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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Marion Näser-Lather

Ein Land für Frauen. Ethnographie der italienischen Frauenbewegung „Se Non Ora Quando?“

Münster/New York 2019, Waxmann, 397 Seiten mit Abbildungen, Diagrammen, Karten, ISBN 978-3-8309-4031-9


Rezensiert von Nadine Wagener-Böck
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 15.09.2021

Ausgelöst durch seine bekannt gewordene Affäre mit einer noch nicht volljährigen Tänzerin gingen am 13. Februar 2011 in ganz Italien Bürger*innen gegen die Regierung des damaligen Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi auf die Straße. Die Demonstrationen hatten das Motto „Se Non Ora Quando?“ – in der Übersetzung: Wenn nicht jetzt, wann dann? In Folge formierte sich eine Frauenbewegung gleichen Namens, deren politischen Zielen und den damit einhergehenden Strukturbildungsprozessen und Interaktionsformen sich die hier zu besprechende Habilitationsschrift der Europäischen Ethnologin Marion Näser-Lather widmet.
Die Autorin trifft zu Beginn zwei Feststellungen: jene, dass Frauenbewegungen „in den Denk- und Möglichkeitsräumen ihrer zeitlichen und kulturellen Situiertheit“ (9) verhaftet seien, und jene, dass „technische Umwelten […] als raum- und zeitkonstituierende Dispositive verstanden werden [können, NWB], deren Bestandteile je eigene Objektpotentiale und Aneignungsmöglichkeiten“ (9) aufwiesen. Diese Feststellungen bilden den Startpunkt, die vielfältigen Verflechtungen von Diskursen, Praxen und medialen Infrastrukturen zu betrachten, in denen sich die Möglichkeitsräume und Handlungspotentiale der Bewegung „Se Non Ora Quando?“ ergeben. Von besonderem Interesse sind für Näser-Lather dabei der „Einsatz digitaler Medien“, deren Wirkmächtigkeit und daran anschließend die Reflexion der „Bedeutung des Digitalen für das Politische“ (9).
Die ersten beiden der insgesamt sieben Kapitel umfassenden Monografie führen sowohl in Gegenstand als auch in analytische Zugriffe ein. Zunächst wird diese Forschungsperspektive vor dem Hintergrund der zentralen wissenschaftlichen Diskurse um Medieninfrastrukturen und soziale Bewegungs- beziehungsweise Protestformen entwickelt. Dabei verknüpft die Autorin methodologische Überlegungen mit den im Verlauf der Arbeit verwendeten Konzepten aus dem Bereich der Bewegungs- und Medienforschung, was zu einer beachtlichen Anzahl an konkreten Fragen an das Feld führt. Auch werden Kernbegriffe der Arbeit und analytische Perspektivierungen erörtert.
Die Einführung beherbergt zudem die Vorstellung des Forschungsdesigns, welches nicht nur im Sinne einer „multi-sited“ und „multi-temporal ethnography“ (26), sondern mit Daniel Miller und Don Slater entsprechend des Forschungsinteresses auch als „multi-websited“ (26) verstanden wird. Für die Ethnografie wurden zwischen 2012 und 2015 60 Interviews mit Aktivist*innen der Frauenbewegung geführt und 34 teilnehmende Beobachtungen bei deren Aktivitäten unternommen. Anzumerken ist, dass im Verlauf der Arbeit kaum auf Schilderungen aus dem Feldtagebuch zurückgegriffen wird. Dies lässt hier und da eine Nähe zur Alltagspraxis der Aktivist*innen vermissen. Bemerkenswert hingegen ist die sensible wie ehrliche Auseinandersetzung mit der Problematik des Fremdseins, die in der Darlegung und Diskussion ihres methodischen Vorgehens präsentiert wird. Näser-Lather thematisiert insbesondere die Herausforderungen, die sich unter anderem daraus ergaben, sich mit den eigenen wie im Feld vorhandenen Imaginationen und Stereotypen auseinanderzusetzen, die mit der Mittelmeerregion im Allgemeinen und Italien im Besonderen verknüpft sind.
Das zweite Kapitel thematisiert politische Kontexte und sich daraus ergebende Ziele der Bewegung. Anhand der Analyse von Statements der Bewegung wird das Selbstverständnis der Frauenbewegung nachgezeichnet. Diese Kontextualisierungen sind hilfreich, denn nicht alle Leser*innen werden mit den politischen Kontexten Italiens und der Lebenswelt der Frauen vertraut sein, die deren Engagement begründen. Die ethnografische Begleitung der Aktivist*innen der „Se Non Ora Quando?“ Florenz und Reggio di Calabria, ihrer internen Organisation und Kommunikation und ihrer Protestformen, gibt diesbezüglich weitere Einblicke und zeigt, wie stark der Einfluss regionaler Problemlagen ist. Als Gemeinsamkeit beider Gruppen lässt sich nach Näser-Lather die Wirkmächtigkeit von Denkweisen der Frauenbewegung der 1970er Jahre ausmachen (136).
Im Folgenden widmet sich die Autorin dann detailliert den Strukturen und der Entwicklung der Bewegung. Sie zeichnet Spannungen und Konfliktlinien nach, die eine Umstrukturierung der Organisationsformen auf nationaler Ebene anstießen und eine Konsolidierung „Se Non Ora Quando?s“ lediglich vereinzelt und letztlich nur auf lokaler Ebene zur Folge hatten. Mit Hinweis auf das Konzept der sozialen Automatismen arbeitet sie zum Beispiel heraus, dass die Etablierung von Hierarchien durch das Gründungskomitee konfliktträchtig war, während Hierarchien, die auf lokaler und nationaler Ebene entstanden, demgegenüber kaum als problematisch von den Akteur*innen erörtert wurden. Des Weiteren werden die feministischen Positionen der Bewegung analysiert, die vor allem in Auseinandersetzung und teils abgrenzender Bezugnahme auf feministisches Engagement der 1970er Jahre heraus entstehen und verstehbar werden. Differenziert arbeitet Näser-Lather die unterschiedlichen Konzeptionen des „transversalen Ansatz[es]“ (191) und die Konstruktion von Geschlecht heraus. Auf diese Weise erklären sich die in den vorherigen Kapiteln thematisierten Problematiken der Bewegung, da Widersprüchlichkeiten und Unvereinbarkeiten in den feministischen Haltungen der befragten Aktivist*innen ersichtlich werden.
Der Einfluss der feministischen Bewegung der 1970er Jahre ist auch für die Interaktions-, Kommunikations- und Protestformen von „Se Non Ora Quando?“ auszumachen. So wird beispielsweise herausgearbeitet, wie das dem Differenzfeminismus der 1970er Jahren entstammende Präferieren von Vertrauensbeziehungen den Gebrauch von digitalen Medien wie Facebook hinsichtlich der Meinungsbildung beeinflusst. Dieses sechste Kapitel rückt mit seiner ethnografischen Vignette, seinen Fotos von Protestformen und Screenshots der Onlinekommunikation wieder näher an die Lebenswelt der Frauen heran. Dadurch gelingt nicht nur, die aus den 1970er Jahren übernommenen „feeling rules“ (218, im Original kursiv) greifbar zu machen. Es wird zudem aufgezeigt, wie die Praxis des Protests und die Medienpraxis durch die kritisierten gesellschaftlichen Verhältnisse etwa in Hinblick auf die Vereinbarkeit von Aktivismus und familialer Sorgearbeit geprägt sind und diese mithin reproduzieren.
Die Ausführungen zu „Se Non Ora Quando?“ enden mit einer recht ausführlich geratenen Reflexion. Die Autorin bedient sich hier des Konzepts der Assemblage, um das Zusammenspiel der einzelnen Wirkfaktoren zu veranschaulichen. Mittels verschiedener Visualisierungen werden Relationen und Wirkzusammenhänge auf den Punkt gebracht, bevor der Versuch einer Einordnung der italienischen „Se Non Ora Quando?“ in die internationale Bewegungslandschaft sowie eine Bilanzierung hinsichtlich ihrer Erfolge vorgenommen wird. Die Monografie schließt mit Überlegungen zur „Möglichkeit politischen Handelns auf der Basis der Kategorie Geschlecht“ (328).
Marion Näser-Lather gelingt es gekonnt und eindrücklich, Komplexität und Widersprüchlichkeit der Frauenbewegung „Se Non Ora Quando?“ herauszuarbeiten, die sich aus dem Anspruch ergaben, in Italien „ein Land für Frauen“ zu erschaffen. Die Komplexität spiegelt sich auch im Aufbau der Arbeit wider, was für Leser*innen Herausforderung und Stärke zugleich ist. Einerseits werden früh und mehrfach wesentliche Konzepte und Kontexte erwähnt, die in ihrer Relevanz für die Analyse jedoch erst spät ausgearbeitet werden. Dies führt zu Wiederholungen. Andererseits wird durch einen intensiven Gebrauch der Interviews ein vielstimmiger Text kreiert, der die konfligierenden internen Positionen sowohl innerhalb der lokalen Komitees als auch der nationalen Zusammenschlüsse greifbar macht. Festzuhalten bleibt, dass hier eine detail- und kenntnisreiche sowie nuancierte Analyse der italienischen Frauenbewegung vorliegt, die allen ans Herz gelegt sei, die sich für soziale Bewegungen in einer digitalen Welt allgemein und Frauenbewegungen und die damit verbundenen feministischen Positionen im Besonderen interessieren. Für beide Forschungsfelder leistet die Arbeit von Marion Näser-Lather einen wesentlichen Beitrag.