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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Aktuelle Rezensionen


Vincent Regente

Flucht und Vertreibung in europäischen Museen. Deutsche, polnische und tschechische Perspektiven im Vergleich

(Public History – Angewandte Geschichte 3), Bielefeld 2020, transcript, 646 Seiten, ISBN 978-3-8376-5169-0


Rezensiert von Tobias Weger
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 15.09.2021

Angesichts der unzähligen wissenschaftlichen Beiträge, die in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten zum Themenkomplex „Flucht und Vertreibung der Deutschen aus dem östlichen Europa“ veröffentlicht wurden, die Orientierung zu behalten, fällt selbst Fachleuten auf diesem Gebiet inzwischen nicht mehr leicht. Auffällig ist, dass die überwiegende Mehrheit dieser Publikationen sich mit Aspekten der Erinnerung an die damaligen Ereignisse befassen: Sie thematisieren individuelle Gedächtnisarbeit sowie kollektive Praktiken und Medien – von Denkmälern über künstlerische Artefakte bis hin zu geschichtspolitischen Diskursen. Auch über die Präsentation oder Verarbeitung des Themas in Ausstellungen und Museen ist in der Vergangenheit anlassbezogen immer wieder geschrieben worden.
Der Historiker Vincent Regente, inzwischen Mitarbeiter der Deutschen Gesellschaft e. V. in Berlin, hat ungeachtet dessen im Jahr 2020 eine umfangreiche Dissertation zu diesem Thema vorgelegt. Deren Erkenntnisgewinn postuliert er selbst in einer europäischen Sichtweise, indem er – so legt es der Untertitel seines Buches nahe – deutsche, polnische und tschechische Perspektiven im Vergleich behandelt. Nach einem einleitenden Kapitel mit Begriffsklärungen und einem theoretisch-methodischen Abschnitt, in dem Regente seine Leserschaft mit dem geschichtlichen Vergleich, mit Erinnerungskultur, Geschichtspolitik, Diskursanalyse und Aspekten der Museologie vertraut macht, rekapituliert er die Ereignisgeschichte von „Flucht und Vertreibung“, um sich sodann der Diskursgeschichte vor und nach 1989 zuzuwenden, wobei vor allem Erkenntnisse der bisherigen Forschungsliteratur zusammengefasst werden. Allerdings werden – man möchte hinzufügen: notgedrungen – nicht alle nationalen Diskurse (des bis 1989 geteilten) Deutschlands, Polens und der Tschechoslowakei respektive Tschechiens rezipiert, was sich wiederum in der Synthese der Arbeit niederschlägt.
Im Hauptteil seiner Arbeit untersucht Vincent Regente vier „Regionalhistorische Museen“ (Kapitel 6) und drei Einrichtungen „mit europäischem Anspruch“ (Kapitel 7). Vorgestellt werden jeweils die Geschichte der einzelnen Häuser, ihre Struktur und ihr Tätigkeitsprofil, ihr Anspruch, ihre Dauer- und Sonderausstellungen sowie deren Rezeption. In die Kategorie regionalhistorischer Museen fallen im Verständnis des Autors das Schlesische Museum zu Görlitz, das Schlesische Museum in Kattowitz (Muzeum Śląskie w Katowicach) und zwei Institutionen, die bei Abschluss der Dissertation noch nicht für Besucher*innen zugänglich waren: das Sudetendeutsche Museum in München und das Museum der deutschsprachigen Bewohner Böhmens in Ústí nad Labem (Aussig). Hier erweist sich eine erste Schwierigkeit des Vergleichs: Das Görlitzer Museum beruht auf einer komplexen Stiftungsstruktur und wird, ähnlich wie das Sudetendeutsche Museum in München, aus Mitteln nach § 96 BVFG von der Bundesrepublik Deutschland und dem Bundesland, in dem sich das Museum befindet (Freistaat Sachsen, Freistaat Bayern), finanziert, wobei Interessensvertretungen ein starkes inhaltliches Mitspracherecht haben. Das Museum in Kattowitz ist eine Einrichtung der Wojewodschaft Schlesien (hier hätte vom Autor das deutsch-polnische semantische Differenzial „Schlesien“/„Śląsk“ stärker akzentuiert werden müssen), während die Einrichtung in Aussig (genau genommen eine Dauerausstellung innerhalb eines Stadtmuseums) von einem gemeinnützigem Verein, dem Collegium Bohemicum, getragen wird und als zivilgesellschaftliche Schöpfung stets um staatliche Unterstützung ringen muss. Da es mit Ausnahme der Besatzungsjahre 1938–1945 nie eine Region „Sudetenland“ gegeben hat, ist das Sudetendeutsche Museum kein Regionalmuseum, sondern das Museum der sich selbst als „Volksgruppe“ deklarierenden Sudetendeutschen, die in Bayern seit den 1950er Jahren als „vierter Stamm“ gelten.
Auch die drei Häuser der zweiten Kategorie lassen sich nur schwer miteinander vergleichen: Die „Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ entstand als deutsches Regierungsprojekt, um einer vorausgegangenen Initiative des Bundes der Vertriebenen (BdV) ein öffentlich und international vermittelbares Gesicht zu verleihen; das Museum des Zweiten Weltkriegs in Danzig (Muzeum II wojny światowej w Gdańsku) ist ein polnisches Regierungsprojekt aus der Phase der liberalen Regierung Donald Tusks, und einzig das vom Europäischen Parlament initiierte Haus der Europäischen Geschichte (Maison de l’histoire européenne) in Brüssel (Bruxelles/Brussel) kann für sich in Anspruch nehmen, eine europäische Einrichtung zu sein, auch wenn sich die ersten beiden Häuser bemühten, durch entsprechende Gremienbesetzungen eine Internationalisierung ihrer Arbeit zu erzielen.
Im Ergebnis kritisiert Vincent Regente, dass gerade dort, wo in Ausstellungen eine zu starke Kontextualisierung von Flucht und Vertreibung in die gesamteuropäische Geschichte und den vorausgegangenen Zweiten Weltkrieg stattfinde, die Verantwortung Polens beziehungsweise der Tschechoslowakei in der unmittelbaren Nachkriegszeit nicht ausreichend behandelt werde. Dieses Monendum bringt er etwa gegenüber dem Schlesischen Museum in Görlitz vor. Dabei scheint ihm nicht bewusst gewesen zu sein, dass gerade das unmittelbar an der deutsch-polnischen Grenze gelegene Museum in Görlitz inzwischen zu einer wichtigen Anlaufstelle für polnische Schulklassen aus der benachbarten Wojewodschaft Niederschlesien geworden ist – als kulturhistorischer Lernort für die Wissensvermittlung zur Regionalgeschichte Schlesiens. Insofern erfüllt gerade dieses Museum die vom Autor eingeforderte dialogische, aufklärerische Funktion, zumal die zweisprachige Beschriftung auch einen unmittelbaren Zugang ermöglicht.
Als Manko der Arbeit erweist sich das Fehlen einer Perspektive der „longue durée“, auch wenn diese vermutlich von einer Dissertation gar nicht erwartet werden kann. Von den behandelten Museen besitzt das bereits vor dem Zweiten Weltkrieg gegründete in Kattowitz die älteste institutionalisierte Geschichte. Zum Verständnis aktueller Ausstellungen wäre es wichtig gewesen, alle Ausstellungen zur Erinnerung an Flucht und Vertreibung in der Bundesrepublik Deutschland seit 1949 stärker in den Blick zu nehmen. Da eine solche Mammutaufgabe von einem einzelnen Doktoranden gar nicht geleistet werden kann, hätte vermutlich eine solche Arbeit von dem betreuenden Lehrstuhl gar nicht vergeben werden dürfen – er hätte besser daran getan, Teilaspekte durch einen ganzen Forschungsverbund bearbeiten zu lassen. Denn staatliche Einrichtungen, die einzelnen landsmannschaftlichen Organisationen, ihre Heimatsammlungen und deutsche regionale Museen haben bereits lange vor 1989 das Thema museal präsentiert. Auf den dadurch mitgeprägten Diskurs bauen heutige Geschichtsauffassungen in Deutschland auf. Keines der besprochenen Häuser ist gewissermaßen „vom Himmel gefallen“: Ideen für ein Sudetendeutsches Museum (sowohl in der Tschechoslowakei als auch in Österreich) gab es bereits in der Zwischenkriegszeit, und auch die übrigen Einrichtungen haben ihre Vorgeschichte(n).
Eine Anmerkung zur grundsätzlichen Anlage der Studie: Der historische Vergleich ist eine beliebte Methode, bei der im besten Fall die Konfrontation eines Untersuchungsgegenstandes mit synchronen oder diachronen Phänomenen zur Schärfung des Blickes führen kann. Er wird häufig postuliert, aber in den seltensten Fällen erfolgreich durchgeführt, da dafür die gleichberechtigte Kenntnis aller Vergleichsobjekte, der relevanten Sprachen und der Kontexte Voraussetzung ist. Auch hier wurde ein Ziel angestrebt, das im Rahmen einer Dissertation nicht erreicht werden kann. Ein Blick ins Literaturverzeichnis erweist, dass der Autor zwar zahlreiche polnische und tschechische Veröffentlichungen zitiert, die meisten jedoch in einer deutschen oder englischen Übertragung. Das Verzeichnis der Sekundärliteratur umfasst 18 polnische und zwei tschechische Originaltitel; wenn man jedoch weiß, wie selektiv Übersetzungen auch wichtiger Werke aufgrund der hohen Kosten vorgenommen werden, so werden die groben Maschen des Siebes sichtbar, durch das viele beachtenswerte Diskursbeiträge und wissenschaftliche Erkenntnisse in den behandelten Ländern gefallen sind. Hinzu kommt, dass sich Quellen und Sekundärliteratur in diesem hoch emotional behandelten Thema oftmals nicht klar voneinander unterscheiden lassen. Die Schriften von Alfred de Zayas zum Beispiel, oftmals auf sehr dünnem faktografischem Eis verfasst, hätte man wohl eher bei den „Quellen“ vermutet.
Beim Lesen der Arbeit fällt auf, dass weite Strecken des Textes durch normative Sprache und die Empfehlungen, was historische Ausstellungen leisten sollten und was nicht, einen politischen Überzeugungsduktus tragen, was leider auf Kosten eine tiefer gehenden geschichtswissenschaftlichen Analyse geht. Ein wirklicher europäischer Vergleich beim Thema „Flucht und Vertreibung“ ist ein viel zu hoch angesetzter Anspruch für ein einzelnes Buch. Er lässt sich auch nicht auf das (vermutlich wegen der unmittelbaren Nachbarschaft) immer wieder gerne betrachtete Dreieck Deutschland – Polen – Tschechien reduzieren. Solch ein Vergleich müsste auch Länder wie Ungarn, Rumänien, Jugoslawien und die Nachfolgestaaten der einstigen UdSSR mitberücksichtigen – eine Herkulesaufgabe, die von einer Einzelperson nicht zu bewältigen ist. Die in der Einleitung angekündigte „Bilanz über die Erinnerungskultur an Flucht und Vertreibung in Deutschland, Polen und Tschechien sowie auf europäischer Ebene“ auf der Grundlage „der Ausstellungsuntersuchungen und der Diskursgeschichte“ kann dieses Buch trotz seines Umfangs leider nicht leisten (16). Eine angemessene museale Präsentation dieses Themenfeldes wird ohnehin erst möglich sein, wenn die Geschichte und Kultur der deutschen Minderheiten im östlichen Europa beziehungsweise der Bewohner*innen der historischen deutschen Ostprovinzen im 20. Jahrhundert vollständig historisch aufgearbeitet sein werden. Bis dahin haben Historikerinnen und Historiker noch einen weiten Weg vor sich – es wäre an der Zeit, nach dem „Erinnerungsboom“ der letzten Jahre wieder etwas mehr Realhistorie zu betreiben.