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Moritz Buchner
Warum weinen? Eine Geschichte des Trauerns im liberalen Italien (1850–1915)
(Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom 135), Berlin/Boston 2018, De Gruyter, VIII, 358 Seiten mit 19 Abbildungen, ISBN 978-3-11-059565-9
Rezensiert von Jane Redlin
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 02.09.2021
Der Titel der Publikation ist gut gewählt, verweist er doch auf die grundlegenden Aspekte der vorliegenden Arbeit, bei der es um die Abbildfunktion und den Wandel von Emotionen im Kontext von Tod und Trauer geht. Das Buch von Moritz Buchner ist das Ergebnis seiner wissenschaftlichen Forschungen im Rahmen eines Dissertationsstipendiums am Sonderforschungsbereich Geschichte der Gefühle am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung Berlin. Eingebettet in das Forschungsprofil dieses Instituts stellt er die Gefühle im Kontext von Trauer und Trauerritualen ins Zentrum seines Forschungsinteresses. Es geht um Trauerpraktiken und deren Infragestellung. Vor allem aber geht es, und das wird gleich in der Einleitung breit dargelegt, um die Darstellung der Historizität von Emotionen und Ritualen. In dieser Konzentration auf Trauer als Gefühl und auf den Umgang mit diesen Emotionen liegt das Neue und das Besondere dieser Arbeit.
Spezifisch betrachtet der Autor hierzu die Situation im liberalen Italien ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges, der mit dem massenhaften Sterben eine neue Dimension des Trauerns eröffnete. Er untersucht damit einen Zeitraum, der für Italien von der endgültigen Etablierung des Nationalstaates durch die neuen politischen Eliten geprägt ist. Die damit verbundene Veränderung des Trauerverhaltens im Kontext von Sterben und Tod bildet dabei auf der Mikroebene das ab, was auf der Makroebene der Gesellschaft geschieht. Trauergefühle werden hier zu beobachtbaren Praktiken eines veränderten sozialen Habitus. Moritz Buchner formuliert sein spezielles Forschungsinteresse und seinen Forschungsschwerpunkt einleitend wie folgt: „Anders als der größte Teil der bisherigen Forschung befasst sich die vorliegende Arbeit nicht ausschließlich mit der kulturellen Normierung und der historischen Variabilität des Umgangs mit dem Tod. Sie versteht sich zu allererst als eine die Trauerpraktiken in den Blick nehmende Geschichtsschreibung der Gefühle.“ (21)
Emotionswandel im Kontext von Nationswerdungsprozessen – von hier aus denkt Moritz Buchner, von hier aus erhebt, befragt, analysiert und ordnet er das empirische Material. Dabei kommt er zu dem Schluss, dass die neuen Eliten in Italien – das Bürgertum und der liberale Adel – im Zusammenhang mit Konsolidierungsprozessen der Nationenbildung und des Säkularisierungsprozesses neue Formen der Trauerdarstellung entwickeln, um dem angestrebten und vollzogenen gesellschaftlichen Wandel eine adäquate Gestalt zu geben. Diese Trägergruppen tun dies logischerweise in Abgrenzung zu traditionellen Trauerritualen und einem Trauerverhalten, das von ihnen als überkommen und als Ausdruck eines zu überwindenden Zustands der Gesellschaft gewertet wird. Exemplarisch dafür stehen die Trauerrituale des südlichen Italien mit den für sie signifikanten Klageweibern. Dass dabei insbesondere die expressive öffentliche Darstellung von Trauer in den Fokus der Kritik gerät, liegt nahe, ist die Idee des modernen Nationalstaats im Kontext der Aufklärung doch auch mit der Idee von Rationalität und Emotionskontrolle verbunden. Dafür spannt der Autor das Netz seiner Quellenerhebung und Thesenbildung sowie die Strukturierung seiner Darstellungen und Auswertungen zwischen zwei Säulen – Trauer als Emotion und Trauer als Habitus.
Die Untersuchung bewegt sich damit primär im Milieu der Mittel- und Oberschichten Italiens. Ihr wird die „cultura popolare“ gegenübergestellt, mit ihren vor allem im Süden Italiens noch praktizierten Traditionen. Deren Darstellung und Bewertung erfolgt ausschließlich im Rahmen der Abgrenzungsbemühungen der neuen Eliten, deren diesbezügliche Intention der Autor transparent macht. Aber auch Beispiele proletarischer Trauer- und Protestkultur blitzen auf, etwa wenn es um die Beisetzung des bei der Arbeit verunglückten Maurers Cesare Premucci geht. Moritz Buchner interpretiert sie entsprechend seines Fokus primär als ein Phänomen der Massendynamik und Massenpsychologie, denn als eine Möglichkeit der politischen Besetzung öffentlicher Räume, wie es vielleicht der Ethnologe Wolfgang Kaschuba getan hätte.
Für seine Untersuchung nutzt Buchner eine beachtliche Breite an Quellen, die einen guten Teil des Reichtums dieser Arbeit ausmachen. Besonders hervorzuheben sind neben den gedruckten Primärquellen aus dieser Zeit, wie Forschungsliteratur zur „cultura popolare“, Lexika, Zeitungen und Zeitschriften, insbesondere die privaten Quellen, die von ihm zahlreich in den Archiven in Bologna, Florenz, Rom und Neapel erhoben wurden. Die dort gesichteten Materialien – Testamente, Briefe und Tagebücher – geben einen nachhaltigen Einblick in die private Sphäre der Trauer in dieser Zeit. Durch die Lektüre und Analyse dieser sehr persönlichen Zeugnisse gelingt es Buchner, eine Innenschau der Emotionalitäten im Trauerfall zu rekonstruieren und aus ihnen den neuen Verhaltenskodex des modernen Bürgers herauszuarbeiten. Moritz Buchner liest sie als Belege des Rückzugs von Trauer in die Sphäre des Privaten, nicht als ihr Verschwinden, wie von Philipp Ariès postuliert. Er weist vielmehr nach, dass sich lediglich das Gesicht der Trauer verändert hat, dass sie möglicherweise sogar an Intensität gewinnen konnte. Dies sieht er zum Beispiel durch die Authentizität der nach innen gekehrten Gefühle angezeigt, die in den Kontrast zur öffentlichen Funktion der Klageweiber gestellt werden, wie sie in der volkskundlichen Literatur dieser Zeit beschrieben werden.
Buchner gliedert sein Material in fünf Kapitel. Dabei orientiert er sich unter anderem an grundlegenden Parametern der Forschung zur Sepulkralkultur. Zunächst beschäftigt er sich mit der zunehmenden Rationalisierung des Todes im Prozess der Moderne im ausgewählten zeitlichen, lokalen und sozialen Untersuchungsraum. Diesen Erneuerungsprozess spiegelt er in den noch existenten traditionellen Trauerformen im Süden des Landes. Dabei stellt er den Begriff der Rationalität dem Begriff des Aberglaubens gegenüber. Im zweiten Kapitel schenkt er den emotionalen Aspekten von Trauer und ihrem Formenwandel hin zu „wahren Gefühlen“ (80) in Abhängigkeit eines neuen Sozialisierungsmodels und von Nationalisierungsbestrebungen besondere Aufmerksamkeit. Im dritten Kapitel beleuchtet er die Dynamiken des Umgangs mit Tod und Trauer auf zwei weiteren zentralen Bezugsebenen: erstens auf der Ebene der Religion, die in Italien primär katholisch geprägt ist, und zweitens auf der Ebene der Nation, für die „das Vaterland“ als eine zentrale Begriffskategorie steht.
Im vierten Kapitel wendet sich der Autor dann noch einmal ganz explizit und breit den Gefühlen zu. Er analysiert hier Trauergefühle nicht nur in ihrer elementaren Bedeutung für die menschliche Psyche, sondern legt ihre Veränderbarkeit in Abhängigkeit gesellschaftlicher Veränderungen dar. In diesem Sinne zeichnet er ihren sich verändernden Charakter in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als ein Ergebnis neuer Wertvorstellungen und gesetzter Verhaltensnormen nach, die Abbild der Selbstfindung und der Selbstdarstellung der neuen Eliten Italiens sind. Dabei verliert er wichtige Tatsachen wie die Diskrepanz zwischen gesetzten Erwartungen und individuellen Befindlichkeiten, zwischen privater und öffentlicher Sphäre nicht aus dem Auge. Im abschließenden Kapitel „Topografien der Trauer“ verknüpft Buchner schließlich die gewonnenen Erkenntnisse mit den realen Orten, an denen sich Trauer manifestiert, wo sie als Emotion gelebt und inszeniert wird. Sie reichen vom privaten Raum der Wohnung bis zum öffentlichen Raum des Friedhofs.
In der Fokussierung auf die Gefühle in ihrer Abhängigkeit und ihrer Abbildfunktion historischer Veränderungen liegt meines Erachtens die besondere Stärke der vorliegenden Publikation. Besonders beachtenswert sind dabei die Intensität und Breite der neu erhobenen archivalischen Quellen, die intensive und tiefe Einblicke in die individuelle Psyche der Trauernden zulassen. Unbedingt hervorzuheben ist die sprachliche Qualität der publizierten Arbeit. Analytische Darlegungen, Spannungsbögen und illustrierende Beispiele verbinden sich organisch und scheinbar mühelos. So kann der Leser fließend und leicht, ja teilweise unterhaltsam, dem fachwissenschaftlichen Text folgen. Dies macht die Lektüre sicherlich auch für eine breitere Leserschaft interessant und zugänglich. Sie wird am wenigsten die Schwächen monieren, die sich punktuell im theoretischen Bereich, insbesondere der Kulturanthropologie/Ethnologie, zeigen. Dies gilt etwa bei der Verwendung nicht mehr zeitgemäßer Fachtermini wie Brauch und Brauchtum. Hier ist es dem Autor in den ausführenden Texten nicht gelungen, die Sprache der historischen Quellen in die heutige Fachterminologie von Ritual und Symbolpraxis zu transformieren, was möglicherweise im Zusammenhang mit der Tatsache steht, dass Moritz Buchner zwar auf wichtige Theoretiker der Ethnologie wie Arnold van Gennep verweist, nachfolgende theoretische Arbeiten in diesem Feld aber nicht konsequent bis in die Gegenwart weiterverfolgt. Dies mag seiner starken theoretischen Fokussierung auf die Emotionen geschuldet sein.
Wünschenswert wäre auch die partielle Einbettung der Forschungsergebnisse in parallele Entwicklungen in Europa gewesen, um das italienische Beispiel historisch besser werten zu können. Für einen solchen ausstehenden europäischen Vergleich werden die Untersuchungsergebnisse von Moritz Buchner aber mit Sicherheit eine gute Grundlage bieten. Trotz dieser ungenutzten Potenziale ist „Warum weinen“ eine interessante, erhellende und fundierte Arbeit, mit der es dem Autor gelungen ist, auf anschauliche Weise den Zusammenhang zwischen Identitätsprozessen, sozialem Wandel und Trauer anhand einer Fülle neuen empirischen Materials darzustellen. Mit ihr schließt Moritz Buchner eine Lücke zum Thema Trauern in der deutschsprachigen Forschung zur Kulturgeschichte der Gefühle, der Sepulkralkultur und der Nationenbildung.