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Levke Bittlinger

Dänischwerden und Dänischsein im Landesteil Schleswig. Zugehörigkeiten und Verortungsprozesse

(Göttinger Studien zur Kulturanthropologie/Europäischen Ethnologie 10), Göttingen 2020, Universitätsverlag, 410 Seiten, ISBN 978-3-86395-427-7


Rezensiert von Katharina Schuchardt
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 20.09.2021

Levke Bittlinger konzentriert sich in ihrer kulturanthropologischen Dissertation auf die dänische Minderheit im nördlichen Schleswig-Holstein mit einem speziellen Fokus auf Friedrichstadt als deren institutionelles Zentrum in Deutschland. Sie spürt den unterschiedlichen Verortungs- und Aushandlungsprozessen dieser Minderheit nach und nimmt dazu verschiedene Bereiche in den Blick. Als Materialbasis dienen narrative und leitfadengestützte Interviews mit sogenannten Neudän*innen der Nachkriegsgeneration sowie den Neudän*innen der jüngsten Zeit. Dazu kommen Gesprächen mit Akteur*innen, die sich in der Arbeit der Minderheit engagieren, sowie die Auswertung von Zeitungsartikeln, Radio- und Fernsehbeiträgen. Gemeinsam ist den unterschiedlich generationell verorteten Interviewpartner*innen, dass sie alle von außen stammen und, so die Aussage, mit der dänischen Minderheit zuvor nichts zu tun hatten.
Die Arbeit wird theoretisch anhand der Konzepte Minderheit, Ethnizität, Nation und Identität verortet, die sich im Untersuchungsfeld aufeinander beziehen und miteinander verwoben sind. Daher wäre es wünschenswert gewesen, wenn die Autorin nicht nur eine einzelne Genese der Begriffe vorgenommen hätte und diese parallel nebeneinander stehenlassen würde, sondern ihre Positionierung stärker herausgearbeitet hätte. Bittlinger kommt beim Ethnizitätsbegriff zu dem Schluss, dass eine „Zugehörigkeit oder das Zusammengehörigkeitsgefühl […] auf subjektiven Faktoren beruht“ (52) – dies trifft allerdings ebenso auf das Konzept von Minderheiten und Identität zu, sodass sich die Leser*innen den Impetus der theoretischen Herangehensweise selbst erschließen müssen. Dabei macht vor allem der Identitätsbegriff deutlich, dass er alles oder nichts bedeuten kann und unbedingt in seiner praxeologischen Verwendung definiert werden muss, um ihn handhabbar zu machen.
Zu den einführenden Kapiteln gehört auch die historische Herleitung der heutigen Minderheit in der deutsch-dänischen Grenzregion sowie ein Überblick über die Vereinslandschaft, die in den folgenden Kapiteln noch eine wichtige Rolle spielen wird. Dabei wurde gleichsam auf deutsche und dänische Publikationen zurückgegriffen, sodass Forschungsstand und Positionen der Wissenschaft beider Länder entsprechend berücksichtigt werden.
Die Gliederung der beiden Hauptkapitel verdeutlicht bereits den Schwerpunkt der Arbeit, die sich einerseits in „Dänischwerden“ und andererseits in „Dänischsein und Dänischbleiben“ gliedert. Schon hier wird die konstruktivistische Perspektive auf die Minderheit deutlich, indem Zugehörigkeit als bewusste Entscheidung konstatiert wird, was auch im weiteren Verlauf der Arbeit immer wieder von den Interviewpartner*innen hervorgehoben wird. Der Einstieg ins Feld erfolgt exemplarisch anhand der Biografie einer Interviewpartnerin, um von ihr ausgehend sich der Nachkriegsgeneration und ihrem Findungsprozess hinsichtlich ihrer Zugehörigkeit zur Minderheit zu nähern. Die sozialen, politischen und ökonomischen Verhältnisse der unmittelbaren Nachkriegszeit werden in verschiedenen Interviews als Auslöser dafür genannt, sich an dänischen Institutionen wie Schulen zu orientieren, quasi als eine Art Neustart. „Speckpakete“ (87) aus Dänemark stellten dabei eine der Strategien dar, die die Versorgungsengpässe der Nachkriegszeit abfederten. Viele Eltern entschieden sich anschließend aus Dankbarkeit dafür, dass ihre Kinder eine bessere schulische Perspektive bekamen oder es eine bessere Lebensmittelversorgung gab, zur Hinwendung zur dänischen Minderheit. Bittlinger zieht hier anhand von Interviews mit Neudän*innen der jüngeren Zeit Vergleiche. Das dänische Betreuungs- und Schulsystem gilt als renommiert und Schulschließungen im ländlichen Raum allgemein zwingen die Betroffenen zur Neuorientierung. Bessere berufliche Perspektiven durch den Fremdsprachenerwerb werden dabei ebenso thematisiert wie narrative Strategien der Selbstvergewisserung.
Da sich die Bildungsinstitutionen bereits früh in der Arbeit als ein Schlüsselelement ausmachen lassen, setzt Bittlinger einen Schwerpunkt beim Schulsystem. Dabei kommt es innerhalb der Nachkriegsgeneration zu Gegenüberstellungen eines subjektiv artikulierten, preußisch angehauchten deutschen und eines dänischen, empathischen Schulsystems, das an Logiken eines dänischen Selbstbildes als „gemütlich“ anknüpft. So gehen Lehrer*innen mit ihrem Beruf eine moralische Verpflichtung ein und sollen auch im Privaten einen Beitrag zum „Dänischsein“ leisten. Die Minderheiteninstitutionen organisieren zudem sogenannte Integrationskurse, um fehlende Kenntnisse zu Kultur und Sprache zu vermitteln. Minderheitenangehörige bewegen sich aber zwischen diesen verschiedenen Positionen und lösen sich oftmals von den politisch gewollten Einfachzuordnungen. Der Blick auf die vermittelten Werte und kulturellen Praktiken wäre an dieser Stelle für ein vertieftes Selbstbild der Minderheit wünschenswert gewesen.
Der zweite große Teil widmet sich dem Prozess der Verstetigung und Aushandlung als Minderheitenangehörige*r. Zunächst steht das Vereinswesen in Friedrichstadt im Fokus. Die Autorin verfolgt die These, dass das Engagement der Vereine die Bindung zur Minderheit bedingt und schildert deren strukturelle Besonderheiten. Anhand der Aussagen ihrer Interviewpartner*innen wird zugleich deutlich, dass das Zugehörigkeitsgefühl situativ und kontextabhängig ist und sich jeweils wandelt; der Grad der heutigen „Gesinnung“ (206) ist demnach auch von Folien der Vergangenheit wie den positiven Erfahrungen der Nachkriegsschulzeit abhängig. Nachfolgend werden dann die pluralen Positionen eines „Dänischseins“ (234) dargelegt, die nach Bittlinger vom nationalistischen Spektrum bis zu modernistischen, pragmatischen und opportunistischen Haltungen reichen. Hier wird zum ersten Mal auch die prozessuale und flexible Positionierung innerhalb der Institutionen deutlich, die über ein breites Spektrum unterschiedlicher medialer Beiträge aufgemacht wird. Während hier also zunächst eine übergeordnete Ebene im Fokus stand, widmet sich das letzte Kapitel spezifischen Festen im Jahresverlauf, anhand derer Aufschluss über die Verhandlung des Dänischen gegeben wird. Levke Bittlinger folgt dem Fest Årsmøder über einen Zeitraum von drei Jahren und spürt dabei anhand ihres Feldforschungstagebuchs den subjektiven Strategien der Beheimatung über nationale Symboliken oder Nahrungsmittel nach.
Sprache und Geschichte stellen bei Minderheiten einen essenziellen Teil des Selbstverständnisses dar. Vor allem der Gebrauch der Sprache versteht sich als ein Identitätsmarker und die Quantität der Sprecher*innen wird mit der politisch forcierten, kulturellen Zuordnung gleichgesetzt. Minderheitenangehörige selbst stehen diesem Prozess kritisch gegenüber und verweisen auf Binnendifferenzierungen innerhalb der Minderheit. Die Analyse der Bedeutung der Sprache und der Rückbezug auf Geschichtsbilder, naturräumliche Grenzmarkierungen wie die Eider und historische Ereignisse erfolgen im vorliegenden Band anhand der Minderheitenakteur*innen, medialen Berichterstattung und Interviews. Dabei ist darauf zu achten, dass Minderheitenakteur*innen in der Regel ein bestimmtes Außenbild prägen, das von einer „inneren Verhandlung“ abweichen kann und kritisch den Interviewpartner*innen gegenübergesetzt werden sollte.
Der vorliegende Band leistet einen interessanten Beitrag zur Konstitution einer Minderheit, die im Vergleich zu anderen Minderheiten Europas einen Vorbildcharakter besitzt. In der heute zum Glück konfliktarmen Grenzregion ist die Aufrechterhaltung des eigenen „Minderheitenseins“ oftmals schwierig, da die eigene Behauptung gegenüber einer Mehrheitsgesellschaft aufgrund der rechtlichen Rahmenbedingungen und der sozialen Akzeptanz nicht stattfinden muss. Daher gestaltet sich der permanente Aushandlungsprozess als äußerst diffizil, dessen Rahmung die Autorin verständig nachspürt.