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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Aktuelle Rezensionen


Sarah Kleinmann/Arnika Peselmann/Ira Spieker (Hg.)

Kontaktzonen und Grenzregionen. Kulturwissenschaftliche Perspektiven

(Bausteine aus dem Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde 38), Leipzig 2019, Leipziger Universitätsverlag, 278 Seiten mit Abbildungen, meist farbig, Tabellen, ISBN 978-3-96023-262-9


Rezensiert von Jana Nosková
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 20.09.2021

„Grenze“ ist ein Forschungsthema, das seit den 1990er Jahren in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen, aus unterschiedlichen Perspektiven und mit diversen Schwerpunkten immer wieder neu aufgegriffen wird. Dabei handelt es sich schon lange nicht mehr nur um die Erforschung von geografischen Grenzen – Grenzen und mit Grenzen zusammenhängende Prozesse und Phänomene werden viel breiter thematisiert. Ein populäres Konzept, das auch im Zentrum der zu besprechenden Publikation liegt, ist die „Kontaktzone“ („Contact Zone“), die Anfang der 1990er Jahre von der amerikanischen Literaturwissenschaftlerin Mary Louise Pratt in die Theoriediskussion eingeführt wurde. Der vorliegende Sammelband, zu dem Pratt auch das Vorwort geschrieben hat, geht auf die  Tagung „‚Kontaktzonenʻ und Grenzregionen. Aktuelle kulturwissenschaftliche Perspektiven“ vom November 2017 in Dresden zurück, die von den Mitarbeiterinnen des Instituts für Sächsische Geschichte und Volkskunde (ISGV), Sarah Kleinmann, Arnika Peselmann und Ira Spieker, organisiert und im Rahmen eines im ISVG durchgeführten Projektes zum Thema grenzüberschreitender Zusammenarbeit in der deutsch-polnisch-tschechischen Grenzregion veranstaltet wurde.
Allen zwölf Aufsätzen sowie der Einführung der Herausgeberinnen ist der Bezug auf das Konzept der Kontaktzone gemeinsam, das die meisten Autor*innen mit Mary Louise Pratt definieren als: „social spaces where disparate cultures meet, clash, and grapple with each other, often in highly asymmetrical relations of domination and subordination – like colonialism, slavery, or their aftermaths as they are lived out across the globe today“. [1] Zugleich bestätigen die Beiträge auch, worauf Pratt im Vorwort aufmerksam macht, dass das ursprünglich in der Literaturwissenschaft und den Postcolonial Studies verankerte Konzept rasch auch in anderen Disziplinen rezipiert, teilweise modifiziert und weiterentwickelt wurde. Der Band versammelt Texte verschiedener Human- und Sozialwissenschaftler*innen, die die Möglichkeiten und Grenzen des Konzepts Kontaktzone als Analyseinstrument überwiegend erfolgreich und meistens anhand von Fallstudien ausloten. Die Breite der thematischen Schwerpunktsetzungen ist ziemlich groß, so dass sich die Frage stellt, ob es nicht möglich gewesen wäre, die Studien in bestimmte Themenblöcke zu gliedern.
Trotz der thematischen Breite behandeln etwa zwei Drittel der Beiträge Staatsgrenzen beziehungsweise Grenzregionen, die aufgrund von staatlichen Grenzziehungen entstehen (bzw. entstanden sind). Es handelt sich um Räume, in denen es zu Kontakten und zu Konflikten kommt, um Räume, die trennen und zugleich verbinden. Ira Spieker macht in ihrem Beitrag, der als eine weitere Einführung in den Sammelband gesehen werden kann, anschaulich darauf aufmerksam, dass das Konzept der Kontaktzone in Verbindung mit den drei für die Konstituierung von Kontaktzonen wichtigsten Kategorien Raum, Macht und Übersetzung gebracht werden könne. Sie betont folgerichtig, dass Kontaktzonen nicht nur als soziales Gebilde betrachtet werden sollten, sondern auch räumlich-geografisch umschrieben werden können. Sie plädiert weiter für akteursgerichtete und praxeologische Forschungen, die sowohl Machtkonstellationen als auch Kulturtransfers analysieren.
Der Grenze/der Grenzregion widmen sich auch Dominik Gerst und Hannes Krämer, die für die Verknüpfung der Forschungen von „borders“ und „boundaries“ plädieren und nach methodologischen Implikationen der Erforschung der Grenze aus der kulturwissenschaftlichen Sicht fragen. Drei von ihnen ausgearbeitete methodologische Prinzipien illustrieren sie mit Daten aus zwei Grenzstädten (Frankfurt an der Oder und Słubice) und plädieren zum Schluss ihres Beitrags für „grenzanalytische Indifferenz“, was bedeutet, sich „von den Grenzziehungen der Akteur/innen leiten zu lassen und gegenüber der empirischen Grenzrealität keine vorgängigen Entscheidungen zu treffen“ (70). Sarah Kleinmann und Arnika Peselmann widmen sich dem deutsch-tschechisch-polnischen Grenzraum und stellen die Ergebnisse ihres die grenzüberschreitende Zusammenarbeit betreffenden Projektes vor. Dabei analysieren sie die empirischen Daten anhand der fünf Vergleichsebenen Kommunikationsformen, Konstituierung von Räumen, Wahrnehmung der Grenze und der Grenzlage, Umgang mit regionaler Geschichte des 20. Jahrhunderts und Konstruktion von Identitäten beziehungsweise Alteritäten. Dank dieses Zugangs können die Autorinnen die Heterogenität der Kontaktzonen in dem Grenzraum sehr gut aufzeigen. Was die grenzüberschreitende Kooperation betrifft, betonen sie auch die Rolle der Cultural Brokers.
Die Geschichte des 20. Jahrhunderts in Verbindung mit Grenzen und Erinnerungspraktiken steht im Mittelpunkt von zwei Studien, die das Grenzgebiet der Tschechischen Republik, das sogenannte Sudetenland, betreffen. Hana Daňková beschäftigt sich in ihrer Fallstudie mit dem Hotel „Sudety“ (Sudetenland) in Chomutov/Komotau als Kontaktzone im Sinne eines sozialen Raums, in dem Geschichte seitens des Besitzers und der deutschen und tschechischen Gäste ausgehandelt wird (bzw. ausgehandelt werden kann) und der zur Versöhnung dienen sollte. Daňková betont, das Hotel sei jedoch eher ein Beispiel für Heterotopie im Sinne von Michel Foucault. Im „Sudetenland“ bewegen sich in ihrer Studie auch Karolína Pauknerová und Jiří Woitsch. Im Zentrum ihres Interesses stehen Lehrpfade als Foren der Aushandlungen von Deutungen der Landschaft und der lokalen Geschichte. Pauknerová und Woitsch berufen sich auf die Kontaktzone als Abfolge von lokalen Aushandlungen in der Definition von Richard E. Miller. [2] Sie vergleichen zwei Versionen eines Lehrpfades in der Region Tachov/Tachau und zeigen anhand der Inhaltsanalyse der einzelnen Tafeln überzeugend, wie sich die Deutungen zwischen 2000 und 2015 verändert haben – vor allem wie die Bedeutung der Umweltqualität im Vergleich zu kontroversen Themen der lokalen Geschichte gewachsen ist.
Staatsgrenzen spielen teilweise auch in den Beiträgen von Rita Sanders und Kaleigh Bangor eine Rolle. Rita Sanders widmet sich den Beziehungen der Kaliningrader Bewohner*innen zu ihrer Stadt, die die Autorin als Ort der Begegnungen und Differenzierungen beschreibt. Die Literaturwissenschaftlerin Kaleigh Bangor konzentriert sich auf „autoethnografische Expressionen“, die unter anderem auch Pratt als ein wichtiges Thema im Rahmen der Erforschung der Kontaktzonen erwähnt. Bangor untersucht detailliert Texte von Joseph Roth aus den Jahren 1919 bis 1939, genauer die Passagen in diesen Texten, die Reisepass und andere Identifikationsdokumente thematisieren, und entwickelt einen neuen Begriff der „bureaucratic contact zone“. Diese Kontaktzone spiegelt laut Bangor den Machtkampf zwischen dem Individuum und der Staatspolitik wider.
Drei weitere Studien untersuchen die Verbindung von Kontaktzonen mit kulturellen Institutionen. Norbert Haase beschreibt die Entstehung und Arbeit des Europäischen Zentrums für Erinnerung, Bildung und Kultur/Meetingpoint Music Messiaen in Zgorzelec. Nora Sternfeld analysiert in ihrem theoretisch ausgerichteten Beitrag Gedenkstätten als agonistische Kontaktzonen. Sie geht von der Dichotomie Erinnerung versus Geschichte aus und fragt, ob (Holocaust-)Gedenkstätten „Orte konkreter kritischer Geschichtsarbeit oder widersprüchlicher Erinnerung(en) sind“ (206). Sie plädiert für die Verknüpfung der beiden Konzepte „Multidirectional Memories“ von Michael Rothberg und Dan Diners „gegenläufige Gedächtnisse“. So komme man laut Sternfeld zu „errungenen Erinnerungen“, die „weder einfach multiperspektivisch noch unverhandelbar“ sind (216). Gerade dieses „Miteinander-Lesen“ sei ein Beispiel für die Situation der Kontaktzone. Elisabeth Tietmeyer diskutiert am Beispiel des Museums Europäischer Kulturen die Anwendung partizipativer Methoden und zeigt, wie das Museum zu einer Kontaktzone wird, in der es um Macht und Deutungshoheiten geht.
Der Sammelband beinhaltet auch Texte, die Forschungsmethoden in Verbindung mit Kontaktzonen ins Zentrum setzen. Neben dem schon genannten Beitrag von Elisabeth Tietmeyer betrifft es zwei weitere Beiträge. Dorota Bazuń, Duygu Doğan und Mariusz Kwiatkowski überprüfen die Methode des explorativen Spaziergangs bei der Erforschung von Kontaktzonen, wobei sie die Grenzen der Methode am Beispiel der Galata-Brücke in Istanbul, anschaulich zeigen. Torsten Näser nähert sich dem Thema aus der Perspektive der Visuellen Anthropologie, genauer der „kameraethnografischen Begegnungen“. Er vergleicht die Empfehlungen aus Einführungen in die Methode ethnografischer Filmarbeit mit eigenen, während der Vorbereitungen eines ethnografischen Films gewonnenen Erfahrungen und zeigt, wie trotz Forderungen kollaborativer Zugänge durch „abweichende Routinen, ungleiche Arbeitsethiken sowie disparate Hierarchieverständnisse an der institutionellen Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Kunst“ (258) die Komfortzone zu einer mit allen Asymmetrien und Machtkämpfen gekennzeichneten Kontaktzone wird.
Der Sammelband zeigt nachdrücklich, dass das Konzept der Kontaktzone in Verbindung mit der Erforschung von Grenzen im breiten Sinne des Wortes, von Migration und Mobilität, interessante Forschungsresultate zutage fördern kann und dass es gewinnbringend ist, die Kontaktzone als Analyseinstrument anzuwenden. Die Einheit des Sammelbandes beruht trotz der thematischen Breite der Beiträge vor allem darin, dass das Konzept der Kontaktzone von den Autor*innen reflexiv und kritisch benutzt wurde. Das Thema Kontaktzone wurde mit dem Sammelband sicher nicht ganz erschöpft und man kann voraussetzen, dass das Konzept auch in Zukunft eine Herausforderung für Wissenschaftler*innen darstellen wird.

Anmerkungen

[1] Mary Louise Pratt: Arts of the Contact Zone. In: Profession 1991, S. 33–40, hier S. 34.

[2] Richard E. Miller: Fault Lines in the Contact Zone. In: College English. The Official Journal of the College Section National Council of Teachers of English 56 (1994), 4, S. 389–408.