Aktuelle Rezensionen
Michaela Haibl/Gudrun M. König (Hg.)
Mode.Land. Ein Textilfabrikant fotografiert, 1900–1925
Münster/New York 2020, Waxmann, 191 Seiten mit zahlreichen Abbildungen, ISBN 978-3-8309-4185-9
Rezensiert von Monika Ständecke
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 20.09.2021
Der Band „Mode.Land“, herausgegeben von Michaela Haibl und Gudrun M. König, beinhaltet acht Aufsätze zur Modegeschichte anhand historischer Fotografien. Alle Aussagen beziehen sich auf einen geschlossenen Bestand an Privatfotografien, der aus der Textilfabrikantenfamilie Bauer stammt, die in dem westfälischen Ort Laer ansässig war. Der Ort hatte gegen 1930 knapp 3 000 Einwohner*innen und die Fabrikanten waren um 1910 die größten Arbeitgeber dort. Die Aufsatzsammlung fragt „nach der Eigenlogik der Lebensweise einer dörflichen Elite“ und zwar „auf die Mode als ein Begleitphänomen der Modernisierung zugespitzt“ (8). Konsequent setzen die Autor*innen voraus, dass die Lebensweise der maßgebliche Faktor des Modernisierungsprozesses ist und verzichten so auf generalisierende und vereinfachende Annahmen, wie zum Beispiel, dass es zwischen Stadt und Land automatisch ein zeitliches oder qualitatives Gefälle gebe, was die Aufnahme modischer Tendenzen und Neuerungen angeht.
Das Ausgangsmaterial ist eine Besonderheit und für alle Autor*innen dasselbe: Digitalisate von rund 400 Glasplattennegativen aus dem Nachlass eines ehemaligen Mitinhabers der Firma. „Fotokonvolute einer industriellen Dorfelite stehen in dieser Dichte und raumzeitlichen Zuordnung selten zur Verfügung.“ (14) Die Bilder sind Freizeitprodukte aus dem Privatbereich eines ambitionierten Hobbyfotografen mit hohem Repräsentationsanspruch. Sie zeigen vielfach weibliche Familienmitglieder (auch gezielt mit deren modischen Errungenschaften), die Kinder der Familie, Freunde, Dienstpersonal und Dorfbevölkerung aus der Nachbarschaft.
Was leider oft vernachlässigt wird – hier nicht: Alle Abbildungen im Band (historische Fotografien, Werbegrafiken, Postkarten, Objektfotografien) sind in wünschenswerter Weise als historische Quellen behandelt. Die Bildbeschriftung ist klar und konsequent. Die Leser*innen können jederzeit nachvollziehen, welche Angaben den Fotografen zitieren (Anlass, Personennamen, Aufnahmedatum), welche aufgrund des Quellenstudiums ergänzt werden konnten oder von den Autor*innen stammen. Die Beiträge liefern genaue und fachkundige Bildbeschreibungen. Sie sind dabei keineswegs redundant oder pedantisch, sondern schöpfen die Aussagekraft des historischen Materials aus und lenken den Blick der Leser*innen zielgerichtet auf Details.
Die Autor*innen gehören – mit Ausnahme von Anna Katharina Behrend vom Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg – einer Projektgruppe unter Leitung von Michaela Haibl und Gudrun M. König am Seminar für Kulturanthropologie des Textilen des Instituts für Kunst und materielle Kultur an der TU Dortmund an. Die Beiträge thematisieren nacheinander Privatfotografie als Quelle der Modegeschichte (Gudrun M. König), die Silhouette (Jasmin Assadsolimani), Matrosen-Mode (Xiaoying Xu), Hüte (Heike Fischer), Schürzen (Pia Schepers), gestrickte Oberkleidung (Anna Katharina Behrend), Tischwäsche und andere Heimtextilien (Catharina Feddersen) sowie Schmuck (Michaela Haibl). Hinter jedem Beitrag steckt eine ganze Menge an spezifischem Fachwissen. Die rezipierte Literatur wird jeweils in den Anmerkungen angeführt. Neben den Fotografien wurden Illustrierte, Warenkataloge, Ratgeberliteratur, Archivalien sowie die ortsgeschichtlichen und autobiografischen Aufzeichnungen von Josef Terstegge (1904–1997) aus Laer herangezogen. Der Umfang der Beiträge ist ausgewogen und umfasst inklusive der Abbildungen jeweils rund 20 Seiten.
Das Themenspektrum und die methodische Herangehensweise erinnern an Publikationen der Frankfurter Fotosammlerin und Kostümhistorikerin Ellen Maas, in denen es zum Beispiel ebenfalls um Tischwäsche oder „Frauen im Bild 1920–1930“ (veröffentlicht zusammen mit Barbara Grimm. Lohr am Main, 1997) ging. Deren Arbeitsweise mit „Tableaus“ gleichartiger und gleichaltriger Fotografien greift im rezensierten Werk insbesondere der Beitrag zum Thema Schmuck auf. Darin geht Haibl der Frage nach, was sich anhand des Fotobestandes über „Erscheinungs- und Trageformen von Schmuck“ und damit über Distinktion und kulturelle Teilhabe im Zeitraum von 1900 bis 1925 aussagen lässt (161). In jedem Fall geben historische Fotografien Einblick in vergangene Moden und Lebenswelten. Für die Projektgruppe war insbesondere die Lebenswelt genau abgesteckt. Daran anknüpfend können Fragen, die sich aus dem Dargestellten ergeben, im Hinblick auf das Milieu spezifischer beantwortet werden: Nimmt der ländliche Raum – und hier voran die Elite auf dem Land – an den modischen Prozessen der Moderne um 1900 teil und wie? Inwiefern brachte der „Matrosenanzug“ „eine nationale Haltung zum Ausdruck“ und kann er „im ländlichen und dörflichen Bereich als Form bürgerlicher Inszenierung verstanden werden“ (51)? Wie trug das „Tragen der Hüte von Männern und Frauen in unterschiedlichen Situationen zur sozialen Geschlechterdifferenzierung bei“ (75)? Welche „Konjunkturen von Schürzenformen“ (101) lassen sich identifizieren und wie drücken sich hier Klassendifferenz und Geschlechterhierarchie aus? Was wurde speziell im Bereich der Strickmode von „einer propagierten Mode tatsächlich in die Kleidungsgewohnheiten“ (124) übernommen, von wem, wann und wie? Welche Auskunft geben Bilder mit Tischen als – im Vergleich zu Zimmermöblierungen leicht wandelbare und repräsentative, das heißt halb-öffentliche – „Gestaltungsensembles über den Stil, die Moden und die Wertigkeit der abgebildeten Dinge“ (142)?
Der vorliegende Band ist außerdem einer Ausstellung zugeordnet, die 2020 im „Dortmunder U Zentrum für Kunst und Kreativität“ geplant war, aber leider noch nicht stattfinden konnte. Sie beinhaltet die Abschnitte „Fabrik, Familie, Fotografie, Frauen, Kinder, Männer, Mode.Land, Mode, Moderne“ (190) und steht wohl im Zusammenhang mit weiteren Publikationen. Wenn diese auch in der vorliegenden Art erstellt sind, dann bitte gerne mehr davon! Einen weiteren Aufsatz hätte man sich jedenfalls von dieser Projektgruppe auch für den Herrenanzug gewünscht – zugegeben, ein wegen der dunklen Farben sprödes und wegen der im Verhältnis zur Damenmode geringfügigen Veränderungen in der Herrenausstattung wenig attraktives Feld der Mode, das gerne unbeackert bleibt, zumal es auch noch mit „Codes“ hantiert. Aber vielleicht ist das ja Thema eines künftigen Werks.