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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Jozo Džambo (Hg.)

Böhmische Spuren in München. Geschichte, Kunst und Kultur

München: Volk, 2020. 280 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-86222-327-5


Rezensiert von Volker Strebel
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 20.09.2021

Als 1999 in München das Tschechische Zentrum im Auftrag des Außenministeriums der Tschechischen Republik eröffnet wurde, war die Erinnerung noch nicht verblasst, die mit der Euphorie der tschechoslowakischen „samtenen Revolution“ im Herbst 1989 verbunden war, die das Ende der realsozialistischen Diktatur eingeleitet hatte. Legendär war die inszenierte Grenzöffnung, als im Dezember 1989 die populären Außenpolitiker Hans Dietrich Genscher und Jiří Dienstbier am Grenzübergang Waidhaus/Rozvadov mit einem Bolzenschneider den Stacheldraht zwischen Bayern und der damaligen ČSSR durchschnitten. Anfang Januar 1990 hatte den charismatischen Dichterpräsidenten Václav Havel sein erster offizieller Auslandsbesuch als neugewähltes Staatsoberhaupt der ČSSR in die bayerische Landeshauptstadt München geführt.
Neben der geografischen Nähe – die gemeinsame bayerisch-böhmische Grenze beträgt 358 Kilometer – hatte die unmittelbare Nachbarschaft im Laufe der Geschichte zugleich auch immer wieder für höchst problematische Ereignisse gesorgt. So steht in der jüngeren tschechischen Geschichte der Begriff „München“ für das traumatisch empfundene Vertragswerk, welches in der Unterzeichnung des „Münchner Abkommens“ im September 1938 das tragische Ende der Ersten Tschechoslowakischen Republik einleitete. Vertreter der tschechoslowakischen Regierung waren zu den damaligen Verhandlungen gar nicht erst eingeladen worden. Die furchtbaren Folgen dieses als „Appeasement-Politik“ bezeichneten Vorgehens sollten nicht lange auf sich warten lassen. Der Zweite Weltkrieg und seine Folgen haben die europäische Landkarte nachhaltig verändert. Flucht und Vertreibung von Millionen deutscher Einwohner auch aus der Tschechoslowakei stellte die junge Bundesrepublik vor große Herausforderungen. Die Errichtung der sozialistischen Republik im Jahr 1948 führte zu einer ersten Welle tschechoslowakischer Emigration, welcher nach der gewaltsamen Niederschlagung des reformorientierten „Prager Frühlings“ 1968 eine weitere folgen sollte.
In der bayerischen Landeshauptstadt München hatten sich somit im Laufe der Geschichte der deutsch-böhmischen Nachbarschaft Begegnungen aber auch Tragödien verdichtet. Die vorliegende Publikation widmet sich in 16 Beiträgen einer beeindruckenden Bandbreite böhmisch-tschechischer Akzente in München und arbeitet zugleich Einflüsse der bayerisch-böhmischen Nachbarschaft heraus. Faksimiles und Fotos unterstützen die Lesbarkeit der Beiträge. Angeregt wurde diese Unternehmung von dem in München ansässigen Adalbert Stifter Verein, welcher seit seiner Gründung 1947 dem kulturellen Erbe der Deutschen aus Böhmen, Mähren und Sudetenschlesien verpflichtet und unermüdlich in der Aufrechterhaltung deutsch-tschechischer Beziehungen im Einsatz ist. Es darf als Glücksfall gelten, dass der Historiker und wissenschaftliche Publizist Jozo Džambo, langjähriger Mitarbeiter des Adalbert Stifter Vereins, als Herausgeber gewonnen werden konnte.
Zum Einstieg gelingt es Peter Becher in „Magnet München“, politische wie kulturelle Zusammenhänge in einer historisch angelegten Perspektive pointiert zum Ausdruck zu bringen. Angeregt vom Charakter Münchens als Stadt der Künste hat sich Dieter Klein auf „Kunsthistorische Spuren Böhmens und Mährens“ begeben, während Thomas Raff über „Künstler und Kunststudenten aus Böhmen im München des 19. und 20. Jahrhunderts“ anregende Aufschlüsse bereithält. Über Jahrhunderte hinweg hatte die Isarmetropole wie ein kultureller Sog gewirkt und oft genug Dichtern, Künstlern, Musikern und Schauspielern zu einem aufmerksamen Publikum verholfen. Ein Erbe, das bis in die unmittelbare Gegenwart hineinwirkt. Auch in der heutigen Zeit gilt München als renommierte Filmstadt und internationale Bühne musikalischer Darbietungen von Künstlern und Künstlerinnen, die in der Welt zuhause sind. Sudetendeutsche und tschechische Persönlichkeiten hatten in München auf verschiedene Weise Wirkungsmöglichkeiten vorgefunden, wie Franz Adam mit seiner Darstellung „Fritz Rieger und Rafael Kubelík oder Wie man Prag an die Isar transponiert“ und Zuzana Jürgens in ihrer Beschreibung „,Oft angenehm, dieses Gefühl von Provinzialität ohne Hektikʻ ‒ Regisseure, Filmproduzenten und Schauspielerinnen und Schauspieler“ entfalten. Und selbstverständlich bilden in einer lebenslustigen Stadt wie München die kulinarischen Genüsse einen wesentlichen Bereich vitalistischer Sinnenfreuden. Nicht zuletzt begleitet von historischen Rückblicken belegt Ulrike Zischka sowohl die verwandte Nähe wie auch entscheidende Unterschiede in ihrem Beitrag „Kulinarische Brücken. Böhmische Küche in München“.
Es gehört zu den konzeptionellen Stärken des vorliegenden Bandes, dass die „böhmischen Spuren“ im weitesten Sinne gehalten sind. Neben den Schicksalen der Vertriebenen, die entschädigungslos ihre angestammte Heimat verlassen mussten, kommen zugleich auch die Nöte der Emigrierten aus der Tschechoslowakei zu Wort, die in den Jahrzehnten des Kalten Krieges der kommunistischen Diktatur entflohen und in München untergekommen waren. Dass in dieser Gemengelage auch Spannungen nicht ausblieben, konnte angesichts der Dimension beteiligter Schicksalsläufe nicht verwundern. So weist Anna Bischof in ihrem differenziert gehaltenen Porträt „Radio Free Europe in München (1950–1995)“ auf massive Vorbehalte gegenüber dem Sender hin: „Die Sudetendeutschen und ihre Funktionäre kritisierten die tschechoslowakische Redaktion scharf, da Ferdinand Peroutka und andere Redaktionsmitarbeiter dem ehemaligen tschechoslowakischen Präsidenten Edvard Beneš (1884–1948) nahegestanden hatten, der wiederum in ihren Augen die Aussiedlung und Vertreibung der Sudetendeutschen aus der Tschechoslowakei zu verantworten hatte.“(160) In Folge hatte sich sogar der Bayerische Landtag mit dieser Thematik beschäftigt. Freilich saß der Schmerz der Heimatvertrieben tief. Ortfried Kotzian lotet in einem Beitrag „München… und der Osten Europas“ die furchtbaren Tragödien einer schwierigen Beziehung aus, ohne eine gemeinsame Zukunft aus den Augen zu verlieren.
In den Beiträgen von Zuzana Jürgens „Mníšek pod Alpou – tschechischsprachige Schriftsteller in München“ sowie „Tschechen in München“ von Wolfgang Schwarz werden unter anderem eine Reihe von Persönlichkeiten angeführt, welche sich als Exilanten in München um neue Wirkungsfelder bemühten. Zu ihnen gehörten unter anderem Ludvík Aškenazy, Ivan Binar, Josef Jedlička oder der Liedermacher Karel Kryl. Autoren wie Ota Filip, der auch in deutscher Sprache schrieb, konnten sich leichter etablieren, während Ivan Diviš, der zu den ausdrucksstärksten Lyrikern der modernen tschechischen Literatur zählt, dem deutschsprachigen Publikum auch heute noch nahezu unbekannt ist. Der Publizist Antonín Kratochvíl oder auch Daniel Strož hatten zudem den Versuch unternommen, in eigener Regie Buchreihen herauszugeben, die offiziell verbotenen tschechoslowakischen Schriftstellern ein Forum boten.
Auf geradezu komplementäre Weise ergänzt Peter Becher in seinem gewohnt kenntnisreichen Ansatz „,Sentenzen, die nicht nur Schwabing durchschwirrten…ʻ Deutschböhmische Autoren in München“ diese spezifische Wirkungsgeschichte, in welcher vertriebene deutschsprachige Autoren ihre böhmischen Wurzeln reflektierten. Neben etlichen bedeutenden Persönlichkeiten führt er etwa Barbara König, Mitglied der „Gruppe 47“, Herbert Schmidt-Kaspar oder die Lyrikerinnen Ursula Haas oder Helga Unger an. Zudem lässt er das umfangreiche Wirken des Übersetzers Franz Peter Künzel nicht unerwähnt, der etwa als Erster Bücher von Bohumil Hrabal übersetzte und diesen der deutschen Leserschaft nahegebracht hatte.
In seinem Artikel „Bunt – und immer eine Reise wert. In München zu Besuch“ führt Jozo Džambo, neben unglücklichen Umständen des Aufenthaltes Franz Kafkas in München, unter anderem eine denkwürdige Begegnung des slowakischen Gelehrten Ján Kollár mit dem in München lebenden Sprachwissenschaftler Johann Andreas Schmeller im Jahr 1841 an, „der just zu jener Stunde Tschechisch lernte“ (20). Ján Kollár war seinerzeit nach München gekommen, um die nach eigenen Worten „,berühmte und für die Slavistik so denkwürdige Bibliothekʻ“ (19) in München aufzusuchen. Diese Schätze sind bis zum heutigen Tag erhalten und auch ergänzt worden, wie Džambo in einem weiteren Beitrag „Bohemica, Moravica, Sudetica in München – einiges über die Welt des ,böhmischenʻ Buchs“ ausbreitet. Aus einer ergänzenden Perspektive gibt der Beitrag „Das schriftliche Erbe der böhmischen Länder in München. 60 Jahre Sudetendeutsches Archiv“ von Ingrid Sauer Einblicke frei und bietet Einstiegsmöglichkeiten für weiterführende Forschungsunternehmungen.
In anregender Weise verfolgt Jozo Džambo Spuren der zum Teil länger währenden Aufenthalte des 1875 in Prag geborenen Schriftstellers Rainer Maria Rilke, der, seinem Malerfreund Emil Orlík folgend, in München ein Studium der Kunstgeschichte und Ästhetik aufnahm und für zwei Semester blieb. Hier begegnete er Lou Andreas-Salomé, mit der er eine intensive Liebesbeziehung einging und die ihm auch nach deren Beendigung eine lebenslange Freundin und Ratgeberin blieb. In der 1898 entstandenen Novelle „Ewald Tragy“ finden sich in atmosphärischer Verdichtung Eindrücke jener Zeit in München, wie Džambo anführt: „Die Schauplätze der Handlung sind Schwabinger Kneipen, Galerien, die Oktoberfestwiese, der Englische Garten oder der beliebte Künstlertreffpunkt Café Luitpold.“ (73)
In geradezu stupender Fleißarbeit hat Jozo Džambo sein zusammengetragenes Material eindrucksvoll gebündelt. Seine kommentierte Sammlung von einschlägigen Straßennamen wie auch das Kapitel „Siebzig Biographien“ bilden den kulturellen Reichtum böhmischer Akzente und Inspirationen ab. Methodisch übersichtlich und in liebevoller Aufbereitung gehalten, lässt sich diese Herausgabe somit als Geschichtsbuch, Lexikon und Stadtführer zugleich verwenden. Ein sorgfältig aufgelisteter Anhang von weiterführenden Literaturhinweisen, Personen- und einem München-Register (Straßen, Plätze, Institutionen, Unternehmen) unterstreichen diese Herausgabe als Standardwerk.