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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Peter Fauser (Hg.)

Länderwechsel – Kultur(aus)tausch. Historische Erfahrungen von Migration und Integration in Thüringen. Beiträge des Kolloquiums „Länderwechsel – Kulturaustausch?“ am 2. April 2017 in Erfurt

(Schriften der Volkskundlichen Beratungs- und Dokumentationsstelle für Thüringen 59), Erfurt 2019, Volkskundliche Beratungs- und Dokumentationsstelle für Thüringen, 125 Seiten mit Abbildungen und Karten, ISSN 1619-5698


Rezensiert von Henrik Schwanitz
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 15.09.2021

Der vorliegende, an sich schmale, aber dennoch inhaltsreiche Band zu historischen Migrationsprozessen in Thüringen ist das Resultat einer im Jahr 2017 in Erfurt stattgefundenen Veranstaltung der Volkskundlichen Beratungs- und Dokumentationsstelle für Thüringen. Ziel des Kolloquiums und des Bandes – so lassen die Vorbemerkungen verlauten – sei es, zu zeigen, dass Migration in beziehungsweise nach Thüringen kein Phänomen der Gegenwart ist, sondern vielmehr mit einer Vielzahl historischer Erfahrungen verbunden ist. Das hochaktuelle Thema der Migration soll auf diese Weise historisiert und die Mobilität von Individuen und Menschengruppen als „Normalfall“ im historischen Prozess dargestellt werden. Der Band fügt sich damit in die Reihe der Publikationen zur historischen Migrationsforschung ein, wobei er einen volkskundlichen beziehungsweise sozial- und kulturwissenschaftlichen Zugang wählt. Die Beiträge zielten nicht auf die Frage, wie und wann Menschen nach Thüringen migriert sind, sondern vor allem darauf, welche Erfahrungen sie hierbei gemacht haben und wie sich das nicht immer problemfreie Verhältnis zur neuen sowie zur alten Heimat gestaltet. Ein Themenfeld, das auch der erste inhaltliche Beitrag eröffnet.
Friedemann Schmoll, Inhaber des Lehrstuhls für Volkskunde am Seminar für Volkskunde/Kulturgeschichte der Universität Jena, wendet sich in seinem Auftaktbeitrag allgemein dem Phänomen Migration und der Erfahrung von Beheimatung und Fremdheit beziehungsweise Fremdsein zu. Denn der Länderwechsel – dies deutet auch der Veranstaltungs- und Sammelbandtitel an – provoziert immer auch die Frage nach dem Umgang mit der verinnerlichten Kultur nach dem räumlichen Wechsel von der Heimat in die Fremde und ob diese wiederum Heimat werden kann. Heimat und Fremde sind dem konsequenterweise folgend für Schmoll die zentralen Begriffe zum Verständnis des Phänomens „Migration“. Und so nimmt der Autor hier vor allem die momentan in den verschiedensten Formaten intensiv diskutierte Frage auf: „Was ist Heimat?“ (13), wobei er insbesondere die Unschärfen und die Verschwommenheit des Begriffs hervorhebt. Dabei sieht er aber besonders die Gemeinsamkeit darin, dass alle Vorstellungen von Heimat etwas mit Bindung zu tun haben (sei es zu Räumen, Orten, Personen oder kulturellen Aspekten wie Herkunft und Sprache). Diesen Bindungen nachzugehen sei daher zentral für die Auseinandersetzung mit dem Thema Migration.
Die folgenden Beiträge widmen sich verschiedenen historischen Einzelperspektiven auf das Themenfeld Migration. Während in den Vorbemerkungen auch mittelalterliche Migrationsbewegungen angesprochen werden, konzentrieren sich die Beiträge vor allem auf die jüngere Vergangenheit. Eine Ausnahme stellen dabei die Aufsätze von Matthias Hensel und Pauline Lörzer dar. Der Beitrag von Hensel, der sich mit einem Kolonieprojekt aus der Mitte des 18. Jahrhunderts im damals zu Preußen zählenden nordthüringischen Ort Kleinberndten beschäftigt, hält dabei durchaus überraschende Erkenntnisse bereit. Denn die Kolonisten stammten zum Teil aus nur wenige Kilometer entfernten Ortschaften, die zu Kurmainz und damit zum „Ausland“ gehörten. Trotz dieser räumlichen Nähe wurde dem staatlich angeordneten Kolonieprojekt seitens der Dorfbewohner mit Ablehnung begegnet. Dies lag vor allem auch an den zahlreichen Vergünstigungen, die die Kolonisten aufgrund staatlicher Edikte im Preußen Friedrichs II. erhielten, sowie an der vermeintlichen Störung des Gemeindelebens durch die Fremden. Hensel zeigt, wie bis weit in das 19. Jahrhundert hinein diese Trennung im Dorf weiterlebte und sich etwa in der Architektur, in Flurnamen, aber auch in der kollektiven Wahrnehmung widerspiegelte.
Nicht einer Gruppe, sondern einer einzelnen Person widmet sich Pauline Lörzer in ihrem mikrohistorischen Beitrag, an dessen Anfang, wie die Autorin recht passend und in Anlehnung an Thomas Nipperdeys Meistererzählung darlegt, Napoleon steht. Denn ihr Beitrag fokussiert auf Gabriel Iwan, einen wahrscheinlich aus Polen stammenden Soldaten der napoleonischen Armee, den der Vierte Koalitionskrieg und die Schlacht bei Jena und Auerstedt 1806 in die Gegend um Jena (genauer nach Camburg) brachte. Die Autorin zeigt deutlich, dass Heimat, bevor sie mit der Industrialisierung zum Gefühl wurde, in der Vormoderne vor allem ein rechtlicher Begriff war. Anhand archivalischer Quellen stellt sie den langen Kampf Iwans um die Anerkennung des Heimatrechts dar, der mit vielen Misserfolgen und stereotypen Vorurteilen gegenüber dem Fremden einherging. Zugleich zeigt sich aber auch, wie der als Fremder Wahrgenommene sich auch als ebensolcher – natürlich nach dem erfolgreichen Erhalt des Heimatrechts – inszenierte.
Nach diesen Ausflügen in das 18. Jahrhundert beziehungsweise an die Epochenschwelle um 1800 wagt der Band einen zeitlich gesehen großen Sprung. So befasst sich Lilia Uslowa mit ostdeutschen Identitäten vor und nach 1990. Hierbei fokussiert die Autorin aber weniger auf die DDR-Bürger als auf „Ausländer, die in die DDR im Rahmen des sozialistischen Austausches als Fachkräfte, Ärzte, Wissenschaftler, Studenten, Künstler und Akademiker“ gekommen sind (61). Der Beitrag thematisiert somit das Verhältnis von DDR-Bürger_innen und den in der DDR lebenden Bürger_innen sozialistischer „Bruderstaaten“, wobei die untersuchten ausländischen Personengruppen in der DDR ambivalente Erfahrungen gemacht haben: Einerseits Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben sowie am Arbeitsalltag, andererseits aber auch Ablehnung und stereotype Einordnungen. Aufmerksamkeit verdient dabei unter anderem der Befund der Erfahrung vom biografischen Bruch und von Fremdheit im vereinten Deutschland, die sowohl den DDR-Bürger_innen als auch den ausländischen Personengruppen gemeinsam ist.
Der Nachwendezeit widmet sich auch Oliver Wurzbacher in seinem Beitrag, in dem ein seit mehr als 25 Jahren in Deutschland tätiger syrischstämmiger Arzt im Mittelpunkt steht. In den geführten Interviews zeigt sich, dass Heimat nicht nur in der Einzahl existiert, sondern vielmehr auch von Heimaten gesprochen werden kann, die unterschiedlich konnotiert sein können. Syrien steht dabei für das Vergangene, aber auch für die familiären Bindungen, während der Bezug zur deutschen Heimat durch das soziale Umfeld, vor allem aber durch berufliche und ehrenamtliche Handlungsmöglichkeiten hergestellt wird. Wurzbacher verweist auf die Prozesshaftigkeit des „Heimatbildens“ oder der „Beheimatung“ (80). Heimat erscheint in diesem Beitrag nicht als Zustand, sondern als aktive Handlung.
Während das Beispiel des aus Syrien stammenden Arztes eine vergleichsweise problemlose Beheimatung beschreibt, verweist der Aufsatz von Kathrin Pöge-Alder auf Migrationserfahrungen, die zwischen „Verlust und Gewinn“ pendeln (93). Die Autorin verdeutlicht dies am Beispiel der Migration von Russlanddeutschen. Anhand von zwei Leitlinien – „Sprache“ und „Herz“ – sowie ausgewählten Interviewpartnern werden die Erfahrungen des Länder- und Kulturwechsels dargestellt. Dabei zeigt sich, wie Sprache als vordergründiges Identifikationsmedium wirken kann, das im Falle der Russlanddeutschen etwa dazu führt, innerhalb der russischen Gesellschaft wegen der deutschen Sprache Ausgrenzung zu erfahren, während in Deutschland die Nutzung der russischer Sprache wiederum zu Fremdheitserfahrungen und der Zuschreibung als Fremde führt. Wiederum zeigt sich in einzelnen Fällen – und hier spielt auch das „Herz“ eine Rolle – die zweifache „Heimat“: in Deutschland und Russland, die in manchen Fällen aber auch zum Gefühl des „nirgendwo-heimisch-Seins“ führen kann.
Dem Sammelband hinzugefügt ist ein älterer Text aus der Zeit um 1970 von Adelheid Schleitz, den die Verfasserin im Jahr 2000 der Beratungsstelle übergeben hat. Da er von der Thematik her passt, wurde er mit abgedruckt. Er behandelt bayerische und tschechische Arbeiter in der Weidaer Jutespinnerei und -weberei zwischen 1898 und 1914. Der Beitrag nimmt somit die bisher weit weniger erforschte kleinräumige Arbeitsmigration in den Blick, wie sie etwa auch von Katrin Lehnert und Lutz Vogel am Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde untersucht wurde. [1]
Ein abschließender Beitrag fasst das Ausstellungsprojekt „Neue Heimat. Wege und Umwege“ zusammen, in dem 2017 im Thüringer Museum für Volkskunde anhand von elf ausgewählten Lebensläufen das Themenfeld Migration, Heimatverlust und Heimatgewinn sowie Identität erörtert wurde. Der Beitrag selbst gibt knapp die wichtigsten Informationen zu den einzelnen Biografien wieder.
Insgesamt kann dieser Band mit Gewinn gelesen werden, wie ein jeder Band, der Migration nicht als einen Sonderfall, sondern als Normalfall in der Geschichte einer Region oder eines Landes darstellt. Dabei weckte der Titel in Teilen andere Erwartungen, als der Inhalt letztendlich Preis gibt. Denn vor allem stehen der Begriff und die Vorstellungen von „Heimat“ im Fokus sowie der Prozess der Beheimatung, die Erfahrung des Fremdseins, des Verlusts, aber auch des Gewinns und der Integration. Letztendlich jedoch kann Migration nicht nur auf die Frage nach der Heimat beschränkt werden und gerade, wenn von einem Kulturaustausch die Rede ist, werden Fragen zum Wissenstransfer und Ähnlichem geweckt. Der Zugang des vorliegenden Bandes ist ein gänzlich anderer und vor allem an Personen und Personengruppen orientiert, an ihren Zeugnissen und Äußerungen, eben an ihren Erfahrungen im konkreten Fall. Und so ist dieser Band geeignet, um Migration im Falle Thüringens darzustellen und davon ausgehend dem Normalfall Migration nachzugehen.

Anmerkung


[1] Katrin Lehnert: Die Un-Ordnung der Grenze. Mobiler Alltag zwischen Sachsen und Böhmen und die Produktion von Migration im 19. Jahrhundert (Schriften zur sächsischen Geschichte und Volkskunde, Bd. 56). Leipzig 2017; Lutz Vogel: Aufnehmen oder Abweisen? Kleinräumige Migration und Einbürgerungspraxis in der sächsischen Oberlausitz, 1815–1871 (Schriften zur sächsischen Geschichte und Volkskunde, Bd. 47). Leipzig 2014.