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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Hans Hipp

Wachs zwischen Himmel und Erde. Mit einem Vorwort von Nina Gockerell

München 2020, Hirmer, 392 Seiten mit 200 Farbabbildungen, ISBN 978-3-7774-3672-2


Rezensiert von Walter Pötzl
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 02.09.2021

Die Vorlagen für diesen stattlichen Band waren überaus günstig: Der Lebzelter Hans Hipp verwahrt über 70 Holzmodel im alten Traditionsbetrieb in Pfaffenhofen an der Ilm, mit denen seit Jahrhunderten Wachsvotive gegossen werden – der älteste trägt die Jahreszahl 1684. Ein Pater des Ordens des Heiligen Benedikt in Scheyern machte Hipp mit den zehn Mirakelbüchern der nahen Marienwallfahrt Niederscheyern vertraut. So kamen Zeugnisse der religiösen Sachkultur mit solchen der literalen Äußerungen zusammen. Ergänzt wird dieser Bestand durch Votivgaben anderer Lebzelter und (gelegentlich) durch die Mirakelbücher von Scheyern, Inchenhofen, Hohenwart, Pürten und Altötting und bildet so eine breite Quellenbasis.
Votivgaben waren ein Bestandteil des Wallfahrtswesen (und sind es z. T. in Portugal oder in Südostindien noch heute). [1] Gläubige Menschen, die von einer schweren Krankheit heimgesucht wurden oder in einen Unfall verstrickt oder sonst irgendeiner Gefährdung ausgesetzt waren und denen weder ein Bader noch ein Arzt helfen konnte, mitunter auch weil sie einen solchen nicht zu bezahlen vermochten – im Buch geben die Abschnitte „Medicus und Bader“ und „Nebeneinander von geistlicher und weltlicher Medizin“ darüber Auskunft –, wandten sich an das Kultobjekt eines Wallfahrtsortes (Heiligengrab, eucharistisches Objekt, Gnadenbild, Architekturkopie z. B. von Loreto). Diese Votation – auf vielen Votivtafeln stehen die Worte „Ex Voto“ – lief nach bestimmten Regeln ab: Wurden die Votanten erhört, so durften sie diese erfahrene „Guttat“ nicht für sich behalten, sondern mussten sie anzeigen, das heißt in das Mirakelbuch eintragen und/oder eine Votivtafel malen lassen. Eine solche Promulgatio war verpflichtend und mitunter fallen Votanten wieder in ihre überwundene Krankheit zurück, wenn sie dieser Verpflichtung nicht nachkommen. Eine andere Form der Promulgatio ist das Zurücklassen hinweisender Gegenstände am Kultort (z. B. Krücke, Gefangenenkette, abgegangener Stein). Im Gegensatz zu ihnen sind Votivgaben künstlich geschaffene Objekte. Im Gegensatz zu Mirakelbucheinträgen, in denen meist Namen, Berufs- oder Standesangaben und Wohnorte der Votantinnen und Votanten auftauchen, sind sie anonym. Votivgaben können aus verschiedenen Materialien bestehen wie Holz oder Ton, Eisen, Silber oder Blech. Die Tafelbilder und Holzschnitte im vorliegenden Band zeigen wie sie ehedem präsentiert wurden. Die Tafeln aus Weihenstephan (jetzt im Bayerischen Nationalmuseum) und in Pipping (Obermenzing) und die bisher nicht publizierte Miniatur aus der Rotel von Geisenfeld stammen aus dem weiteren Umfeld von Pfaffenhofen. Votivgaben aus Wachs sind bei uns in Modeln dünnwandig gegossen, in anderen Regionen (z. B. in der Schweiz) kommen auch vollplastisch geformte, meist kleine Votivgaben aus Wachs vor. Sie sind nicht zu vergleichen mit den großen modellierten Wachsfiguren, die sich wegen der Materialkosten zunächst nur Reiche leisten konnten, denen dann auch andere nachstrebten, wie das Paar aus Pürten vermuten lässt. In dieser Gruppe darf man einen hohen Identitätsfaktor zwischen den Votanten und ihren Votivgaben annehmen.
Neben den Votivgaben gibt es auch andere, nicht den Anlass abbildende Gegenleistungen wie Geld- und Sachspenden (das Opfer im Stock, ungeformtes Wachs nach Gewicht, Kerzen), Leistungen für den Kultort bis hin zur Zinsbarmachung, sowie eine Vielzahl von geistlichen Leistungen wie die Wallfahrt selbst, mitunter verbunden mit Bußübungen, Gebete, insbesondere der Rosenkranz, und Andachten bis hin zur an der oder dem Wallfahrtsheiligen orientierten Namengebung.
Der Großteil der Votivgaben erklärt sich selbst, wobei es keine Tabus gibt. Hoden, auch mit aufgelegtem Penis, kommen gelegentlich vor, während Votivkröten in verschiedenen Formen häufig auftreten. Allerdings muss man den Symbolgehalt der Kröte als Uterus wissen, um die vaginalen Elemente auf dem Rücken der Gebilde zu erkennen. Erklärungsbedürftig ist auch die Ankerwinde als Attribut des hl. Erasmus, mit der ihm die Gedärme herausgezogen wurden, als Votivgabe bei Darmproblemen. [2]
Es mag an der Schwierigkeit liegen, der Pest in ihren verschiedenen Erscheinungsformen Gestalt zu geben, weswegen man die Figur des hl. Sebastian oder einen Pfeil opferte, wobei die für die Figur selbst bestimmten Pfeile in dem gleichen Model gegossen und dann eingesteckt wurden. Die Passio, nach der der Heilige durch Pfeile getötet werden sollte, gibt zunächst keinen Anlass für ein Pestpatronat. Bei der römischen Pestepidemie 680 wurden im reliquienreichen Rom aber seine Gebeine herumgeführt und seitdem gilt er als Pestpatron. Lag diesem Akt bereits die Überlegung zugrunde, dass die Pest durch die (schlechte) Luft verbreitet wird, diese aber kaum dinglich darzustellen ist, weswegen man den durch die Luft schwirrenden Pfeil als Symbol wählte? Als Votivgabe wird der Sebastianspfeil allein geopfert. Zinngießer fertigten, wie in Dießen, kleine Pfeile, die in die Rosenkränze eingehängt oder in Breverl oder Wettersegen gelegt wurden. Es gibt wohl nur wenige Dorfkirchen, in denen Sebastian nicht vertreten ist. Mitunter unterstützt ihn noch der hl. Rochus als weiterer Pestpatron. Zahlreich waren die Sebastiansbruderschaften, durch die noch heute die Sebastianioktav, wie etwa in Augsburg, gehalten wird.
Der Krankheit der Mutterkornvergiftung wegen hängt Hipp noch einen Abschnitt über Antonius Eremita an, illustriert durch den bekannten Holzschnitt, an dessen Votivstange Hände und Füße hängen. Aus dem Mirakelbuch von Niederscheyern zitiert Hipp den Fall der Pfaffenhofener Bürgerin und Bäckerin Catharina Staudhammerin, die 1747 „den brandt an einem fues gehabt“ und sich deshalb „mit einem wäxernen fues, und opfer sambt einer hl. Mess, und hl. Rosenkr.“ verlobte, worauf es „durch vorbitt Mariae widerumb besser wordten“ (296). Das Wunder, bewirkt durch die Fürbitte Marias, besteht nicht in einer totalen Heilung, sondern lediglich in einer Besserung des Zustandes, was in Mirakelbüchern und auf Votivtafeln häufiger vorkommt.
Erklärungsbedürftig sind auch die Kränze und die Messer. Ein Blick in die Mirakelbücher weist den Weg. Eine Frau „litte das glokhfeür am haubt“ und verlobte sich daher „mit einem vächsenen Cränzl“ nach Niederscheyern (274). Eine Frau aus Großmehring erlitt große Kopfschmerzen und verlobte sich daher „mit einem wexene haubt samt ain wexen khronz“ (ebd.) nach Altötting. Von seinem Vater übernahm Hans Hipp für eine bestimmte Form von Kränzen, die nicht mit Blumen, sondern mit Dornen geflochten sind, die Bezeichnung „Fraisenkranz“. Von der Frais waren häufig auch Kinder betroffen. [3]  Stechende Schmerzen verschiedener Art führten zum Messer als symbolhafter Votivgabe. Ein Votant gibt 1749 in Niederscheyern an, dass er „ein so schmerzliches stechen erlitten habe, das er vermeint ein Mösser steche mann ihme durch das herz“ (244). Mirakelbücher sprechen dann vom „wäxerenen stich messer“ (244 ff.).
Bei den Schnitzern und Wachsbildnern und bei den Modelschnitzern könnte man die Frage stellen, ob sich in ihren Darstellungen die populäre medizinische Vorstellungswelt offenbart. Damit könnte das Wallfahrtswesen einen weiteren kleinen Beitrag zur Medizingeschichte leisten, wie es durch die Auswertung von Votivtafeln und Mirakelbüchern (wenn auch nur in bescheidenem Umfang) bereits geschieht. [4]

Anmerkungen


[1] Immer noch grundlegend Lenz Kriss-Rettenbeck: EX VOTO. Zeichen, Bild und Abbild im christlichen Votivbrauchtum. Zürich/Freiburg im Breisgau 1972.


[2] Vgl. dazu Markus Hofer u. Andreas Rudigier: Die vierzehn Nothelfer. Das himmlische Versicherungspaket (Vorarlberg Museum, Schriften, Bd. 49). Innsbruck/Wien 2020, Abschnitt über Erasmus (125–131) mit einer Wiedergabe des Gemäldes von Nicolas Poussin, das das grausame Martyrium zeigt.


[3] Ulla Rinkes: Wahnsinn, Fallsucht und Besessenheit – psychologische Erkrankungen und religiöse Therapien in Bayern im 17. und 18. Jahrhundert. Diss. Eichstätt 2017 [https://doi.org/10.17904/ku.opus-595], bes. S. 128–137 zu Anfallsleiden: Fallsucht und Frais.


[4] Vgl. Walter Pötzl: Die Mirakelbücher Augsburger Wallfahrten als medizingeschichtliche Quellen. In: Dietmar Schiersner (Hg.): Augsburg. Stadt der Medizin. Historische Forschungen und Perspektiven. Regensburg 2021, S. 52–67.