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Amir Zelinger

Menschen und Haustiere im Deutschen Kaiserreich. Eine Beziehungsgeschichte

(Human-Animal Studies), Bielefeld 2018, transcript, 404 Seiten mit 1 Abbildung, ISBN 978-3-8376-3935-3


Rezensiert von Wiebke Reinert
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 09.09.2021

2018, im Jahr der Veröffentlichung von Amir Zelingers Dissertationsschrift, lebten in den Privathaushalten Deutschlands rund 34 Millionen Haustiere. Ziegen, Hasen, Hühner, Katzen, Hunde, Hamster, Wellensittiche, Unken, Schildkröten und Schlangen – Menschen teilen ihre (erweiterte) Wohnstatt mit verschiedensten Spezies. Der Entstehung dieser besonderen „Tier-Mensch-Partnerschaft“ widmet Zelinger sich mit einer „posthumanistischen Beziehungsgeschichte“, die „die zahllosen und multidimensionalen Stränge“ zu erfassen gedenkt, „die Menschen mit anderen Objekten und nicht zuletzt Lebewesen in ihrer Umwelt verbinden“ (13 f.). Die Zeit des Deutschen Kaiserreichs sei dabei die Epoche, in der sich der Umgang von Menschen mit domestizierten Tieren in bis dato unbekanntem Ausmaß intensivierte, sich eine „massenhafte Eingemeindung von animalischen Elementen in das menschliche Leben“ vollzog (29). Somit stehen in der Studie nicht allein Heimtiere oder spezielle Spezies (wie etwa Mensch-Hund-Beziehungen) im Fokus. Die Haltung von kleineren Nutztieren und Wildhaustieren spielen ebenso eine Rolle wie die Rassezucht und das Konzept von „Haustier“-Haltung bekommt hierdurch erhellende, differenzierende Facetten.
Inspiriert und gerahmt von posthumanistischen Ansätzen (Bruno Latour, Donna Haraway) richtet der Autor das Augenmerk auf „Kontaktzonen“ und „Kontaktaufnahmen“ zwischen Tieren und Menschen, sozusagen die kleinste gemeinsame Einheit der Tier-Mensch-Beziehungen. Behördliche Akten, Zeitschriften zu Zucht, Haltung und populärer Tierkunde, Ratgeber und landwirtschaftliche Fachblätter bilden den Korpus, aus dem Zelinger Logiken, Praktiken und Muster der „Partnerschaft“ zwischen Tieren und Menschen herausarbeitet.
Einen bedeutenden Befund, der die weit verbreitete und übliche Auffassungen zu Grenzen und Differenzen zwischen Nutz-, Heim-, Wild- und Haustieren herausfordert, formuliert der Autor mit der These, dass die Verbreitung der Haustierhaltung im Kaiserreich in vielfacher Hinsicht von Entwicklungen im Bereich der Nutztierhaltung mit vorangetrieben wurde und „gerade eine Verquickung zwischen Nützlichkeit und Partnerschaftlichkeit hinter diesem Zusammenhang stand“ (33). Durch diese Perspektive wird die Untersuchung gerade nicht nach existenten Kategorien und Verknüpfungen sortiert (wie z. B. Industrialisierung = Instrumentalität; Heimtier = Sentiment; Wildtier = Kompensation von Naturverlust), die in zahllosen Untersuchungen zu Tier-Mensch-Beziehungen den Blickwinkel bestimmen. Hierdurch gelingt es ganz vorzüglich, die Qualitäten verschiedener gesellschaftlicher Praktiken mit verschiedenen Tieren in ihren jeweiligen Kontexten und ihrer „Mehrdimensionalität“ präzise zu fassen.
Mit den Fokussen auf die Haltung kleiner Nutztiere wie Geflügel, Ziegen und Kaninchen (Kapitel 1), Gouvernementalität der Hundehaltung (Kapitel 2), die Haltung von Wildtieren im Haus (Kapitel 3) und die Rassehundezucht (Kapitel 4) kommen auch verschiedene gesellschaftliche Milieus und Schichten ins Bild. Wenngleich der Autor sich zu Anfang explizit weigert, anhand der Haustierhaltung eine Geschichte der Mensch-Tier-Beziehungen zu schreiben, sind hier reichliche, inspirierende Anknüpfungspunkte für eine neu perspektivierte Alltags- und Kulturgeschichte zu finden.
In Kapitel 1 führt Zelinger den Begriff der „Nutzfreundschaft“ zwischen Tieren und Menschen ein und legt dar, dass Industrialisierungs- und Urbanisierungsprozesse keinesfalls notwendigerweise zu einer „Distanzierung“ oder einem Ausschluss von Tieren aus privaten Haushalten geführt haben, anders als populäre Narrative dies meist nahelegen. Im Gegenteil, so das Resümee, wurden in der Nutztierhaltung „Partnerschaftlichkeit und Nutzen, Zutraulichkeit und Instrumentalisierung und selbst Liebe und Schlachten“ (114) kombiniert.
Kapitel 2 widmet sich Diskursen und Praktiken von in menschlicher Nähe lebenden Haustieren im Kontext von obrigkeitsstaatlichen Versuchen der Kontrolle. Hier spielen der quasi staatliche Aufruf zur besseren Pflege von Hunden zwecks Bekämpfung der Tollwut, die Einführung von Maulkörben und Hundesteuer eine Rolle. Deutlich wird, wie Haustierhaltung zu einer öffentlichen Angelegenheit wurde und Behörden durch eine Verrechtlichung „so etwas wie die Infrastruktur der Mensch-Haustier-Verhältnisse“ (169) schufen.
In Kapitel 3 rahmt der Autor das Phänomen der Haltung von Wildtieren in Haushalten mit einer erhellenden theoretischen Öffnung des Begriffs „Domestikation“, der häufig entgegen (vermeintlicher) „Wildheit“ positioniert wird: Denn „moderne Domestikationspraktiken“ sollten nicht automatisch als eine „Entwilderung“ der Tiere verstanden werden (181). Im Kaiserreich widmete sich ein nicht eben kleiner Kreis von Aficionados dem Fangen, Beobachten und Pflegen von Wildtieren. Als „wilhelminische Hobbyzoologen“ waren sie Akteure der aufblühenden Wissenschaftspopularisierung. Hieran Teil hatten durchaus auch Kinder und Jugendliche, die Wildtiere einfingen, um sie Zuhause in Aquarien, Terrarien und Käfigen zu halten. Dargelegt wird hier auch, wie in bürgerlichen Wohnungen „Wildtierhabitate“ eingerichtet wurden und welcher Umgang sich zwischen „Natur“ und „Wildnis“ in dieser „Kontaktzone“ entwickelte. Zelinger bedenkt hier auch jene Tiere, die wieder „entdomestiziert“ wurden, wie zum Beispiel Vögel, und bisweilen dennoch „außerhäusliche ‚Haustiere‘“ blieben (268).
Kapitel 5 thematisiert die Rassezucht und in ihr vorherrschende Vorstellungen von „Rasse“, zumal den Einfluss des Rassismus auf Haustiere und deren Position in der Menschengesellschaft. Der Rassismus im Kaiserreich, so streicht Zelinger heraus, „war seinem Wesen nach ein humanimalisches Phänomen“ (270), Rassetheorien fanden Anwendung auf dem Feld der Tierzucht, waren nicht allein auf Menschen bezogen. Mit hauptsächlichem Fokus auf Rassehundezucht wird hier nicht allein eine humanimale Ideengeschichte geschrieben, sondern auch die Geschichte der Einwirkungen auf reale Tier-Körper. Der „wilhelminische Haustierrassismus“, so resümiert Zelinger, war facettenreich und verband qua Ideologie „Hass und Freundschaft, Ausgrenzung und Verpartnerschaftlichung“ (346) miteinander.
Mit dieser Studie liegt eine sehr reichhaltige und differenzierte Darstellung von Begegnungen und Beziehungen zwischen Menschen und Tieren vor. Der beeindruckenden Vielfalt der Quellen entspricht die Vielfalt der „verschlungenen Pfade“ (346) der Haustierhaltung: Die Studie erfasst äußerst gewinnbringend die Zwischentöne dieser oft zu standardisiert konzipierten Variante von Tier-Mensch-Verhältnissen. Letztlich gelingt Amir Zelinger damit eine Vervielfältigung der großen Erzählungen und ein fundierter Beitrag zur Geschichte des Deutschen Kaiserreichs, indem die Tier-Mensch-Kontaktzonen neu abgesteckt und ausgeleuchtet werden. Das überdies sprachlich sehr stilvolle Buch ist Tierhistoriker*innen, Umwelthistoriker*innen und an der Neuen Politikgeschichte Interessierten gleichermaßen als Lektüre zu empfehlen.