Aktuelle Rezensionen
Merle Greiser
„Volksmusik ist ...“ Narrative der Unbestimmtheit am Beispiel von „Volksmusik“ in der Region Franken. Festschrift für Armin Griebel
(Veröffentlichungsreihe der Forschungsstelle für fränkische Volksmusik 74), Uffenheim 2018, Forschungsstelle für fränkische Volksmusik, 86 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-925170-43-0
Rezensiert von Günther Noll
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 15.09.2021
Es war eine sehr glückliche Entscheidung, den langjährigen Leiter der Forschungsstelle für fränkische Volksmusik in Uffenheim und hochverdienten Wissenschaftler Dr. Armin Griebel anlässlich seines Eintritts in den Ruhestand zum 1. September 2018 mit einer Festschrift zu ehren, die von der allgemein bei solchem Anlass üblichen Form abweicht. Festschriften sind zumeist Sammelschriften, in denen in der Regel sehr viele, thematisch verschiedene Themen, wenn auch zum Wirkungsfeld des Jubilars gehörend, zusammengefasst werden. Im vorliegenden Fall wurde eine Autorin, Merle Greiser, gewählt, die sich „nur“ einem einzigen Thema widmet, dafür aber einem von zentraler Bedeutung: Es geht in der Festschrift darum, die Vielfalt des Begriffsfeldes „Volksmusik“ einmal näher zu untersuchen. Allein der Hinweis, dass der Begriff „Volksmusik“ sowohl im wissenschaftlichen als auch im nichtwissenschaftlichen Sprachgebrauch vielfältige Verwendung findet, verdeutlicht die besonderen Schwierigkeiten dieses Anliegens – reichen die Begriffe schließlich von der Instituts-Bezeichnung bis zur kommerzialisierten Fernsehshow! Im Rahmen eines Praktikums an der Forschungsstelle für fränkische Volksmusik in Uffenheim entstand die Untersuchung am Institut für Musikforschung der Julius-Maximilians-Universität Würzburg als Masterthesis im Bereich Ethnomusikologie. In Absprache mit Greiser wurde die Arbeit von den Mitarbeiter*innen der Forschungsstelle für fränkische Volksmusik Heidi Christ und Christoph Meinel redaktionell bearbeitet sowie durch in den laufenden Text eingeschobene, bebilderte Informationskästchen ergänzt, was das Buch sehr lesefreundlich gestaltet. Auf einigen Seiten befinden sich (Schwarzweiß-)Fotografien, die Armin Griebel bei der Arbeit an der Forschungsstelle zeigen.
Der Bezirkstagspräsident von Mittelfranken, Richard Bartsch, widmete der Schrift ein Geleitwort, in dem er die Bedeutung der 1981 gegründeten Forschungsstelle für fränkische Volksmusik in ihrer „Verbindung von musikwissenschaftlicher Theorie und lebendiger Volksmusikpraxis und -pflege“ noch einmal besonders hervorhebt und darauf hinweist, dass traditionelle Volksmusik „kein abgeschlossenes Thema“ bilde, sondern einen Themenkomplex umfasse, „bei dem Geschichte und Gegenwart ineinandergreifen“ (5). Die vorgelegte Forschungsarbeit mache „deutlich, dass gerade der in Uffenheim praktizierte offene Volksmusikbegriff und damit die Arbeit der Forschungsstelle für fränkische Volksmusik als Bindeglied zwischen Forschung und Praxis so produktiv ist“ (6). Um es vorwegzunehmen: Die Autorin, inzwischen stellvertretende Leiterin der Forschungsstelle, hat ihre Aufgabe vorbildlich gelöst. In einer mit 86 Seiten vergleichsweise eher schmalen Schrift hat sie in kompakter und dicht geschriebener Weise auf der Basis einer sehr umfangreichen und sicheren Literaturkenntnis eine Fülle von Material verarbeitet und anhand ausgewählter Themenbereiche präzisiert. Sie hat sich dabei nicht zur Aufgabe gesetzt, etwa nach ausgedehnter Diskussion, eine eigene, übergreifende Definition von „Volksmusik“ zu suchen oder zu finden, sondern sie erklärt stattdessen: „Es kann nicht Aufgabe der Forschung sein, die Frage zu beantworten, was ‚Volksmusik‘ sei. Stattdessen soll es Aufgabe sein zu beobachten, nachzuvollziehen und zu rekonstruieren, womit das Konzept im gesellschaftlichen Umgang aufgeladen wird.“ (75) Für ihre vergleichende Analyse der sehr heterogenen Bedeutungsfelder, etwa „Volksmusik“, „Folklore“ oder „World Music“, wählt Greiser den aus der Erzählforschung stammenden und in der letzten Zeit auch stark in der Soziologie gebrauchten Begriff des „Narrativs“. Sie greift dabei auf einen kulturwissenschaftlich orientierten Begriff nach Norman Ächtler zurück, der „Definitionsansätze von narrativer Identität und historischem Narrativ zusammenführt“ (10). Individuelle Selbstnarrative stehen im Zusammenhang mit übergreifenden, bereits etablierten Narrativen, „welche (kulturgeschichtlich) vorgezeichnet sind“ (10). Für den Begriff „Volksmusik“ bedeutet dies, dass sein Gebrauch Assoziationen auslöst, „die mit historisch gewachsenen, stetig bestätigten und erweiterten Narrativen in Verbindung stehen“ (11). Die Autorin stellt ihre Untersuchung demzufolge unter die Leitfragen: „Welche Narrative existieren?“ „Wie sind sie entstanden?“ „Wie werden sie bestätigt?“ und „Wie wird mit ihnen gebrochen?“ Sie setzt die Leitbegriffe der Untersuchung grundsätzlich in Anführungsstriche: „Volkslied“, „Volk“ und „Volksmusik“. Die Region Franken als Teil des Bundeslandes Bayern bildet den zentralen Betrachtungsraum. Neben ihrer Quellenforschung besuchte Greiser Veranstaltungen der bayerischen Volksmusikpflege, führte Interviews mit Gewährspersonen und teilte einen Fragebogen an eine kleinere Gruppe aus, so dass von vornherein eine enge Verbindung von Theorie und Praxis gesichert war. Sie gliedert ihre Arbeit in sechs Kapitel, und es ist bemerkenswert, dass sie in diesen, am Gesamtumfang der Schrift gemessen, jeweils nicht sehr umfangreichen Texten die wichtigsten Essentials ihrer Untersuchung (für das Thema historisch bedeutsame Persönlichkeiten und Positionen, historische Umfelder, Ideologien z. B.) vorbildlich zusammenfasst und anhand entsprechender Quellen präzise belegt. Allein die Wahl der Kapitelüberschriften zeigt die Differenziertheit der Zugangsweisen und die Weite der Fragestellungen, wobei historische und aktuelle Bezugsebenen in gleicher Weise angesprochen werden: „1. Zwischen ‚Volkslied‘ und ‚Volk‘ – Auslotung von Begrifflichkeiten“; „2. Wer ist ‚Das Volk‘? – Deutungshoheiten“; „3. Die Konzepte von Identität, Heimat und Tradition“; „4. Kontinuität und Brüche: ‚Volksmusik‘ nach 1945“; „5. ‚Volksmusik‘ und Ideologie, Ideologie in der ‚Volksmusik‘: Vorstellung und Ästhetik“; „6. Bruch und Bestätigung“. Die themen- und faktenreiche Untersuchung macht daher im Folgenden einige detailliertere Hinweise anhand einer begrenzten Zahl von ausgewählten Beispielen erforderlich. Die Differenziertheit des Vorgehens lässt bereits das erste Kapitel erkennen. Der Handhabung der Begrifflichkeiten „Volkslied“ und „Volk“ gewidmet, umfasst es einen historischen Zeitraum von Johann Gottfried Herder (1744–1803) bis zum Bayerischen Rundfunk und der GEMA in der Gegenwart. Schon der große Zeitraum von über 200 Jahren, der nicht etwa kontinuierlich als eine „Geschichte der ‚Volksmusik‘“ behandelt wird, sondern aus dem nur punktuell bestimmte Bereiche herausgegriffen werden, lässt erkennen, welches Maß an Entwicklung und Veränderung mit der Interpretation der genannten Begriffe verbunden ist. Bei der Beurteilung einzelner Positionen und ihrer Träger ist die Verfasserin dabei grundsätzlich bemüht, bei kritischer Argumentation auch deren Verdienste und die Zeitbedingtheit ihrer jeweiligen Positionen zu würdigen. Bei der in Auswahl dargestellten Begriffsdiskussion differenziert sie auf akademischer Ebene zwischen subjektorientierten, objektorientierten und operationalen (Max Peter Baumann) Bestimmungsansätzen. Ernst Klusens Gruppenlied-Begriff zum Beispiel gehört zu den objektorientierten Bestimmungsansätzen, die sich nach essentialistisch-normativen (wie beispielsweise durch Zuweisungen spezifischer Charakteristika bei Wilhelm Schepping), phänomenologischen und empirisch-statistischen Ansätzen teilen, wobei der essentialistisch-normative Ansatz im alltäglichen Sprachgebrauch die weiteste Verbreitung gefunden hat. Die Begriffsbestimmung in der öffentlichen Wahrnehmung beider Begriffe referiert Greiser an den Beispielen der deutschen Folkbewegung, des Rundfunks (BR) und der GEMA, die als stellvertretend ausgewählte Konzepte aus dem öffentlichen, also nicht akademischen Sprachgebrauch betrachtet werden. In der bundesdeutschen Folkbewegung zum Beispiel liegt der Fokus auf dem „Volkslied“, wobei sehr viel Verschiedenes gemeint sein kann: das Volkslied als „Volkslied von unten“ im Repertoire der Liedermacher, teilweise in Übereinstimmung mit dem „demokratischen Volkslied“ in der DDR, im Gegensatz zum „Volkslied von oben“ „als Teil der Kulturindustrie bzw. der institutionalisierten Heimatpflege“ (23), unter Einbezug US-amerikanisch und irisch geprägter Interpretationsstile, in subjekt- und objektorientierten Ansätzen, „aber in klarer, nomineller Abgrenzung zum Begriff ‚Volksmusik‘ und den damit im Zusammenhang stehenden Konzepten“ (24). Im Bayerischen Rundfunk wird der Themenbereich „Volksmusik“ im Fernsehen gleich in mehreren Formaten bedient, zum Beispiel in „Zsammg’spiut“, „Bei uns dahoam“ oder „Wirtshausmusikanten“. Im Rundfunk sind die einst auf diversen BR-Kanälen verteilten „Volksmusik“-Sendungen 2015 auf dem neuen digitalen Sender „BR Heimat“ zusammengeführt worden, was bis heute umstritten ist, weil man darin eine Reduzierung der Anteile sieht. Die Autorin erkennt hier „eine deutliche Wertezuschreibung mit Begriffen wie der namensgebenden ‚Heimat‘ und ihre klare Kombination mit dem Freistaat Bayern“ (25). Die Gesellschaft für musikalische Aufführungs- und mechanische Vervielfältigungsrechte (GEMA) geht wiederum von einem Volksmusikbegriff aus, der „Volksmusik“ als „alt und nicht mehr nachwachsend“ ansieht, weil die Schutzfrist von 70 Jahren überschritten ist, was umstritten ist und heftig diskutiert wird. Daher entstünden keine Neukompositionen, sondern nur Neubearbeitungen. Demzufolge trennt die GEMA scharf „Volksmusik“ als das „Alte und Traditionelle“ von „Volkstümlicher Musik“ (neben anderer populärer Musik) als „das Neue“ (26). Der Rezensent sieht hier jedoch erhebliche Unsicherheiten angesichts zahlreicher Grenzüberschreitungen in der musikalischen Aufführungspraxis. Die Autorin resümiert, dass das Volksmusikverständnis bei der Programmgestaltung im Bayerischen Rundfunk objektorientiert und essentialistisch-normativ geprägt ist und „Anciennität […], Persistenz, Traditionalität oder auch Territorialität“ in Anspruch nimmt (26).
In Weiterführung der Untersuchung terminologischer Konzepte und ihrer Deutungen greift Greiser im zweiten Kapitel das Begriffsfeld „Volk“ auf und im dritten Kapitel die Konzepte „Identität, Heimat und Tradition“ in ihren engen Verbindungen zur „Volksmusik“. Zum Beispiel die schon von Herder konstruierte Dichotomie zwischen „Landvolk“ und „Pöbel“ – auf das „Volkslied“ bezogen eine schichtenspezifische und wertorientierte Zuordnung – setzt sich bis in unsere Zeit fort, so dass sie selbst noch bei Walter Wiora in seinem Modell der „Grundschichten“ (1950), wenn auch anders formuliert, zu finden ist. Die politisierte Einbindung des „Volk“-Begriffs in die nationalsozialistische Ideologie hatte nach 1945 zu einer Diskussion um diesen Begriff und seine Neuinterpretation geführt. Anders als der objektorientierte Ansatz bei Wiora, verwendet Hartmut Braun (1985) etwa einen subjektorientierten Bestimmungsansatz von „Volksmusik“ („Volk“ vertreten durch den „’Durchschnittsmenschen’“), differenziert jedoch zwischen „Volksmusik“ und „Populärer Musik“ (Pop und Rock).
In einem eigenen Teilkapitel über einen der bekanntesten Protagonisten der „Volksmusik“ in Bayern, den „Hof- und Wirtshaussänger“ (Selbstbeschreibung), Instrumentalisten und Liedsammler Kiem Pauli (Emanuel Kiem, 1882–1960) gibt Greiser ein interessantes Beispiel für die Entwicklung vom Fremd- zum Selbstbild. In einem langen, bis heute fortdauernden Prozess hatte sich „Volksmusik“ vom Fremd- zum Selbstbild und von der Fremd- zur Selbstbeschreibung, bis hin zur Selbstverklärung entwickelt. Wie Kiem Pauli in seinem Lebensrückblick 1950 zum Beispiel berichtet, bezog er in seiner Hof- und Wirtshaussängerzeit auch eigene Kompositionen in sein Repertoire mit ein, was gewiss nicht dem tradierten Begriff des „echten Volksliedes“ entsprach. Hier wird im neben dem Text stehenden Informationskästchen auch Armin Griebel zitiert, der sich 2012 mit den beiden Extremen der Volksmusikpflege insbesondere in Oberbayern auseinandersetzte und fragte, ob das in einem „vage formulierten Vereinsziel ‚Unterstützung… bei der Pflege r e i n e r Volksmusik‘ der im Fluss befindlichen Volksmusikpflege die Richtung weisen kann oder einen unhinterfragbaren, fundamentalistisch anmutenden Traditionalismus befördert’“ (34), dass also weiterhin Diskussionsbedarf besteht.
Die Gründung der Bundesrepublik Deutschland 1949 als dezentrale Konstruktion führte in den einzelnen Bundesländern zu verschiedenen Formen von Kulturpolitik. Das vierte Kapitel konzentriert sich daher primär auf das Bundesland Bayern und insbesondere auf die Region Franken und geht der Frage nach, wie sich in der „Volksmusik“ nach dem Kriegsende 1945 „Kontinuitäten und Brüche“ zeigten. Gegliedert ist das Kapitel nach den Themenbereichen „Franken und Bayern, Franken in Bayern: Regionale Identitäten“; „Das Konzept ‚Volksmusik‘ als Träger von Identität“; „Die institutionalisierte Heimatpflege im Freistaat Bayern“; „Die Sammlung Ditfurth“, „Die Kirchweih in Franken“ sowie den Exkurs „Das Narrativ eines ‚bayerischen Volkstums‘ im Nationalsozialismus“. Ein Beispiel für Kontinuitäten zeigt sich etwa in dem Bemühen der Volksliedpflege in Franken im Zusammenhang mit der 1855 erschienenen Sammlung „Fränkische Volkslieder“ von Franz Wilhelm Freiherr von Ditfurth (1801–1880), 1986 als Reprint veröffentlicht. Welche Bedeutung dieser Sammlung beigemessen wird, zeigt die Herausgabe der unveröffentlichten Teile des Ditfurth’schen Nachlasses in fünf Bänden durch die Forschungsstelle für fränkische Volksmusik 1991, wobei Rezeption und Verbreitung des gesammelten Liedgutes in der aktuellen Volksliedpflege kontinuierlich beobachtet werden. Zur Reprint-Ausgabe: „Bis in die Gegenwart werden Lieder aus der Sammlung weiterverbreitet, meist in Form von losen Liedblättern auf Lehrgängen oder organisierten Singabenden.“ (48) Aufschlussreich ist auch das Kapitel über die Besonderheiten der Musik im Brauch des Kirchweihfestes in Franken. Die lokale Kirchweih (auch „Kerwa“, „Kärwa“ oder „Kirwa“) zählt mit einem bedeutenden Anteil von Musik zu den wichtigsten Veranstaltungen in den fränkischen Orten im Jahresablauf. Armin Griebel hat bei einer Untersuchung des Tanzrepertoires der Kirchweihmusik 2003 aber nicht das Repertoire der „in der Volksmusikpflege als ‚fränkischʻ verbreiteten Stücke regionaler Tradition“ vorgefunden, „sondern einfachere, allgemein verbreitete Melodien wie der Walzer ‚Tief im Steigerwald steht ein Bauernhausʻ oder der ‚Holzauktion-Rheinländerʻ“ (49). Die Akteure verwenden wegen der Eigenständigkeit ihres Repertoires, das von den Traditionen der „Volksmusik“ im essentialistisch-normativen Sinn abweicht, den Begriff „Kerwamusik“, die eine eigene Repertoire-Tradition herausgebildet hat. Ein weiteres Kapitel hebt die besondere Bedeutung der umfangreichen institutionalisierten Heimatpflege im Freistaat Bayern hervor, die sie zum Beispiel mit der Gründung der „Arbeitsgemeinschaft Fränkische Volksmusik Mittelfranken e.V.“ 1977 erlangt hat, deren Satzung „die Pflege und Förderung der fränkischen Volksmusik, des fränkischen Volkstanzes und des fränkischen Volkslieds als eine Aufgabe der Heimatpflege“ festschreibt (46).
Im Exkurs über das „Narrativ eines bayerischen Volkstums im Nationalsozialismus“ greift Greiser ein wichtiges Thema auf, indem sie den massiven Bruch aufzeigt, der nach dem Zweiten Weltkrieg durch die „Abwendung insbesondere der jüngeren, nachfolgenden Generation“ von dem im nationalsozialistischen Staat etablierten Begriff „Volksmusik“ und dessen Missbrauch – auch auf deutschsprachige Volkslieder bezogen – entstand (44). Der NS-Staat hatte von Anfang an die totale Kontrolle über den gesamten Kulturbereich übernommen. Schon ein Jahr nach der „Machtübernahme“ 1934 setzte mit einer Bekanntmachung des Bayerischen Staatsministers für Wirtschaft eine „gesetzlich festgeschriebene Bestimmung“ von „Bayerischer Volksmusik“ und den Ausübenden ein. Im gleichen Jahr wurden in einer „Bekanntmachung des Freistaates Bayerns und des Staatsministeriums des Inneren über Tanzlustbarkeiten“ sogar verschiedene Tänze als „entartet“ (!) verboten (42). 1935 wurden Zulassungsurkunden ausgestellt, worin sich die Antragssteller verpflichten mussten, „nur echte und gute bayerische Volksmusik, Volkstänze, Sitten und Gebräuche“ darzubieten (43). Auch die Bezeichnung „bayerisch“ zu führen, war davon abhängig. Zu den Reaktionen der Bevölkerung auf diese Verordnungen seinerzeit zitiert die Autorin die Kulturwissenschaftlerin Maria Bruckbauer: „Die gesamte Gesetzgebung zum Schutz des bayerischen Volkstums fand viel Resonanz. Von verschiedenen Seiten gingen Meldungen über Verstöße gegen die Erlasse ein.“ (43) Man monierte zum Beispiel „unechte“ Bekleidung, nicht dazugehörige Instrumente oder ungeschult ausgeführte Tänze. Insgesamt zeigt sich, dass bei einigen Brüchen in den Überlieferungstraditionen auch Kontinuitäten zu beobachten sind. Die Deutungshoheit von „Volksmusik“ oder „bayerische Volksmusik“ bleibt weiterhin Sache des Staates und seiner Institutionen.
Das fünfte Kapitel widmet Greiser der in gleicher Weise zentralen Frage nach dem Verhältnis von „Volksmusik“ und Ideologie, wobei sich dabei nach einer ästhetischen Wertung des Gegenstandes beinahe „naturgemäß“ heftig und kontrovers diskutierte Positionen gegenüberstehen. So geht es unter anderem um die Positionierung bei der Unterscheidung zwischen „echtem“ und „unechtem“ Volkslied. Interessant sind hierbei insbesondere die differenzierten Antworten der Befragten aus den Interviews der Autorin. Auffallend ist, dass sich etwa seit 1970 Änderungen im Sprachgebrauch in Franken entwickeln: In zunehmender Ablehnung der alpinen „Volksmusik“ und Bewusstwerdung von „eigenen“ Spieltraditionen (etwa als „ungepflegte Volksmusik“) änderte sich die Einschätzung von „echt“ und „authentisch“: „Die Zuschreibung ‚gepflegt‘ war nunmehr das Gegenteil von ‚authentisch‘.“ (63) Hier spielt auch der Konflikt um die Bewertung des Klangideals einer Volksmusikpflege hinein, die sich sehr stark an den „Normen der europäischen Kunst- und Konzertmusik“ orientiert, verbunden mit dem Wunsch nach Anerkennung (z. B. bei Emanuel Kiem). In einem weiteren Kapitel geht es um „ideologisierte“ und „ideologiefreie“ Volksmusik. Bei ersterer verweist Greiser auf die Ideologisierung von Volksmusik durch den Staat in einem totalitären System wie in der Zeit des Nationalsozialismus oder in der DDR sowie im Kontext von Gruppierungen, die bestimmte Wertvorstellungen entwickeln und zum Beispiel ein Musizieren mit „enggesetzten Regeln“ (59) fordern, was zur Stereotypenbildung führt (bei Kiem und Fanderl etwa), von denen sich die nachfolgende Generation in der Volksmusikpflege zu lösen bemüht ist. Demzufolge wäre eine „ideologiefreie Volksmusik“ eine Musizierpraxis, die sich nicht nach festgesetzten Regeln, Handlungsanweisungen und Werten, sondern nach eigenen, frei vereinbarten Regeln und Wertvorstellungen definiert (60). Interviewaussagen weisen insbesondere darauf hin, dass in Franken eine altbayerische Volksmusikpflege „nicht sehr häufig“ sei, dass sich ein „Identitätspotential“ im Sinne von „weltoffener Gruppenidentität“ zu manifestieren scheint, jedoch in einem Prozess, der keinesfalls konfliktfrei verläuft, wie die in den in den Fußnoten zitierten Quellen belegen (61).
In der zentralen Frage der Studie nach Bestätigung und Bruch der volksmusikbezogenen Narrative zeigt Greiser im letzten Kapitel die Wirkungsmechanismen anhand der Spannbreite in der Wahrnehmung der Narrative „Volksmusik“ und „volkstümliche Musik“ beispielhaft auf. Das Narrativ einer „echten“, das heißt als authentisch wahrgenommenen „Volksmusik“, existiert weiterhin im Sprachgebrauch, insbesondere befördert durch den „Authentizitätseffekt“, der im Fernsehen und Rundfunk erzeugt wird. Der Begriff „volkstümliche Musik“ bezieht sich auf „kommerziell verbreitete Musiksendungen, die Lieder und Instrumentalmusik enthalten, deren Strukturen der Volksmusik sehr ähnlich sind“ (66), und alpenländische, wiederkehrende Topoi Heimat, Ferne, häusliche Idylle oder Liebe konnotieren (Marianne Bröcker). Als ihr Prototyp gilt das Fernsehformat „Musikantenstadl“, das inzwischen eingestellt worden ist und nur noch einmal im Jahr als „Silvesterstadl“ gesendet wird. Interessant ist hier der Hinweis, dass sich sämtliche der interviewten Gewährspersonen in ihrem Begriffsverständnis von „Volksmusik“ deutlich von „volkstümlicher Musik“ abgrenzen. 2003 wurde durch Studierende des Studienganges „Ethnomusikologie/Volksmusik mit besonderer Berücksichtigung des fränkischen Raums“ als Gegenentwurf zum „Musikantenstadl“ der „Antistadl“ gegründet, der unter anderem mit Parodien und komödiantischen Einladungen operiert: „Der ‚Antistadl‘ – als Alteritätskonstruktion – nimmt seinen Ausgang in den als Narrative geschaffenen Strukturen der Volksmusikpflege und der ‚volkstümlichen Musik‘ – ‚Volksmusik ist…‘ –, um mit ihnen zu brechen und ein eigenes Narrativ zu etablieren: ‚… Rock’n’Roll‘.“ (68) In einem knappen „akademischen Diskurs“ (68 ff.) weist die Autorin auf die Problematik hin, dass „außerhalb des Wirkungskreises der Volksmusikforschung wenig Rezeption des gegenwärtigen Erkenntnisstandes stattfindet“ und dass auch selbst in den Disziplinen Volksmusikforschung, Ethnomusikologie und Musikwissenschaft kein Konsens über den Gebrauch des Begriffes „Volksmusik“ besteht (69), verschärft – wie wir wissen – durch eine hohe Bedeutungsunschärfe der mit ihm in Verbindung stehenden Konzepte. Mancherorts werden inzwischen auch andere, weiter gefasste Bezeichnungen eingeführt, um die Verwendung des Begriffs „Volksmusik“ zu vermeiden, zum Beispiel „historische Gebrauchsmusik“ als Forschungsgegenstand (so auf der Homepage der Forschungsstelle für fränkische Volksmusik). Bezeichnungen, etwa wie „Landmusik“, „Volxmusik“, „Heimatsound“, „traditionelle Musik“ oder „tradierte Musik“, lassen einerseits mehr Raum für Auslegungen, bergen andererseits nach Meinung des Rezensenten die Gefahr von neuen Unschärfen, wenn die Definitionen und Begründungen nicht präzise genug erfolgen.
Schließlich hebt Greiser noch einmal hervor, dass einerseits in der Volksmusikforschung in überwiegendem Maße ein Bruch mit dem gängigen essentialistisch normativen Narrativ der „Volksmusik“ stattgefunden hat, dass aber andererseits in der allgemeinen Wahrnehmung, unterstützt durch Medienformate und einzelne Stimmen der Musikwissenschaft, weiterhin Bestätigung derselben vorherrscht. Große Teile der Pflege und Akteure der „Volksmusik“ befinden sich inmitten dieses Konflikts: Einerseits stehen sie im Wissensaustausch mit der Volksmusikforschung, andererseits müssen sie sich in der öffentlichen Kommunikation positionieren! So stehen sich teilweise extreme Positionen diametral gegenüber. In der Praxis aber arbeiten sie zusammen, auch wenn sie divergierende Auffassungen von „Volksmusik“ vertreten. Greiser sieht hier ein sehr erfolgreiches Modell in der bayerischen Volksmusikpflege. Zu den Ergebnissen ihrer Befragung einer kleinen Gruppe von „Akteuren“ der Volksmusik in Franken als qualitative, leitfadengestützte Interviews in Gestalt eines emisch-etischen Gesprächs, die in den laufenden Text eingeflossen sind, vermittelt sie abschließend keine weiteren zusammenfassenden Informationen, da sie nicht als repräsentativ gelten. Ob es aber interessant gewesen wäre, etwas über die Differenzierungen in den individuellen Meinungsbildern anhand einiger ausgewählter Aussagen zu erfahren, wenn es zum Beispiel um die „Wahrnehmung von (‚Volks‘)Musik und Franken“, zur „Repertoire-Auswahl“ oder zur „Wahrnehmung von Heimatpflege“ ging, wie der Interviewleitfaden (85 f.) ausweist, sei dahingestellt. Merle Greiser schließt ihre Schrift mit der Aufforderung: „Die Interpreten, Produzenten sowie Rezipienten der ‚Volksmusik‘ seien aufgerufen, sich kritisch und reflektiert mit den Narrativen auseinanderzusetzen und im Bewusstsein des Diskurses zu handeln, zu beschreiben und weiterzutragen.“ (75) Der Rezensent sieht nicht nur in dieser direkten Aufforderung, sondern in dieser des Jubilars würdigen Festschrift als Ganzes und ihrem reichen Faktenertrag einen wichtigen Impuls zur Weiterführung der Diskussionen in einem sich ständig differenzierter entwickelnden und erweiternden Feld, was gar nicht deutlich genug hervorgehoben werden kann!