Aktuelle Rezensionen
Alessandro Testa/Cyril Isnart (Hg.)
Re-enchantment, Ritualization, Heritage-making. Processes Reconfiguring Tradition in Europe
(Ethnologia Europaea 50,1), Copenhagen 2020, Museum Tusculanum Press, 175 Seiten, ISSN 0425-4597
Rezensiert von Ana Luleva
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 27.09.2021
In Europa nehmen „Traditionen“ als Thema seit Beginn der Europäischen Ethnologie als Wissenschaft eine zentrale Stellung ein. Zugleich ist das Thema wegen der Lebendigkeit der als traditionell definierten kulturellen Praktiken, die sich dennoch transformieren, rekonfigurieren und in der gegenwärtigen Alltagskultur der Europäer bedeutend sind, höchst aktuell. Zweifellos findet in Europa auch ein Prozess der Hinwendung zur Vergangenheit statt mit einer Wiederbelebung von lokalen Traditionen (Re-Traditionalisierung). In Reaktion darauf nehmen ethnografische Studien zu, die hierzu forschen. Empirisches Material wird im Kontext verschiedener theoretischer Paradigmen und Ansätze analysiert, wie „Invention of Tradition“ (Eric Hobsbawm), „Revitalization“ (Jeremy Boissevain) oder „Structural Nostalgia“ (Michael Herzfeld), mit Fokus auch auf die politische Nutzung von Traditionen durch lokale und nationale Akteure. Im Kontext des „heritage boom“, gefördert durch die Politik des Immateriellen Kulturerbes der UNESCO, werden lokale Praktiken aus emischer Perspektive überdacht und valorisiert und bekommen neue Impulse für eine Revitalisierung und (Re-)Ritualisierung. „Traditionen“ standen auch auf dem Programm des 13. Kongresses der „International Society for Ethnology and Folklore“ (SIEF), der im März 2017 in Göttingen stattfand, und waren leitend für das Panel „Re-enchantment, Ritualization, Heritage-making: Processes of Tradition Reconfiguration in Europe. Historical and Ethnographic Examples“, organisiert von Alessandro Testa und Cyril Isnart. Die fruchtbaren Diskussionen dieses Forums gaben beiden Organisatoren den Anstoß, einen thematischen Teil mit demselben Titel im Heft 50 der Zeitschrift „Ethnologia Europaea“ zu veröffentlichen, die von der SIEF und dem „Nordic Board for Periodicals in the Humanities and Social Sciences“ (NOP-HS) herausgegeben wird.
Die zugehörigen sechs Beiträge sind dem Prozess der Neukonfiguration von Traditionen in Europa gewidmet und werden durch das Prisma der drei parallelen und sich ergänzenden Prozesse „Ritualization“, „Re-enchantment“ und „Heritage-making“ betrachtet. Die ethnografischen Studien der beiden Herausgeber bieten eine empirische Grundlage für die Theoretisierung, in dem sie die anthropologische/ethnologische Erforschung von Traditionen mit der Religions-Anthropologie und den Critical Heritage Studies verbinden. Sie dienen als Ausgangspunkt der Diskussion darüber, die Notwendigkeit von makrosozialen Theorien neu zu überdenken, wie beispielweise Modernisierungs- und Säkularisierungstheorien. In ihrem Leitartikel „Reconfiguring Tradition(s) in Europe“ betonen Testa und Isnart, das kritische wissenschaftliche Interesse für Traditionen, insbesondere für solche, die in der Peripherie der europäischen postindustriellen neoliberalen Welt praktiziert werden, sei mit dem „reflexive turn“ in der Anthropologie/Ethnologie verbunden. Mit dem Dekonstruktivismus richtete sich das wissenschaftliche Interesse auf Tradition, Religion und Kultur. Ziel dieser Ausgabe ist es, die bestehenden theoretischen Paradigmen und Diskussionen über die aktiven europäischen Traditionen mittels der drei genannten Konzepte zu problematisieren. Auch wenn viele der bisher verwendeten Theorien ihre Erklärungskraft noch nicht verloren hätten, würden sie nicht ausreichen, um die Erfahrungen der sozialen Akteure, die in den als traditionell definierten Praktiken agieren, zu analysieren. Zum Beispiel werde der emotionale Aspekt als wichtiger Teil von menschlicher Weltanschauung und -wahrnehmung nicht ausreichend thematisiert (8).
Die drei genannten Konzepte helfen die Dimensionen, Erfahrungen und Emotionen im gesellschaftlichen Leben von Traditionen besser zu beleuchten. Das Konzept „Re-enchantment“ (Wiederverzauberung) wird im Kontext der jüngsten Entwicklungen im religiösen Leben in Europa begründet. Es zeigt sich, dass die Modernisierung nicht eindeutig zur Säkularisierung und zum Verschwinden der Religiosität aus dem öffentlichen Leben führte. In diesem Sinne solle Max Webers These über die Entzauberung als prägendes Merkmal des modernen Lebens überdacht und relativiert werden, da Zeichen der Wiederverzauberung sichtbar sind und sich unterschiedlich manifestieren, auch in der Wiederbelebung von Traditionen und Kirche in säkularisierten Gesellschaften. Nach Isnart und Testa wird das Verhältnis von Religion (im Sinne der „vernacular folk religion“) und Tradition durch das Konzept Re-enchantment in seiner dialektischen Verbindung mit dem Wunsch nach „De-enchantment“ offenbar. Diese These kann sich fruchtbar erweisen, um die gegenwärtigen vernakulären religiösen Praktiken und religiösen Traditionen, nicht nur in Europa, zu überdenken und zur Anthropologie der Religion beitragen. Das Konzept „Ritualisierung“ setzt Debatten über den Ort des Rituals im gesellschaftlichen Leben fort, die von Sozialanthropologen der Manchester School begonnen wurden. Isnart und Testa erachten Ritualisierung als nützliches Werkzeug für die Analyse des Übergangs vom Nicht-Rituellen zu einem Ritual oder wenn eine Re-Ritualisierung stattfindet. Ritualisierung bezeichnet „that process, by means of which a given practice acquires new forms, social meanings, and/or functions of the basis of performative actions resulting in its structuring formalization, but also in the entanglement with the emotional sphere of the social agents involved“ (11). Im dritten Konzept, dem „Heritage-making“, geht es darum, dass moderne Traditionen in den Prozess der „heritagization“ eingebettet seien, der ihnen Wert verleihe und sie in politischen und ideologischen Diskursen, Hierarchien und bürokratischen Verfahren verankere. Darüber hinaus ist Heritage-mаking nicht nur eine Möglichkeit, traditionelle Inhalte zu transformieren und umzugestalten, sondern auch eine Gelegenheit für die Menschen, ihre eigenen Mittel und Verfahren auf der Grundlage dessen zu schaffen, was sie für wertvoll erachten. Kritische Studien zum „kulturellen Erbe“ zeigen die Auswirkungen des universalisierenden Diskurses der UNESCO-Konvention auf lokaler und nationaler Ebene (Effekte, die auch in den Artikeln dieser Ausgabe diskutiert werden). Ziel der Autoren ist es, über auf der emischen Ebene sehr wirksame Dichotomien wie Institutionen – Menschen, offiziell – informell, Erbe – Alltag, Tourismus – regional, Authentizität – Fälschung hinauszugehen und zu zeigen, wie Traditionen transformiert werden, wer die treibenden Akteure sind und wie sich Institutionen, soziale Netzwerke usw. beteiligen.
Die genannten Konzepte werden in den darauffolgenden Artikeln diskutiert. Alessandro Testa synthetisiert in „Intertwining Processes of Reconfiguring Tradition. Three European Case Studies“ Ergebnisse aus seinen Karnevalstudien der letzten zehn Jahre in drei verschiedenen europäischen Regionen: in Castelnuovo al Volturno (im Apennin/Italien), in Hlinsko (Böhmen/Tschechische Republik) und in Solsona (Zentralkatalonien/Spanien). Bei allen drei Karnevalsfesten entdeckte er magische und pseudomagische Handlungen, die erfunden, wieder erfunden und nachgespielt (re-enacted) wurden. Er definiert die konstruierten „Cultural Scapes“ (in Anlehnung an Appadurai) als Manifestationen einer Art „global-local vernacular religiosity“ (24), die mit dem „popular Frazerism“-Model (27) verbunden sind. In allen drei Fällen, so der Autor, kann von Prozessen der Traditionalisierung und Re-Traditionalisierung gesprochen werden, die das Bedürfnis der Gemeinschaften zur Schaffung eines Gemeinschaftssinnes für Zeit und Geschichtsschreibung beweist, ohne dass dieser sich zwingend mit der Ethik des offiziellen historischen und politischen Diskurses verbindet. Testa kommt zu dem Schluss, der auch für andere kleine Randgemeinschaften in Europa gelten könnte: In ihrem Streben nach Sichtbarkeit und Bewahrung ihrer Identität nutzen lokale Gemeinschaften ihre lokalen Traditionen als hochkulturellen Kitt (glue), manchmal als Rechtfertigung (raison d’être) und oft auch als Reaktion auf destruktive, gesellschaftliche Veränderungen sowie eine materielle und kulturelle Enteignung (dispossession) (33), die durch die Prozesse der Spätmoderne ausgelöst wurden.
Cyril Isnart analysiert in „The Enchantment of Local Religion. Tangling Cultural Heritage, Tradition and Religion in Southern Europe“ die Wechselwirkungen zwischen traditionellen und religiösen Ereignissen sowie den Prozess der Verwandlung in kulturelles Erbe. Aufbauend auf seiner Studie über lokale religiöse Praktiken in Tende (in der Grenzregion zwischen Frankreich und Italien) zeigt er die Transformation dieser Praktiken, die von der einheimischen Bevölkerung als traditionell angesehen würden, seit Beginn des 21. Jahrhunderts. Ihm zufolge kann der Transformationsprozess als Ausdruck einer Erinnerung an die religiöse Vergangenheit (past-presencing nach Sharon Macdonald) und der Wiederverzauberung der lokalen Tradition (enchantment nach Alfred Gell) definiert werden. Isnart vergleicht Tende mit Praktiken in Großbritannien und Griechenland und kommt zum Schluss, dass religiöse Traditionen, die heutzutage Subjekt einer „heritagization“ sind, dazu beitragen, die gegenwärtigen Prozesse sozialer und kultureller Umgestaltungen lokaler Traditionen so zu erkennen, wie die Menschen vor Ort sie verstehen. Die Umwandlung lokaler religiöser Praktiken in kulturelles Erbe würde nicht zur Zerstörung des Religiösen führen; es bedeute auch nicht, dass die spirituelle Dimension der Wallfahrtspraktiken verloren gehe. Das neue Leben religiöser Praktiken im Kontext von kulturellem Erbe und von Verzauberung und die starke Verbindung mit der lokalen Identität der Gemeinschaften ist ein legitimes Argument zur Relativierung der These der unbestrittenen und alternativlosen Säkularisierung Europas.
Der Artikel von Eva Löfgren „Reconstruction as Enchantment Strategy. Swedish Churches Burnt, Rebuilt and Rethought“ basiert auf zwei detailliert untersuchten rekonstruierten Kirchen in Schweden (Skaga-Kapelle und Södra Råda-Kirche). Löfgren stellt die These auf, dass die Rekonstruktionen der beiden Kirchengebäude, die den Status historischer Denkmäler oder Kulturdenkmäler haben, als Ausdruck von „enchantment strategies“ diskutiert werden können. In Auseinandersetzung mit den Konzepten von Entzauberung (Max Weber) und „heritagization“ zeigt die Autorin, dass eine Entscheidung für die Rekonstruktion einer Kirche vielmehr auf historischen Erzählungen und lokalen Selbstbildern basieren kann und nicht zwingend auf einem religiösen Kult. Die historischen Schichten reduzieren Orte nicht auf ihre Kulturgeschichte, sondern diese integrieren sich in deren zeitgenössische Bedeutung, die durch die Qualität als Erinnerungsort, für individuelle Erinnerungen sowie durch die Arbeiten und Interaktionen während der Rekonstruktion bestimmt wird. Löfgren führt weitere Argumente für die Notwendigkeit hinzu, die These der Entzauberung als Zeichen der Moderne zu überdenken, indem sie zeigt, dass auch in einer säkularen Gesellschaft wie der schwedischen Entzauberung und Verzauberung als zwei Seiten derselben Medaille nebeneinander existieren.
Der vierte Artikel im Themenpanel von Pedro Antunes „Voicing Souls: Embodying Uncertainty in a Portuguese Borderland Village“ widmet sich der rituellen Praxis zum Gedenken an die Toten in Penha Garcia (Gemeinde Idanha-a-Nova, Distrikt Beira Baixa, Portugal). In seiner einfühlsamen ethnografischen Studie beleuchtet Antunes den sozialen Aspekt des religiösen Rituals im Kontext des „südlichen Katholizismus“ als Mittel zur Wiederentdeckung und Wiedererfindung des heruntergekommenen Dorfes. Er verbindet das Konzept „Heritage-making“ mit dem Prozess der Wiederverzauberung und versucht die Rolle, die Bedeutung und die Transformation dieser Phänomene, die sozialen Bedingungen und die kulturellen Faktoren, die ihre Reproduktion ermöglichen, zu verstehen. Der Autor argumentiert, dass das kollektive Engagement der lokalen Akteure in Richtung eines vernakulären und transformierenden Prozesses dieses Rituals das Erbgut ihrer lokalen Religiosität und das „Dörfliche“ aufs Neue verzaubere, was seinerseits eine Antwort auf strukturelle Unsicherheit sei.
An Ende des Panels steht ein Diskussionsforum, das die Kommentare von neun führenden Wissenschaftler_innen aus verschiedenen thematischen Richtungen, mit Erfahrungen aus unterschiedlichen Bereichen der Erforschung von Tradition und Traditionellem erfasst. Sie setzen eine Reihe wichtiger Akzente und Themen zur kritischen Reflexion zu den ethnologischen/anthropologischen Studien der Traditionen. Dazu gehören: die Problematisierung der Vergänglichkeit, die Methodik der Forschung, die Politisierung von Traditionen und den Einfluss auf diese seitens der UNESCO-Politik des Immateriellen Kulturerbes sowie die ethischen Dilemmata, mit denen Forscher_innen konfrontiert sind usw. Diese thematische Ausgabe der Ethnologia Europaea ist Ausdruck der zunehmenden Notwendigkeit, Tradition als Hauptkonzept und als Forschungsobjekt der Europäischen Ethnologie kritisch zu reflektieren. Die Texte, die die Konzepte Re-enchantment, Ritualization und Heritage-making thematisieren, zeigen die Fruchtbarkeit des Ansatzes, bei dem Tradition und Traditionalisierung in einem breiteren theoretischen Kontext betrachtet werden, der über die Dichotomien Tradition ‒ Moderne, religiös ‒ säkular, offiziell – vernakular hinausgeht. Ich bin überzeugt, dass dieser erfolgreiche Versuch den Diskussionen neuen Schwung verleihen wird, um das Konzept der Tradition in der Europäischen Ethnologie kritisch zu überdenken.