Aktuelle Rezensionen
Bernd Rieken (Hg.)
Angst in der Katastrophenforschung. Interdisziplinäre Zugänge
(Psychotherapiewissenschaft in Forschung, Profession und Kultur 27), Münster/New York 2019, Waxmann, 207 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-8309-4090-6
Rezensiert von Sandro Ratt
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 02.09.2021
Die kultur- und sozialwissenschaftlich ausgerichtete Katastrophenforschung hat dem Thema „Angst“ bislang weniger Aufmerksamkeit gewidmet, als man zunächst vermuten würde. Nur selten werden existentielle Ängste (prä-)katastrophischer Erfahrungen explizit analysiert, nur vereinzelt wird ihren komplex verflochtenen Ursachen und Folgen detailliert nachgegangen. Der von Bernd Rieken herausgegebene Sammelband möchte hierauf reagieren. Er basiert auf einer Tagung zum Thema „Angst in der Katastrophenforschung“, die – als Gemeinschaftsprojekt des Katastrophennetzwerks (KatNet) und des Instituts für psychoanalytisch-ethnologische Katastrophenforschung der Sigmund Freud PrivatUniversität Wien – im Juni 2018 stattgefunden hat. In drei übergeordneten, nach Disziplinen gegliederten Abschnitten versammelt der Band einen Großteil der dort gehaltenen Vorträge, deren gemeinsame Intention darin bestand, „sich einmal etwas genauer das Phänomen Angst in der Katastrophenforschung anzuschauen“ (10).
Nachdem zunächst in einer Einleitung des Herausgebers der allgemeine und spezifische Entstehungskontext des Bandes umrissen wird, folgen im Rahmen des ersten Abschnitts die Beiträge aus der Europäischen Ethnologie und der Zukunftsforschung: Bernd Rieken skizziert in seinem Aufsatz verschiedene Facetten des europäischen Naturverständnisses seit dem Mittelalter und veranschaulicht, dass hierbei sowohl die Nähe als auch die Distanz zur Natur in dialektischen Wechselbezügen zu tiefgreifenden Ängsten stehen. Im darauf folgenden Beitrag geht Reinhold Popp auf die Zusammenhänge zwischen (unbewussten) Zukunftsängsten und den jeweiligen Methoden des „Zukunftsdenkens“ beziehungsweise der „Zukunftsforschung“ ein und konkretisiert diese Überlegungen anhand einer schematischen Darstellung verschiedener – religiös, magisch oder technisch-naturwissenschaftlich ausgerichteter – Formen der angstreduzierenden Katastrophenprophylaxe. Am Beispiel der Müglitztalflut, die sich im Sommer 2002 ereignet hat, wendet sich Michael Simon im dritten Artikel schließlich spätmodernen Katastrophenängsten zu. Er erörtert insbesondere, welche Bedeutung die mediale Berichterstattung im Verlauf einer Katastrophe für die einzelnen Betroffenen haben kann, und verdeutlicht, dass sich hierbei sowohl angstschürende als auch angstbewältigende Effekte beobachten lassen.
Im zweiten Abschnitt des Bandes folgen fünf Beiträge aus der psychoanalytisch-ethnologisch perspektivierten Katastrophenforschung, die auf empirischen Untersuchungen sehr unterschiedlicher Fälle und Kontexte basieren. Während sich Nina Arbesser-Rastburg mit der Verarbeitung von erdbebenevozierten Ängsten in Los Angeles befasst, untersucht Jacqueline Marilyn Vessely, wie Augenzeugen, Helfer und Hinterbliebene nach dem Absturz einer Swissair-Maschine, der sich 1963 im schweizerischen Dürrenäsch zugetragen hat, mit der traumatisierenden Katastrophenerfahrung umgegangen sind. Brigitte Strohmeier analysiert in ihrer Untersuchung die individuellen und kollektiven Bewältigungsstrategien der Betroffenen nach dem Grubenunglück, das sich 1998 im österreichischen Lassing ereignete, richtet den analytischen Fokus ihres Beitrags aber insbesondere auch auf Ängste, die sie in den einzelnen Phasen des Forschungsprozesses an sich selbst wahrgenommen hat. Bernd Rieken rekonstruiert autoethnografisch, welche Folgen sein Erleben der Nordseesturmflut vom Februar 1962 hatte, veranschaulicht hierbei Korrespondenzen zwischen individuellem und kulturellem Gedächtnis und erörtert vor diesem Hintergrund, inwieweit die eigenen Sturmfluterfahrungen überindividuell verallgemeinerbare Aussagen zulassen. Mit der Erfahrung von Nordseesturmfluten befasst sich auch Anna Jank. Anhand der Beispiele „Halligen“ und „Festland“ beleuchtet sie deren positionsspezifische Variabilität und berücksichtigt dabei, ob und inwiefern diese wiederkehrenden Ereignisse in die jeweiligen Alltagsordnungen der Betroffenen integriert sind.
Der dritte Abschnitt versammelt schließlich drei sozialwissenschaftlich ausgerichtete Beiträge. Sandra Maria Pfister verdeutlicht im ersten Beitrag, dass Katastrophenängste stets auch als sozial konstituierte Phänomene verstanden werden müssen. Sie bezieht sich in ihrer Argumentation auf Max Dehnes dynamisches Modell der Angst und zeigt schließlich, dass die Gestalt und das Ausmaß von Katastrophenängsten in hohem Maße von den jeweils verhandelten Deutungsmustern geprägt sind. Vor dem Hintergrund des vielfältigen Gefahrenpotentials von Großveranstaltungen befassen sich Malte Schönefeld und Patricia Schütte in ihrem Aufsatz mit den Sicherungsstrategien von Sicherheits- und Veranstaltungsordnungsdiensten. Im Fokus stehen dabei insbesondere Aspekte – wie Sichtbarkeit, Auftreten oder Handlungskompetenz –, die sich im subjektiven Sicherheitsempfinden der Veranstaltungsbesucher und -besucherinnen niederschlagen. Im dritten Beitrag präsentiert eine zehnköpfige Autor*innengruppe aus dem Umkreis der Berliner Katastrophenforschungsstelle einige Ergebnisse einer explorativen Studie zum Thema „Angst vor Katastrophen“. Die hierbei vollzogene Sekundärauswertung von quantitativen Daten aus verschiedenen katastrophensoziologischen Forschungsprojekten ergab weiterführende Hinweise darauf, welche Faktoren die Katastrophenangst und -vorsorge verschiedener Bevölkerungsgruppen beeinflussen, und verdeutlichte generell, dass die Angst vor potentiellen Katastrophen im alltäglichen Lebensvollzug der Befragten zumeist nur eine marginale Rolle spielt.
Im Anschluss an die disziplinspezifischen Abschnitte des Bandes findet sich am Ende die Transkription einer interdisziplinären Abschlussdiskussion. Thematisch reichen die hierbei berührten Aspekte von philosophisch-anthropologisch geprägten Überlegungen hinsichtlich der gemeinsamen Ursprünge ereignis- und prozessinduzierter Katastrophenängste über Erörterungen zur Dialektik des technisch-naturwissenschaftlichen Fortschritts und damit verknüpften Transformationen der Katastrophenbewältigung bis zu einem Plädoyer für die Erweiterung gegenwärtiger Präventionsoptionen durch eine forcierte wissenschaftliche Auseinandersetzung mit (drohenden) Zukunftsfragen.
Der Tagungsband behandelt ein hoch relevantes Thema und versammelt dabei ein breites Spektrum an aufschlussreichen Perspektiven und Zugängen. In manchen der Beiträge hätten die jeweiligen Bezüge zum gemeinsamen Gegenstand vielleicht noch etwas deutlicher herausgearbeitet und analysiert werden können. An diesen Stellen wäre insbesondere eine explizitere Arbeit an den zentralen Begriffen des Bandes interessant gewesen. Zudem hätte am Ende die Frage nach den epistemologischen und gegenstandsbezogenen Ergebnissen des interdisziplinären Austauschs noch eine etwas stärkere Berücksichtigung finden können. Gleichwohl vermittelt der Band im Gesamten einen sehr überzeugenden und überaus anregenden Einblick in die vielschichtigen Facetten dieses nachhaltig aktuellen Themenfeldes.