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Lucia Aschauer

Gebärende unter Beobachtung. Die Etablierung der männlichen Geburtshilfe in Frankreich (1750–1830)

(Geschichte und Geschlechter 71), Frankfurt am Main 2020, Campus, 344 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-593-50955-6


Rezensiert von Marita Metz-Becker
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 09.09.2021

Bei dem vorliegenden Band handelt es sich um die leicht überarbeitete, von der Ruhr-Universität Bochum 2017 angenommene Dissertation von Lucia Aschauer, deren Forschungsinteresse darin bestand, anhand von ca. 300 Fallberichten („observations“) aus französischen medizinischen Zeitschriften die Entstehungsbedingungen einer bis heute fortwirkenden geburtshilflichen Wissensordnung zu dechiffrieren.
Davon ausgehend, dass geburtshilfliche Wissenschaft in einer erzählten Welt stattfindet, schaute sich Aschauer die Genese und die narrative Etablierung jener Wissensordnung in den Jahren 1750 bis 1830 an, einer Zeit, in der die bis dato in weiblicher Hand liegende Geburtshilfe im Kontext der europäischen Aufklärung sukzessive an die männliche Ärzteschaft überging. In ihrem Untersuchungszeitraum gehörten Hebammen zum festen Figurenarsenal im Journal de Médicine, an denen sich die Mediziner im Ringen um die Vormachtstellung im Feld der Geburtshilfe „abarbeiten“ mussten. Nach anfänglicher Diskriminierung der Hebammen, die sie als ignorant, inkompetent und ungebildet darstellten, veränderte sich die Erzählung in den späteren Jahren dahingehend, dass eine harmonische Zusammenarbeit von Arzt und Hebamme postuliert wurde, freilich in dem Sinne, dass der Arzt der Experte und die Hebamme seine Erfüllungsgehilfin ist. „Auf die konfliktreiche Etablierung des männlichen Hegemonialanspruchs in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts“, so Aschauer, „folgte eine friedlichere Phase der Konsolidierung dieses Anspruchs“ (236).
In den Fallberichten kommt nun die bereitwillige Kooperation der Hebamme zur Sprache. Das von den Ärzten entworfene positive Bild der einstigen Konkurrentin soll die klare Hierarchie zwischen den Akteur*innen vor Augen führen: Hier die dienende Helferin – da der wissende Experte. Damit war die endgültige Unterordnung der weiblichen Geburtshilfe besiegelt. Konsolidiert werden konnte dieser Prozess mit der Gründung von Accouchieranstalten, denen Ärzte vorstanden, die fortan auch die Hebammenausbildung in die Hand nahmen. Damit ging nun die geburtshilfliche Expertenstimme vollends an die Ärzte und Chirurgen über, die im Gebärhaus ihre wissenschaftlichen Studien an der entmündigten Patientin entfalten und das Erfahrungswissen sowohl der Gebärenden als auch der Hebammen ignorieren konnten.
Es ist das Verdienst der vorliegenden Untersuchung, das Narrativ der gelehrten französischen Ärzteschaft von 1750 bis 1830 und damit den Übergang von einer weiblich dominierten zur männlich dominierten wissenschaftlichen Geburtshilfe analysiert zu haben. Anhand einer Vielzahl geburtshilflicher Fallgeschichten zeigt Lucia Aschauer den nahezu einhundertjährigen Weg zur Verwissenschaftlichung der Geburtshilfe bei gleichzeitiger Ausgrenzung der Frauen aus dem Fach auf.
Dieser auch in anderen Studien (vgl. Jürgen Schlumbohm; Hans Christoph Seidel; Marita Metz-Becker etc.) schon thematisierte Prozess wird hier erstmals im Kontext gattungs- und erzähltheoretischer Ansätze aufgearbeitet, wobei der Fokus der Untersuchung auf „der wissenspoetologischen Frage nach dem Zusammenhang von textuellen und epistemischen Strukturen in der geburtshilflichen Fallgeschichte“ (266) liegt. Die „observations“ aus medizinischen Zeitschriften und Fallsammlungen lieferten die empirische Grundlage für die Formulierung geburtshilflicher Prinzipien und Normen und wurden damit gewissermaßen zum Steigbügelhalter der geburtshilflichen Disziplingründung. Hier spielt die Medikalisierung der Geburtshilfe eine zentrale Rolle, da die Fallgeschichten zunehmend ihren Blick auf pathologische Phänomene ausrichteten, mit der fatalen Folge der nachhaltigen Pathologisierung von Schwangerschaft und Geburt bis in unsere Tage.
Lucia Aschauer konnte anhand ihrer Quellen nachweisen, dass sich die männlichen Geburtshelfer in der zweiten Hälfte des 18. und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit großem erzählerischen Aufwand erfolgreich zum helfenden Retter der Gebärenden stilisierten, wobei es ihnen gleichzeitig mit der Herausbildung ihrer geburtsärztlichen Expertenstimme gelang, die Unterordnung der Hebammen unter die ärztlichen Autoritäten zu bewerkstelligen, also eine Hierarchisierung in der Geburtshilfe festzuschreiben. Die Autorin geht hier noch weiter, indem sie ausführt, dass die Ärzte mit narrativer Selbstermächtigung ihr „neues wissenschaftliches Selbstverständnis [hätten] ausagieren und jene folgenschwere Verknüpfung zwischen Weiblichkeit und Krankheit erproben [können], die zur epistemischen Matrix der modernen Medizin werden sollte“ (271).
Das sehr interessante Buch kann als weiterer wichtiger Meilenstein auf dem langen Weg der Geschichte der Etablierung wissenschaftlicher Geburtshilfe betrachtet werden und dürfte für all jene besonders aufschlussreich sein, die sich im interdisziplinären Forschungsfeld fallbasierter Darstellungsformen und der Produktion anthropologischen Wissens bewegen.