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Jan Hinrichsen
Unsicheres Ordnen. Lawinenabwehr, Galtür 1884–2014
(Bedrohte Ordnungen 14), Tübingen 2020, Mohr Siebeck, XI, 305 Seiten, ISBN 978-3-16-159034-4
Rezensiert von Bernd Rieken
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 09.09.2021
Am 23. Februar 1999 stürzte eine Lawine auf Galtür nieder, riss 31 Menschen in den Tod, darunter sechs Einheimische, und zerstörte Ortsteile, die in der „grünen Zone“ lagen und bis dahin als sicher galten. Damit wurden bisherige Ordnungs-Vorstellungen in Frage gestellt, und an diesem Punkt setzt Jan Hinrichsen mit seiner Dissertation an, indem er sich fragt, wie „sich die Katastrophe begreifen [lässt] als wesenhaft in kulturelle Bedeutungs- und Ordnungssysteme eingebetteter und von diesen konstituierter Prozess und zugleich als materielles Ereignis“ (7).
Im ersten Teil befasst er sich mit dem Verhältnis von Katastrophen und Kultur(wissenschaft), im zweiten mit der Forschungsgeschichte, etwa mit Geografie, Soziologie und vor allem Europäischer Ethnologie, dabei allerdings nicht die Habilitationsschrift von Andreas Schmidt erwähnend, obwohl es sich dabei um die erste größere Arbeit zu dem Themenkomplex handelt.
Der dritte Abschnitt trägt den Titel „Assemblages: Zur Materialität und Kontingenz von Ordnungen“, worunter, Bezug nehmend auf Paul Rabinow, „eine experimentelle Matrix“ zu verstehen sei, die „als dynamisches und ephemeres Dispositiv konzipiert [ist], die sich als kleinräumige, kurzlebige Problematisierungen problematischen Situationen annimmt und ihnen eine denkbare Form gibt“ (260) – einfacher formuliert: Assemblages sind eine Art Gefüge, bei dem nicht Gleichartiges versammelt ist, sondern verschiedene Objekte miteinander kombiniert werden, die in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen beziehungsweise stehen können.
Der vierte und der fünfte Teil sind historisch angelegt und beruhen zum großen Teil auf Archivmaterial; ersterer befasst sich mit Sicherheitstechnologien von 1884 bis zur Katastrophe von 1999, der andere mit der Zeit danach, übertitelt mit „Ordnungen der Unsicherheit“, denn nach dem Desaster habe sich einiges verändert: Einerseits sei man davon abgekommen, Lawinenabgänge in Siedlungsgebieten vollständig verhindern zu wollen, um die Aufmerksamkeit „auf die Regierbarkeit potentieller Unsicherheit während bzw. nach ihrer Aktualisierung (Technologien der Vorbereitung)“ zu lenken (269). Andererseits – und das ist für Ethnolog*innen besonders interessant – gehe es nun verstärkt um kulturell begründete Bewältigungsstrategien, die unter anderem auf lokales Wissen zurückgreifen würden und zu akzeptieren bereit seien, dass das „Leben am Berg“ prinzipiell unbeherrschbar sei und man damit leben müsse (271).
Der Verfasser begreift die Europäische Ethnologie unter anderem als „Ordnungswissenschaft“ (76), wobei er explizit auf Leopold Schmidts Definition der Volkskunde als „Wissenschaft vom Leben in überlieferten Ordnungen“ zurückgreift (9) – angereichert natürlich mit neuerer Literatur etwa von Andreas Reckwitz, Armin Nassehi, Greg Bankoff oder Ulrich Beck. Hinrichsens Ziel ist es dabei, die Lawinenkatastrophe als ein Phänomen zu verstehen, welches aus jenen Wissensordnungen hervorgeht, die sie zugleich in Frage stellt. Insofern sei sie „als wesenhaft in kulturelle Bedeutungs- und Ordnungssysteme“ eingebettet zu denken, nämlich als eine Situation bedrohter Ordnung (7).
Die Arbeit ist vorwiegend deduktiv angelegt und historisch orientiert, wobei die relativ wenigen Interviews, die Hinrichsen mit Einheimischen geführt hat, im Verlauf seiner Ausführungen keine allzu große Rolle spielen. Das ist nicht als Kritik gemeint, sondern nur als Hinweis darauf, dass es sich nicht primär um eine empirische Arbeit handelt, in der Gespräche mit Betroffenen die Hauptgrundlage bilden würden. Allerdings überrascht es, dass der Autor, der viel Wert auf theoretische Fundierung legt, den für ihn bedeutsamen Begriff „Wesen“ (der Katastrophe) nicht näher umschreibt und sich auch nicht mit der diesbezüglichen Diskussion in der Philosophie befasst, die dafür hautsächlich zuständig ist und ihn traditionellerweise als das Bleibende gegenüber dem Veränderlichen versteht, aber heutzutage, wegen des Fokusʼ auf dem Statischen, weniger unbefangen damit umgeht.
Wie dem auch sei: Zum „Wesen“ der Katastrophe zählt für den Autor, dass es sich um „prozesshafte Ereignisse“ handele, die eingebettet seien in „soziale, politische, ökonomische und kulturelle Kontexte“ und „ausschließlich innerhalb dieser Kontexte beschreibbar und verstehbar“ seien (5). Aus der Perspektive des Rezensenten klingt das etwas dogmatisch, denn genauso könnte man psychologische Kontexte anführen, weil hinter dem Bestreben, Ordnung zu schaffen, eine Angst steht, nämlich die vor Unsicherheit. Und die Frage, wie man mit Angst umgeht, wird nun einmal hauptsächlich in der Psychologie gestellt, und es ist nicht nur eine kulturelle, sondern auch eine psychische Leistung, beispielsweise zu akzeptieren, dass Ordnungen bedroht sind und man mit Unsicherheit zu leben hat. Doch die Psychologie dürfte Hinrichsens Sache nicht sein, heißt es doch im Überblick zur vorhandenen Literatur, für seine Arbeit seien „besonders wichtig […] die Arbeiten von Bernd Rieken zur Lawinenkatastrophe von Galtür, die jedoch maßgeblich aus einer Kombination kulturwissenschaftlicher und psychoanalytischer Methodologie heraus argumentieren“ (41). Das „jedoch“ zeigt eine Distanzierung an, die sich auf die Psychoanalyse beziehen dürfte, denn anscheinend ist die Europäische Ethnologie „reinzuhalten“ von derartigen Einflüssen. Betrachtet man nämlich wissenschaftliche Institute ethnologisch, weisen sie durchaus einige Ähnlichkeiten mit archaischen Institutionen auf, über deren Ältestenräte Klaus E. Müller (in: Die gespenstische Ordnung. Psi im Getriebe der Wissenschaft. Frankfurt am Main 2002, S. 108) schreibt, ihr Bezugsfundament bilde der Grundsatz, „dass jenseits der eigenen Regelwelt ‚unreine‘, verkehrte, barbarische, ja akosmisch-chaotische Verhältnisse herrschen, mit denen sich einzulassen nur Unglück, Krankheit und Tod bringen kann“.
Jedenfalls wirken manche Passagen bei Hinrichsen so, als wolle er das emotionale Element möglichst nicht zum Vorschein kommen lassen. Beispielsweise heißt es an einer Stelle: „Die Verwundbarkeit von Ordnungen bedingt ihre andauernde Neuverhandlung.“ (277) Das klingt ziemlich rationalisierend und wirkt aus psychologischer Perspektive äußerst blass, denn im Begriff „Neuverhandlung“ schimmert nichts durch von den Emotionen, mit denen man konfrontiert ist, wenn man existentielle Angst aufgrund einer Katastrophe erlebt. Ähnlich verhalten klingt ferner der Satz: „Je mehr die Sicherheitstechnologien arbeiten, umso unabhängiger werden die Lawinen, denn sie sind jetzt um so vieles artikulierter.“ (261) Bei einem Lawinenabgang, der – ich traue es mich fast gar nicht zu sagen – den Gesetzen der Physik folgt, ungeheures Leid über die Menschen bringen und arge Verwüstungen anrichten kann, von „Artikulation“ zu sprechen, halte ich für verfehlt, auch wenn sich Hinrichsen dabei auf Bruno Latour bezieht (261 f., Fußnote 845).
Außerdem glaube ich nicht, dass Ordnungen dauernd neu verhandelt werden müssten und dass die Sorge um sie das Alpha und das Omega wären. Etwas pointiert und nicht ganz ernst, aber cum grano salis gemeint, würde ich, zumal aus österreichischer Perspektive, formulieren: Auf diese Idee kann nur ein Deutscher kommen! Um aber sachlich zu bleiben: Manchmal passiert Generationen lang überhaupt nichts oder nicht viel. In Galtür war der Ortskern mehr als 300 Jahre lang sicher, und an der Nordseeküste hat zwischen 1825 und 1962 keine desaströse Sturmflut stattgefunden. Das heißt, über mehrere, teilweise sogar viele Generationen war es gar nicht notwendig, sich mit Fragen der Ordnung im Verständnis von Hinrichsen zu befassen. Zumindest gilt das für die Vergangenheit; was der Klimawandel für das Hochgebirge und die Küste bedeutet, wissen wir allerdings noch nicht genau.
Und insofern hat der Autor Recht: Vor allem der Klimawandel nötigt uns dazu, über die „Verwundbarkeit von Ordnungen“ nachzudenken. Überhaupt sollen die kritischen Anmerkungen nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich bei seiner Arbeit um eine wirkliche Bereicherung der ethnologischen Katastrophenforschung handelt: Desaster aus der Perspektive der Dynamik zwischen dem Streben nach Ordnung und der In-Frage-Stellung derselben, zwischen Sicherheit und Unsicherheit, grundsätzlich zu beleuchten, ist neu und lohnenswert, zumal das Thema Sicherheit im Allgemeinen in der Europäischen Ethnologie bisher nur selten behandelt wurde: vor geraumer Zeit von Konrad Köstlin in seiner Dissertation „Sicherheit im Volksleben“ (1967) und kürzlich von Katharina Eisch-Angus in ihrer Habilitationsschrift „Absurde Angst – Narrationen der Sicherheitsgesellschaft“ (2018).