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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Ulrich Winzer/Susanne Tauss (Hg.)

„Es hat also jede Sache ihren Gesichtspunct…“. Neue Blicke auf Justus Möser (1720–1794). Beiträge der wissenschaftlichen Tagung vom 14. bis 16. März 2019

(Kulturregion Osnabrück 33), Münster/New York 2020, Waxmann, 366 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-8309-4099-9


Rezensiert von Karl-Heinz Ziessow
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 20.09.2021

„Dem alten, bidern Möser drücktʼ ich zum ersten Male die Hand“, notierte der Oldenburger Kanzleirat Gerhard Anton von Halem 1790 aus Pyrmont, eine Woche nach Antritt seiner Fahrt nach Paris, die er im heimischen Herzogtum hinter dem unauffälligen Vorwand einer Reise in die Schweiz verbarg. Über die gerade einmal ein Jahr alte Revolution im Nachbarland wird Halem sich mit seinem betagten Kollegen aus Osnabrück seinerzeit wohl kaum unterhalten haben. Zu weit lagen die Gedankenwelten des von der Umwälzung Begeisterten, noch nicht einmal Vierzigjährigen, und des der „Pflege seiner edlen Tochter“ anheimgegebenen Siebzigjährigen aus Osnabrück auseinander.
Den vielfach gefeierten und gewürdigten Justus Möser in den ideengeschichtlichen und politischen Kontexten seiner Zeit angemessen einzuordnen, hat es immer wieder der „neue[n] Blicke“ bedurft, wie sie auch jetzt anlässlich seines dreihundertsten Geburtstages von einer großen Zahl von Gelehrten unterschiedlichster Fächer auf einer Tagung des Landschaftsverbandes Osnabrücker Land entfaltet wurden. Dies nicht zuletzt, weil sich offenbar nicht nur in Oldenburg eine sorgsame Verschlüsselung politischer Ambitionen empfahl, sondern sich dies umso mehr in der mit großer Machtfülle ausgestatteten Position eines „Osnabrücker Bürgerregenten“ (Hannelore Oberpenning, 15) gebot, für eine „dem aufklärerischen Ideal der Verbesserung des Staatswesens zwar verpflichtete, pragmatische Argumente jedoch nicht aus den Augen verlierende Persönlichkeit“ (19). Der Begriff der „Maske“ spielte daher, wie die Herausgebenden Ulrich Winzer und Susanne Tauss in ihrer Einleitung betonen, eine zentrale Rolle in den Diskussionen der Tagung. Wie groß die Bandbreite der sozialen Situationen und politischen Positionen tatsächlich war, zwischen denen Justus Möser in seinem publizistischen und administrativen Handeln manövrierte und die ihn zu manchem literarischen Trompe-lʼœil veranlasst haben mag, machen bereits die Beiträge von Gerd van den Heuvel zu Mösers Revolutionskritik, hier mit dem Ausblick auf die in Gesmold bald nach Mösers Tod ausbrechenden Aufstände, und von Christoph Rass zu Mösers „in seiner Brutalität ziemlich modern[em]“ (98) Ansatz zur Regulierung des Hollandgangs deutlich.
Aber nicht nur hier, sondern auch gegenüber den vorherrschenden Ideen seiner Zeit bedurfte es der Kalibrierung Möserscher Auffassungen, um sie seiner Situation und letztlich auch seinem Amtshandeln anzuverwandeln. Wenn Steffen Martus sich den „politischen Stimmungen“ zuwendet, dann steht dabei der realpolitische Hintergrund bei Mösers Auseinandersetzung mit Friedrich II. im Mittelpunkt. Im Feld ästhetischer Positionen wird hier der „Konflikt zwischen souveräner Großmachtpolitik“ und „den reichspolitischen Interessen der Mindermächtigen“ (36) ausgetragen, der in Mösers Plädoyer für „mehr Uneinheitlichkeit“ (37) im Sinne des Alten Reiches einmündet. Auch Peter Nitschke stellt heraus, dass für Möser „das Partikulare und Föderale im Leben der Menschen“ (46) stets im Mittelpunkt stand und ihm zu Unrecht einen Ruf als „Randgänger der großen Debatten“ (45) seiner Zeit eingetragen hat, wohingegen er aus heutiger Sicht eher mit Werner Patzelt als „vorsichtiger Reformer“ (55) in den Verhältnissen seines als Genossenschaft von Eigentümern wahrgenommenen kleinen Territoriums zu interpretieren sei. Auch Frans Willem Lantink bestätigt, dass dieses Alte Reich, wenn man es mit den Augen Mösers zu sehen versucht, „lebendiger und auch reformfähiger [war], als die Nachwelt dachte“ (61).
Es gab also für Möser gute Gründe, sich der Intelligenzblätter und ihres weiten Universums von Publikationsmöglichkeiten zu bedienen, wenn es um reale, pragmatische Veränderung des eigenen Territoriums und um das Werben um Zustimmung bei der dortigen Bevölkerung ging, wie Holger Böning im Anschluss an seine umfangreiche 2017 vorgelegte Monografie überaus kenntnisreich darlegt. Dass Möser mit seiner „Lust am Argumentieren“ und dem „Widerwillen gegen jedes Moralisieren in praktischen Fragen“ (Böning, 214, 220) dabei in einem regen Umfeld agierte, zeigt Frank Stückemann mit dem Blick auf „ein goldenes Jahrzehnt der westfälischen Publizistik und Volksaufklärung“ (240) am Beispiel von Minden, Osnabrück und Lemgo, wobei er nicht zuletzt auch „die durch Möser angestoßene volksaufklärerische Ökumene“ (238) hervorhebt. Mösers im Gegensatz zu Voltaire und Rousseau formuliertes Bild des Menschen als ein „in Gesellschaft und Tradition eingebundene[s] Gemeinschaftswesen“ (115), das Roman Schoenen skizziert, trägt auch die ökonomischen Vorstellungen, die dem praktischen Verwaltungshandeln als Leitlinie dienten. Heike Düselder interpretiert Mösers ökonomische Semantik daher nicht im Bemühen um den „Anschluss an den akademischen Diskurs seiner Zeit“, sondern vor allem „im Sinne einer Güterabwägung“ (120) mit all ihren Ambivalenzen, während Alexander Dietz bei Möser aus heutiger Sicht im Hinblick auf Regionalität, Nachhaltigkeit und Sozialraumorientierung sogar „in vielerlei Hinsicht zukunftsweisend[e]“ (142) Ansätze zu entdecken vermag.
Dass Mösers Überlegungen nicht abstrakten Vorstellungen von Landschaft, Landwirtschaft und Gesellschaft folgten, sondern ihnen ein gediegenes, wenn auch „gegen den Wandel“ (Schimek, 199) gerichtetes Wissen um die eigene Region zugrunde lag, kommt dann in drei weiteren Beiträgen zum Ausdruck. Hansjörg Küster stellt Möser als Motor der frühen Kartierung des Fürstbistums und „Visionär“ (175) eines neuen Landnutzungssystems vor, das erst mit der von Annika Schmitt beschriebenen „Modernisierung der landwirtschaftlichen Praxis“ (177) in greifbare Nähe rückte, deren Möglichkeiten (und Grenzen) ein erheblicher Teil der publizistischen Arbeit des Osnabrücker Beamten gewidmet war. Wie er sich in diesem Bereich für Gemeinheitsteilungen, den Feldfutterbau und die ganzjährige Stallfütterung einsetzte, dabei aber den „sensiblen Punkt einer möglichen Abschaffung der Eigenbehörigkeit“ (183) sorgsam mied, so sprach er sich auch im Hinblick auf das Bauernhaus und das Zusammenleben seiner Bewohner*innen für behutsame Umgestaltungen der „Häuser des Landmanns im Oßnabrückischen“ aus, die „in ihrem Plan die besten“ (202) seien, so der Titel eines seiner Aufsätze. Michael Schimek nimmt dazu eine Neubewertung Mösers im Rahmen des Fachs Volkskunde vor, dementiert die beliebte Zuschreibung „Vater der Volkskunde“, weist aber mit Blick auf das in das Museumsdorf Cloppenburg translozierte Haupthaus des Vollbauern Haake von 1793 auf Mösers große Detailkenntnis der regionalen Bauformen hin, wie „eine der frühesten Beschreibungen des sogenannten Niederdeutschen Hallenhauses“ (202 f.) aus dessen Hand belegt.
Dieser Justus Möser, der hier in all den Ambivalenzen seiner pragmatischen Positionierung vorgestellt wird, bot stets reichlich Anknüpfungspunkte für seine Zeitgenossen, aber auch für die spätere erinnerungspolitische Vereinnahmung. Aus heutiger Sicht wird der diskussionsfreudige Möser dabei häufig missverstanden und ausschließlich in seinen konservativen Positionen wahrgenommen, wenn er etwa seine osnabrückische Provinz mit dem Mittel einer „Nationaltracht“ gegen auswärtige Luxuswaren abzuschirmen gedachte und damit Friedrich J. Bertuchs Entgegnung provozierte. Demgegenüber weist Daniel Purdy darauf hin, dass Möser die Nationaltracht durchaus als eine „Initiative aus dem Bürgertum“ (258) verstanden wissen wollte und damit zumindest sekundär auch in die allgemeine Tendenz einzuordnen wäre, „männliche Kleider insgesamt zu vereinheitlichen“ (258). In die „Frage der geisteswissenschaftlichen oder ideologischen Verortung“ Justus Mösers als Produkt seiner Rezeption führt bereits Frans Willem Lantink ein, wenn er danach fragt, auf welche Weise jemand, der „als Staatsmann meisterhaft in den traditionellen Rechtsformen seines Hochstifts wirkte“, sehr viel später zu einem maßgeblichen „Teil des konservativen Kanons“ (63) werden konnte, und dabei gerade jene „Zwiespältigkeit von traditionell und modern“ in den Hintergrund trat, die Mösers Wirken in besonderer Weise auszeichnete. Die hier angelegte Inszenierung Mösers schlägt sich ebenso in der Vereinnahmung der „kleinen Welt“ Mösers in den politischen Memoria nieder, die Christine van den Heuvel untersucht, wie in den von Thorsten Heese dargestellten zahlreichen Monumenten, Medaillen und Museumsprojekten, die der Möser-Kult über die Jahrhunderte hinweg in Osnabrück hervorbrachte.
Der Neues diskutierende, auch der experimentierende Möser blieb dahinter leicht verborgen. Winfried Siebers weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass so wichtige Aspekte wie Mösers Wirken als „originärer Essayist des 18. Jahrhunderts“ bislang völlig unbetrachtet geblieben sind, obwohl diese literarische Form seinen Anliegen besonders entgegenkam und ihm gleichsam ein „experimentelles Übungsfeld seiner Weltsicht“ (250) bot. Ein weiteres dieser Übungsfelder war ganz gewiss das häufig aufgesuchte Bad Pyrmont, wo seinerzeit auch Halem auf Möser traf. Der Badeort war in diesem publizierenden Universum für den Osnabrücker Beamten gleichsam „ein Knotenpunkt sich überschneidender Netzwerke“ (309), wie Brigitte Erker hervorhebt. Als Abschluss und Ausblick auf bislang Unbekanntes lässt sich dann Martin Siemsens Hinweis auf solche Bereiche und Materialien lesen, die trotz intensiver und wiederkehrender Beschäftigung mit Justus Möser noch weitgehend der Erschließung harren. Das gilt nicht nur für Mösers amtliche Tätigkeit, deren Erforschung Reinhard Renger bereits 1970 einforderte, sondern auch für die Briefe der Möser-Tochter Jenny von Voigts – als Würdigung einer „eigenständige[n] Persönlichkeit“, die hinter dem Bild ihres gefeierten Vaters stets verborgen blieb, aber auch noch einmal als Einblick in „das, was wir heute Netzwerk nennen“ (322). Es ist nicht zuletzt die von Leonie Albes sorgfältig zusammengestellte Liste an Quellen und Literatur, die zeigt, wie weit der Horizont von Blicken auf Justus Möser sich auf solche Weise spannen lässt.
Mösers Weltsicht reizt dabei nicht nur zur kritischen Auseinandersetzung, sondern auch zum Streit, wie eine Anmerkung zum Tagungsverlauf ahnen lässt. Sie verweist unter anderem auf die Kluft zwischen den Auffassungen von Christoph Rass, der in Möser vor allem den Vertreter eines „utilitaristischen Migrationsregimes“ (99) sieht, und Holger Böning, der nicht nur in diesem Feld bei Mösers Vorschlägen den „unbedingten Vorrang praktischer Vernunft“ (221) hervorhebt. Der Leser hätte auch hierzu naturgemäß gerne mehr erfahren – ein Anliegen, dem allerdings im Rahmen eines Aufsatzbandes kaum Genüge getan werden kann, so dass am Ende die Auswahl des titelgebenden Zitats erneut ihre vielsagende Berechtigung behält: „Es hat also jede Sache ihren Gesichtspunct...“.