im Quartier gerade dadurch gleichen, dass diese Routinen möglichst störungsfrei verlaufen sollen. Hiermit wählt sie bewusst eine Gegenperspektive zu differenzlogischen Sichtweisen und sucht mit ihrer ethnografischen Forschung Alltagshandlungen zu beschreiben und zu deuten, die sie als „Inklusionspraktiken“ (121) bezeichnet und als kollektiv funktionierende alltägliche Praktiken versteht.
Darauf aufbauend diskutiert Berding die Ergebnisse ihrer ethnografischen Forschung. Sie erarbeitet diese in einem rund 160 Seiten starken Kapitel unter der Überschrift „Ortslogiken“ (179). Darunter versteht sie jene von Anwohnenden geteilten Ansichten und Zuschreibungen zum untersuchten Raum Lessingplatz/Oberbilk, deren Relevanz sie dadurch erkennt, dass die Anwohnenden sie während des Erhebungsprozesses wiederkehrend benennen. Diese „Schlüsselnarrative“ (180) fasst Berding zu „Ortslogiken“ zusammen und identifiziert deren vier: den Alltags-Ort, den bunten Ort, den umkämpften Ort sowie den unsicheren Ort. Zur Erarbeitung dieser ortsspezifischen Eigenlogiken des Lessingplatzes stellt sie individuelle Aneignungspraktiken, konkrete Repräsentationen und Narrationen in ihren prozesshaften Beziehungen zueinander dar. Berdings umfassendes ethnografisches Material wird in zahlreichen direkten Zitaten wiedergegeben. Darin liegt eindeutig das argumentative Gewicht der Analyse. An einigen Stellen werden Zitate aus dem Feld jedoch unkommentiert aneinandergereiht. Hier büßen Text und Ethnografie an argumentativer Stärke ein, was gerade im Vergleich zu jenen Passagen deutlich wird, in welchen Berding Ethnografie und Theorie miteinander verzahnt.
Inwiefern der Lessingplatz als „Der Alltagsort“ fungiert, wird in einem recht knappen Kapitel (von nur neun Seiten) erörtert. Hierin beschreibt Berding vor allem jene gewachsenen Strukturen der Raumgestaltung (Bauten und Infrastrukturen der Mobilität, Arbeit, Freizeit, Bildung und Versorgung), die Handlungen des Alltags rahmen und ermöglichen. Im Kapitel „Der bunte Ort“ erfasst sie „Vielfaltsverarbeitungsroutinen“ als urbane Kompetenz (239). Besondere Relevanz zeigen hier ihre Analysen von Grenzziehungen, wenn sie etwa beschreibt, wie Differenzen durch Herkunftszuschreibungen hergestellt werden, wie bereits negative Wertungen von Diversität veralltäglicht sind und auf dem Lessingplatz durch konkrete Alltagspraktiken im Raum sichtbar und verstetigt werden.
Mit „Der umkämpfte Ort“ überschreibt Berding einen recht umfassenden Teil ihrer Analyse, in welchem sie Störungen, Brüche und Irritationen im konkreten Untersuchungsraum diskutiert: In der Konkurrenz um Macht und Einfluss auf dem Platz spielen konkrete Handlungen und symbolische Referenzen entscheidende Rollen. Die Spannungen entfalten sich – exemplarisch gesprochen – zwischen Stammnutzenden und Außenseiter*innen, zwischen Etablierten und Neuangekommenen. Individuelle, kollektiv gerahmte Deutungsweisen von Störungen und Routinen spiegeln sich in den heterogenen Nutzungsweisen der ebenso heterogenen Bewohner*innenschaft. Diese Analyse ihrer emischen Perspektive ergänzt Berding im Kapitel „Der unsichere Ort“ um die Diskussion der Wechselwirkungen von medial-öffentlicher Debatte um Gefahr und Bedrohung und den Aktivitäten und Deutungen im konkreten Handlungsraum. Sie beschreibt alltagsweltliche Bedrohungsszenarien, ausgelöst durch Spuren im öffentlichen Raum wie beispielsweise Müll, sowie Vorstellungsszenarien von Angsträumen, konstituiert durch die Präsenz der vermeintlich homogenen Gruppe der nordafrikanischen Newcomer*innen, die durch mediale Berichterstattungen verstärkt werden.
Berding fokussiert auf Alltagshandlungen im dichten, gemischten Quartier und analysiert diese stellvertretend am ethnografischen Beispiel jener Handlungen und Konstellationen, die im öffentlichen Raum sichtbar werden. Obschon sie hierbei stets die prozesshaften Entwicklungen und akteursspezifischen Rollen der Deutung herausarbeitet, ist Berdings Arbeit gerade in den Schlusskapiteln geprägt von generalisierenden Aussagen und normativen Empfehlungen. Auch im Ausblick zeigt sich diese engagierte Involviertheit Berdings in Handlungskonstellationen ihres Feldes: Sie beendet ihre Arbeit damit, sich für einen gemeinsamen, – wenn auch je nach Akteur*innenperspektive unterschiedlich konturierten – optimistischen Ausblick auf die Zukunft Oberbilks stark zu machen.
Der Band „Alltag im urbanen Quartier“ überzeugt durch eine in Bezug auf Theorie und Empirie umfassende Recherche und seine fundierte Analyse, die einen wichtigen Beitrag in der kultur- und sozialwissenschaftlichen Debatte um urbane Eigenlogiken, urbane Alltage und Konflikte, um Migration, Inklusion und zukunftsorientierte Stadtentwicklung leistet. Besondere Stärke des Textes ist eindeutig Berdings umfassende ethnografische Erhebung, mit welcher sie die Vorteile von Ethnografien in überschaubaren Quartieren für die Stadtforschung bestätigt. Sie zeigt treffend, inwiefern Distinktionspraktiken anhand bestimmter Verhaltens- und Ausdrucksweisen (Körper, Kleidung, Sprache) bestimmte Gruppen im öffentlichen Raum sichtbar machen und durch Mechanismen des Ein- und Ausgrenzens Alltag im Stadtraum konstituieren. Mit ihrer Forschung sucht sie dezidiert das Gemeinsame und Vergemeinschaftende im „diversitätsgeprägten Stadtteil“ (341) und formuliert auf dieser Basis Empfehlungen für das weiterführende lebensweltliche und politische Verständnis von urbaner Diversität: Dazu schlägt sie vor, gerade Differenzmarkierungen als Inklusionspraktiken zu betrachten, die unterschiedliche Formen der Distinktion ermöglichen und dadurch erst Freiräume für differente Lebens- und Verhaltensweisen und die Co-Orientierungen unterschiedlicher Gruppen bereithalten. So verstanden erweisen sich Distinktionspraktiken als ein konstitutiver Teil städtischer Realität: Distinktion bedeute Inklusion. Mit „Alltag im urbanen Quartier“ legt Nina Berding eine lesenswerte Studie vor, die die interdisziplinäre Debatte um Stadtentwicklung und das Zusammenleben in stetig wachsenden urbanen Ballungszentren bereichert.