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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Aktuelle Rezensionen


Rudolf Bühler/Hubert Klausmann/Mirjam Nast (Hg.)

Schule – Medien – Öffentlichkeit. Sprachalltag und dialektale Praktiken aus linguistischer und kulturwissenschaftlicher Perspektive

(Untersuchungen des Ludwig-Uhland-Instituts für Empirische Kulturwissenschaft 124), Tübingen 2020, Tübinger Vereinigung für Volkskunde e.V., 226 Seiten mit 12 Abbildungen, ISBN 978-3-947227-03-7


Rezensiert von Andrea Schamberger-Hirt
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 20.09.2021

Der Band geht auf ein Symposium der „Tübinger Arbeitsstelle Sprache in Südwestdeutschland/Arno-Ruoff-Archiv“ zurück, das unter dem Leitthema „Alltägliches Sprechen und Sprachalltag“ am 10. und 11. Oktober 2018 im Fürstensaal des Schlosses Hohentübingen stattfand. Das Symposium bildete den Abschluss der beiden Projekte „Sprachalltag in Nord-Baden-Württemberg“ (2009–2015) und „Sprachalltag II: Sprachatlas – Digitalisierung – Nachhaltigkeit“ (2015–2020), aus denen zum einen der „Sprachatlas von Nord Baden-Württemberg“ sowie der „Sprechende Sprachatlas für Baden-Württemberg“ hervorgegangen sind und die zum anderen die Digitalisierung des in den 1950er Jahren aufgezeichneten und aus Alltagserzählungen bestehenden Tonmaterials des Arno-Ruoff-Archivs zum Ziel hatten.
Aus fächerübergreifender Perspektive werden zehn Beiträge aus Sprach- und Kulturwissenschaft versammelt, wobei der erste Themenschwerpunkt auf dem alltäglichen Dialektgebrauch in der Öffentlichkeit und hier besonders in der Schule liegt und der zweite sich mit Erzählen und Erzählungen im Alltag befasst. Monika Foldenauer vergleicht in „Die Sprache ‚waschechter Nordlichter‘ und ‚raues Bairisch‘“ den ideologisierten Umgang mit Dialekt in bayerischen und niedersächsischen Schulbüchern. In beiden Bundesländern lassen sich die „sprachlichen Ideologien des Homogenismus und Standardismus“ (30) beobachten: In Bayern wird eine überregional einheitliche Standardsprache norddeutscher Prägung als Maßstab der Sprachrichtigkeit postuliert und dadurch die eigene süddeutsche Standardsprache abgewertet. In Niedersachsen geht man von der irrigen Vorstellung eines einheitlichen Niederdeutsch ohne regionale Unterschiede aus. Die Folge ist laut Foldenauer eine „Stigmatisierung und Benachteiligung bestimmter Sprecher_innengruppen“ (30), sie fordert daher, „im Schulunterricht Sprachvariation innerhalb des Deutschen und auch innerhalb des Standards“ (31) zu thematisieren.
Rupert Hochholzer stellt in „Innere und äußere Mehrsprachigkeit in einer Regensburger Schule“ die Ergebnisse einer Befragung von Schüler_innen einer innerstädtischen Realschule vor, die ihre eigene Mehrsprachigkeit einschätzen sollten. „Innere Mehrsprachigkeit“ meint den Gebrauch von verschiedenen Varianten einer Sprache wie Dialekt und Standard, „äußere Mehrsprachigkeit“ bezieht sich auf den Gebrauch verschiedener Standardsprachen wie Deutsch, Türkisch, Russisch, Italienisch etc. Auch wenn die überwiegende Zahl der Schüler_innen die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt (84 %) und in Deutschland geboren ist (91 %), haben doch viele einen mehrsprachigen Hintergrund, weil zu Hause „nur eine ‚andere Sprache‘“ (15 %) oder „Deutsch und andere Sprachen“ (25 %) gesprochen werden (47). Rechnet man hier noch die Schüler_innen mit innerer Mehrsprachigkeit dazu (17 % sprechen zu Hause „nur Bairisch“, 11 % „Hochdeutsch und Bairisch“ [47]), kommt man auf einen Anteil von über zwei Dritteln der Befragten mit mehrsprachigem Hintergrund. Die „monolinguale Ausrichtung der Schule in Deutschland“ (50) berücksichtige dies aber viel zu wenig: „Ziel aller pädagogischen Bemühungen ist die Beherrschung der Verkehrssprache Deutsch, die tatsächlich existierenden heteroglossen Lebenswelten werden außer Acht gelassen.“ (41 f.)
Im Beitrag „Der ,Dialekt‘ im Spannungsverhältnis zwischen Sprachdidaktik, Sprachklischee und sprachlicher Wirklichkeit“ beobachten Frank Janle und Hubert Klausmann, wie das Thema „Dialekt“ im Deutschunterricht Baden-Württembergs, insbesondere an den Gymnasien behandelt wird. Dafür untersuchen sie erstens die Bildungspläne Baden-Württembergs für Gymnasien von 2004 und 2016, zweitens diverse Schulbücher für den gymnasialen Sprachunterricht und werten drittens eine Umfrage unter angehenden Deutschlehrer_innen aus dem Jahr 2018 aus. In allen Bereichen bestätigen sich die bereits bei Foldenauer und Hochholzer gezeigten Ergebnisse, dass der Deutschunterricht durch ideologische Vorstellungen des „Standardismus“ und „Homogenismus“ geprägt ist. Beispielsweise präferieren die Studienreferendar_innen überwiegend norddeutsche Standardvarianten gegenüber ihren süddeutschen Entsprechungen. Daraus leiten die beiden Verfasser acht konkrete Forderungen für die schulische Praxis und Lehramtsausbildung ab. Etwas schade sind kleine formale und inhaltliche Ungenauigkeiten: Beispielsweise fehlt die in Abschnitt 4.3 (70) genannte Tabelle 1. Zudem sind einige Angaben zum Duden fehlerhaft, hier nur ein Beispiel: Das Verb „kehren“ wird in die Gruppe „(e) gar nicht belegt […] bei Duden-Online“ (76) eingeordnet, jedoch führt Duden-Online neben „kehren“ mit der Bedeutung ‘umdrehen, wenden’ ein weiteres „kehren“ für ‘fegen’ mit der Angabe „besonders süddeutsch“ an, sodass eine Einordnung in die Gruppe „(c) süddeutsch“ korrekt gewesen wäre. Bedauerlich ist auch, dass die Duden-Klassifizierung des Wortes „Dachboden“ als „norddeutsch“ einfach unhinterfragt übernommen wurde („Nordlichter“ [76]), anstatt richtigzustellen, dass es sich hier um ein auch im Südosten des deutschen Sprachraums weit verbreitetes Wort handelt (siehe z. B. die entsprechende Karte aus dem Atlas der deutschen Alltagssprache [AdA, www.atlas-alltagssprache.de], 2. Runde, Karte 6, die im Beitrag sogar zitiert wird [74]). Diese kleinen Kritikpunkte schmälern aber in keiner Weise die wichtige Bedeutung der Untersuchung und insbesondere die daraus abgeleiteten sprachpolitischen Forderungen.
Monika Fritz-Scheuplein berichtet in ihrem Beitrag „Von Kinderuni bis Lehrerhandreichung“ von der erfolgreichen Öffentlichkeitsarbeit des „Unterfränkischen Dialektinstituts“ (UDI), mit der das Sprach- und Kulturbewusstsein Unterfrankens, insbesondere die Wertschätzung des eigenen Dialekts gefördert werden.
In „Das Arno-Ruoff-Archiv als Quelle für Untersuchungen zum Registerwechsel“ zeigt Hubert Klausmann, dass sich das von Arno Ruoff und anfänglich auch von Hermann Bausinger gesammelte Tonmaterial nicht nur für systemlinguistische Auswertungen eignet (bislang sind dazu Arbeiten v. a. im Bereich der Morphosyntax entstanden), sondern auch für die soziolinguistische Beschreibung des Varietätenwechsels zwischen Basisdialekt, sogenanntem Honoratiorenschwäbisch und Standard sowie zwischen verschiedenen Nachbarmundarten (z. B. zwischen Schwäbisch und Fränkisch im Hohenlohischen).
Um Varietätenwechsel geht es auch im Aufsatz „Gestylter Dialekt oder wie ein Medienschaffender den Erwartungen seines Publikums gerecht wird“ von Helen Christen. Sie untersucht den Sprachgebrauch eines Deutschschweizer Radioredaktors zum einen als Sprecher von neun kurzen Radiobeiträgen des Senders SRF 1, die an ein breites Deutschschweizer Publikum gerichtet sind, und zum anderen als Leiter einer radiointernen Redaktionssitzung mit vier Mitarbeiter_innen, die aus verschiedenen Regionen der Schweiz stammen (Freiburg i. Ü., St. Gallen und Zürich) und somit verschiedene Dialekte sprechen. In der Redaktionssitzung produziert der Radioredaktor schweizerische Mehrheitsformen, die „in der Deutschschweiz erstens großräumige Verbreitung zeigen und zweitens von sehr vielen Sprecherinnen und Sprechern benutzt werden“ (141). Dagegen verwendet er in den Radiobeiträgen einen „authentischen Dialekt“ (145), mit dem er sich eindeutig als Nordwestschweizer zu erkennen gibt. Er entspricht damit den Erwartungen der Radiohörerschaft, die einen „guten“ Dialekt im Radio hören wollen, indem er auf die Varianten zurückgreift, die seiner räumlichen Herkunft entsprechen. Aus bundesdeutscher Sicht mag dies erstaunlich sein, denn dort würde man eher erwarten, dass Radiobeiträge eine größere Standardnähe aufweisen als ein eher informelles Gespräch unter Kolleg_innen.
Mit ihrem Beitrag „Warum der Dialekt (jetzt) doch nicht verschwindet“ leiten Rudolf Bühler und Mirjam Nast zum zweiten Themenschwerpunkt des Sammelbands über. Neun Bürgermeister im Umland von Tübingen wurden zu ihrer Einstellung zum Dialekt und ihrem eigenen Sprachgebrauch befragt. Zum einen möchten diese „möglichst natürlich und authentisch […] durch dialektales Sprechen“ wirken, zum anderen setzen sie „aus Prestigegründen und zur besseren Vermittlung ein standardnahes Sprechen“ ein (166). Der Topos vom Aussterben des Dialekts und der damit verbundene Wunsch, ihn zu erhalten, werden zwar von allen Befragten geäußert, ihr sprachliches Handeln zeigt aber oft gegenläufige Tendenzen. Bühler und Nast schlussfolgern, „dass der Dialekt, während er im öffentlichen Diskurs häufig als ,Sterbekandidat‘ gehandelt wird, im Alltag der Sprecher offenbar keineswegs zu sterben bereit ist“ (175).
In „Mündliches Erzählen im Deutschunterricht“ befasst sich Frank Janle mit der Konzeption des mündlichen Erzählens und seines Stellenwerts im Deutschunterricht. Allenfalls hat es innerhalb der Unterstufe seinen Platz, seine Bedeutung wird aber weitgehend unterschätzt. Daher fordert er eine neue Didaktik des mündlichen Erzählens, die „in erster Linie eine kommunikative Didaktik“ sein muss, die die „situativen, kontextuellen, funktionalen und pragmatischen Aspekte des Erzählens mitreflektiert“ (191).
Aus der Perspektive der Erzählforschung gibt Ingo Schneider in „Erzählen im Alltag – Alltägliches Erzählen“ einen Überblick über die Merkmale und Funktionen derartigen Erzählens und veranschaulicht dies anhand einiger Beispiele, darunter insbesondere Gerüchte über Flüchtende und Asylbewerber_innen aus dem „langen Sommer der Migration 2015“ (201 ff.). Derartige Erzählungen sind „Zeichen und Symptome für gesellschaftliche Stimmungen“ und „Ausdrucksformen von Ängsten und Vorurteilen“ (206). In diesem Sinne schreibt Schneider der Erzählforschung auch eine „gesellschaftspolitische Aufgabe“ (206) zu.
Mit zwei ursprünglich mündlich wiedergegebenen Wettererzählungen, die erste transkribiert, die zweite aus der Erinnerung heraus aufgezeichnet, befasst sich Simone Stiefbold in „Tote Kühe und Rettung aus dem Schnee“. Dabei zeigen sich in der transkribierten Erzählung Brüche im Erzählfluss und Registerwechsel vom standardnahen Sprechen hin zum Dialekt, die jeweils mit einer Zunahme an Emotionalität korrelieren. Die im Nachhinein notierte Erzählung wird aus der Gegenwartsposition des Erzählers heraus gedeutet, hier sind Aussagen mit dem Wissen der vergangenen Erzählsituation von Aussagen vor dem Hintergrund eines gegenwärtigen Wissenstandes zu unterscheiden.
Dass „in der Analyse der Interdependenzen zwischen Sprache und alltäglichem Erzählen eine Forschungslücke liegt, die dringend geschlossen werden sollte“ (197), stellt Schneider in seinem Beitrag fest. Doch die interdisziplinäre Herangehensweise des Sammelbandes an das Thema „Sprache und Erzählen im Alltag“ bietet durch die perspektivisch breitgefächerten Ansätze und Anregungen die Chance, diese Forschungslücke zu schließen.