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Lioba Keller-Drescher
Vom Wissen zur Wissenschaft. Ressourcen und Strategien regionaler Ethnografie (1820–1950)
(Veröffentlichungen der Kommission für Geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg, Reihe B: Forschungen 215), Stuttgart 2017, Kohlhammer, XXXII, 325 Seiten, ISBN 978-3-17-033574-5
Rezensiert von Hermann Wellner
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 27.09.2021
Der retrospektive Blick auf die eigene Fachgeschichte ist bereits seit langem ein bedeutender Teil volkskundlichen/kulturwissenschaftlichen/ethnografischen Forschens. Durch dieses reflektierte Zurückschauen hat sich das Fach bis heute einen vielfältigen Werkzeugkasten erarbeitet, mit dem es nicht nur historische Fragestellungen behandeln, sondern es vor allem auch gegenwärtige Probleme beobachten, nachzeichnen und analysieren kann. Hierbei ist der Blick auf vergangene Projekte immer lohnenswert.
Lioba Keller-Drescher liefert mit ihrer Tübinger Habilitationsschrift einen solchen Blick zurück auf „Ressourcen und Strategien regionaler Ethnografie (1820–1950)“. „Vom Wissen zur Wissenschaft“ zeichnet in fünf Zeitschnitten die Entwicklung volkskundlich-landeskundlicher Forschung nach und strukturiert so die Entstehungsgeschichte der Volkskunde/Empirischen Kulturwissenschaft/Europäischen Ethnologie/Kulturanthropologie/etc. Die Arbeit ist im Rahmen des DFG-Forschungsverbundes „Volkskundliches Wissen und gesellschaftlicher Wissenstransfer: zur Produktion kultureller Wissensformate im 20. Jahrhundert“ entstanden, an dem neben Tübingen die Standorte Berlin, Frankfurt am Main, Göttingen und Kiel beteiligt waren beziehungsweise sind. Diese Einbindung prägt die theoretische Basis der Arbeit. So will die Studie „mit einem wissensanthropologischen Konzept die Wissenschaftsforschung weiterentwickeln“ (3). Die Autorin erläutert hier schlüssig, dass „die Akzentverschiebung der Wissenschaftsforschung hin zu einer Erforschung wissenschaftlichen Wissens […] dieses Feld damit der empirischen Forschung“ öffne und es „sozialwissenschaftlich-hermeneutischen Konzepten und Methoden im Sinne einer Wissensanthropologie zugänglich“ mache (3). In diesem Bereich zwischen Wissenschafts- und Wissensforschung verortet Keller-Drescher ihre regionale Studie am Beispiel der württembergischen Volkskunde des 19. und 20. Jahrhunderts als eine „Wissensgeschichte regionaler Ethnografie“ (13). Hierbei nimmt sie zugleich die Makroebene der Institutionengeschichte wie auch die Mikroebene von einzelnen Akteuren in den Blick, was die Arbeit sehr spannend zu lesen macht.
Keller-Drescher rahmt die Arbeit dann auch durch eine zentrale Figur der württembergischen Volkskunde. Prof. Dr. Karl Bohnenberger (1863–1951) war seit 1899 außerordentlicher und von 1921 bis 1930 ordentlicher Professor für deutsche Sprache, Literatur und Volkskunde an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen. Ausgehend von Bohnenberger zeigt die Autorin ein „Beziehungsgeflecht“ auf, „das zurückführt bis ins 19. Jahrhundert und bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhundert reicht“ (2). Eben diesem Netzwerk begegnet der/die Leser*in in den jeweiligen Kapiteln immer wieder.
Ein umfangreiches Konvolut an Behörden- und Personennachlässen und Publikationen zu den einzelnen Institutionen und Akteuren zählt zu den Primärquellen der Arbeit. Keller-Drescher stellt am Beispiel Württembergs eine ideale Überlieferungssituation für ihre Forschungsinteressen fest, da „mit dem ab 1802 geschaffenen Flächenstaat ein zusammenhängendes Territorium entsteht, dessen Wissensproduktion ausreichend Material erzeugt und über die Produktionsweisen Archivüberlieferungen gebildet hat, insbesondere über die anerkannt vorbildliche Landesbeschreibung mit immer wieder neu aufgelegten Wissensformaten wie Oberamtsbeschreibungen, Landesbeschreibungen und Kreisbeschreibungen“ (15). Genauere Ausführung über die genutzten Quellengruppen finden sich in den jeweiligen Kapiteln.
Die fünf Zeitschnitte, die sie in ihrer Arbeit behandelt, sind trotz einer ungefähren Zeitangabe nur bedingt zeitlich voneinander zu trennen. Sie konzentrieren sich vielmehr jeweils zudem auf einen thematischen Schwerpunkt. Keller-Drescher beginnt mit dem „Bureau“, das sie im Zeitraum ab 1820 ansiedelt. Die Arbeit des 1820 in Württemberg gegründeten statistisch-topografischen Bureaus steht hier im Zentrum und beispielhaft für die Behördenforschung. Die Autorin zeichnet die unterschiedlichen Unternehmungen nach und zeigt die Struktur der statistischen Erhebungen auf, die zum Nutzen des Staates durchgeführt wurden. Die hier eingerichteten und sich etablierenden Strukturen liefern die Basis für ethnografische Forschungen in weiten Teilen des 19. Jahrhunderts. So sieht sie etwa auch die Forschungen Wilhelm Heinrich Riehls (1823–1897) klar in dieser staatswissenschaftlichen Tradition.
Im zweiten Zeitschnitt richtet Keller-Drescher den Blick auf die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts und die Suche nach „dem Volk“, das den meisten Formaten der Wissensgenerierung zu Grunde lag. Die Akteure bleiben hier laut der Autorin vergleichbar mit den vorangegangenen Formaten, jedoch verschiebt sich der Blick von einem primär staatswissenschaftlichen Interesse hin zur romantischen Suche nach einer „in die (germanische) Vorzeit reichende deutsche Nationalkultur“ (129). Hier identifiziert Keller-Drescher zahlreiche unterschiedliche Erhebungs- und Darstellungsformate, wie Fragebogenerhebungen, Wörterbücher oder Oberamtsbeschreibungen, die sie in vielen Beispielen ausführlich sprechen lässt. Dadurch wird wiederum das umfangreiche Netzwerk aus Personen und Institutionen sichtbar. Zusammenfassend stellt sie fest, dass in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts methodische und praxeologische Fortschritte bei der Generierung von ethnografischem Wissen festzustellen sind, insbesondere durch neue Formen der Zusammenarbeit. „In enger Verbindung mit dem behördlichen Wissensmilieu entwickelte sich – in Gestalt der historisch-landeskundlichen Vereine – ein vereinsmäßig organisiertes und – mit den beteiligten Mitarbeitern – ein wissenschaftsnah operierendes Milieu, das um Lehrerkonferenzen und interessierte Pfarrer in die Fläche hinein nach Bedarf erweitert werden konnte.“ (137)
Diese Struktur wurde ab 1900 weiter vertieft und in unterschiedlichen „Aktionen“ ausgeweitet, wodurch „ein Wissensmilieu entstand, das sich als Netzwerk künftiger Institutionalisierungen verdichten ließ“ (139). Keller-Drescher benennt hierbei vor allem die Entstehung regionalsprachiger Wörterbücher, die Sammlung von Flurnamen oder auch die strukturierte Sammlung volkstümlicher Überlieferungen. Die dabei verwendeten Methoden reichen von umfangreichen Fragebogenerhebungen bis hin zur Systematisierung der Ergebnisse in Zettelkästen. Besonders hebt sie die Ausweitung des Feldes auf den Bereich der „Volksbildung“ (189) hervor. Auch die neugegründeten Vereine, wie der Württembergisch-Hohenzollerische Verein für Volkskunde, spielen hierbei eine große Rolle.
Die Schaffung von Institutionen im Feld der Volkskunde nach dem Ersten Weltkrieg steht im Zentrum des vierten Zeitschnitts. Mit Institutionalisierung meint Keller-Drescher „die Formierung von Wissen und Akteuren in selbstständigen Organisationsformen mit anerkanntem Status, staatlicher Legitimierung und fallweise öffentlicher Finanzierung“ (203). In diese Zeit fällt dann auch die Berufung von Karl Bohnenberger auf eine ordentliche Professur für deutsche Philologie mit der Teil-Denomination Volkskunde 1921. Die Einrichtung der universitären Strukturen steht jedoch nicht im Fokus der Ausführungen. Für die Weimarer Republik stellt Keller-Drescher fest, dass man „eine eigene, regional orientierte Volkskunde“ betrieb, die „sich ausgerichtet am Bedarf des Volksstaates und entlang der bestehenden Strukturen institutionalisierte“ (206). Hier nimmt sie die Institutionalisierung der Denkmalpflege in Württemberg durch das 1920 eingerichtete Landesamt für Denkmalpflege und insbesondere die Abteilung Volkstum (ab 1923) in den Blick. Zusätzlich betrachtet sie die Arbeit der 1891 gegründeten Württembergischen Kommission für Landesgeschichte sowie des 1918 gegründeten Vereins zur Förderung der Volksbildung e. V. Dabei werden die personellen und vor allem auch politischen Verflechtungen der NS-Zeit deutlich gemacht.
Für die Zeit nach 1945 beschreibt Keller-Drescher zunächst eine „dezentrale Situation, die zu verschiedenen Versuchen des Neubeginns führte, aber allmählich wieder zu einem Netzwerk von Aktivitäten und Akteuren wurde“ (269). Dieses Netzwerk betrachtet sie mit einem wissensanthropologischen Ansatz, „wobei hier besonders die Frage der personalen Beziehungen im Sinne von Wissensmilieus als Teil von Gelegenheitsstrukturen in den Blick genommen werden sollen“ (269). Sie stellt fest, dass das Milieu der 1920er Jahre die „entscheidende Rolle für die Reetablierung der württembergischen Volkskunde um 1950“ (297) spielte.
Alle Beispiele, die Keller-Drescher in ihrer Arbeit anführt, gelten zwar für Württemberg, jedoch zeigen sich in den einzelnen Zeitschnitten zahlreiche Parallelen zu anderen Regionen und den dortigen Entwicklungen. Die sehr gut lesbare Studie liefert dadurch nicht nur einen bedeutenden Beitrag zur Fachgeschichte der Volkskunde, Lioba Keller-Dreschers Arbeit ist darüber hinaus wegweisend für die weitere Beschäftigung mit landeskundlichen Quellen und liefert ein Plädoyer für die dringend notwendige Aufarbeitung der vorhandenen Bestände.