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Alexandra Hammer

Doing Childhoods – Doing Futures? Ethnografische Perspektiven auf das gemeinsame Werden von Kindern und Eltern

(Würzburger Studien zur Europäischen Ethnologie 7), Würzburg 2020, Universitätsbibliothek, 101 Seiten, ISSN 2511-9486


Rezensiert von Petra Schmidt
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 20.09.2021

Mit Kindheit sind stets Vorstellungen von Zeitlichkeit und Zukunft verbunden! Dieses Zusammenspiel erforscht die Studie „Doing Childhoods – Doing Futures“ von Alexandra Hammer – eine Masterarbeit, die am Institut für Europäische Ethnologie in Würzburg entstanden und 2020 in den Würzburger Studien zur Europäischen Ethnologie als digitale Publikation erschienen ist. Alexandra Hammer fragt, wie im Kontext von Kindheit Zukunft imaginiert, hergestellt und gestaltet wird. Welche Rolle Zukünfte für die alltägliche Lebensführung von Kleinkindern und Eltern spielen und wie elterliche und kindliche Akteur*innen gemeinsam mit nicht-menschlichen Entitäten (z. B. Büchern, Nahrung, Spielzeug) Zeitlichkeit und Zukünftiges hervor bringen, wie Vergangenes und Gegenwärtiges im Zuge dieser Prozesse verhandelt wird sowie welche spezifischen Zukunftsentwürfe innerhalb dieser Prozesse sichtbar werden und mit unterschiedlichen Kindheitsbildern korrespondieren.
Für die Beantwortung dieses Fragenkomplexes interviewt und beobachtet die Autorin teilnehmend Eltern und Kinder aus zwei Kinderkrabbelgruppen in Würzburg. Forschungstheoretisch verortet sich Hammer interdisziplinär und verknüpft die Bereiche neuere Zukunfts- und Kindheitsforschung [1] mit NaturenKulturen Studien beziehungsweise Multispecies Studies. Zur Untersuchung der Imagination, Herstellung und Bearbeitung von Zukunft wählt sie einen praxistheoretischen Ansatz der Soziologen Andreas Reckwitz und Jochen Koch. Demzufolge strukturiert soziale Praxis Zeit und Zukunft, etwa durch zeitgeprägte Aktivitäten wie zum Beispiel das Feiern von Jahrestagen, die einen bestimmten Rhythmus realisieren, oder durch implizit auf die Zukunft ausgerichtete Praktiken. Um zukunftsbearbeitende Praktiken in ihrer Vielschichtigkeit zu analysieren, nimmt Hammer situativ elterliche und kindliche Praktiken im Gefüge von materialen Objekten, Diskursen und Wissensordnungen in den Blick. Zur Beforschung von Kindheit bezieht sie sich vor allem auf die Dissertation über Alltagszeiten von Kindern der Europäischen Ethnologin Laura Wehr (2009). Ähnlich wie Wehr betrachtet Hammer Kinder als kompetente Akteur*innen und „Seiende im Hier und Jetzt“. Sie unterscheidet gewollt nicht, wie vorwiegend üblich, zwischen Kindern und Erwachsenen, wonach sich erstere durch ein permanentes „Werden“ auszeichnen und zweitere als bereits „erfolgreich“ Gewordene einfach „sind“ (22). Hammer beruft sich grundsätzlich auf einen ganzheitlichen Ansatz bei ihrer Betrachtung von Kindheitskonzeptionen, nachdem Menschen, nicht-menschliche Lebewesen, Umwelt und andere Materialitäten in ihrem jeweiligen Setting spezifische Kindheiten gemeinsam hervorbringen. Die Autorin reflektiert kritisch den vorherrschend anthropozentrischen Blick im Fach Europäische Ethnologie_Anthropolgie _Empirische Kulturwissenschaft und definiert den Menschen gemäß der Wissenschaftstheoretikerin Donna Harraway als transformatives Wesen im Austausch mit seiner Umwelt (insbesondere der Natur). Im Sinne eines „becoming-with“ (Harraway), eines Werdens durch die Umwelt, wird der Dualismus von Kultur und Natur zugunsten einer NaturenKulturen-Forschung, wie sie Bruno Latour oder die Europäische Ethnologin Frederike Gesing verfolgen, aufgehoben.
Um die mit Kindheit im Zusammenhang stehenden Zukunftspraktiken empirisch zu fassen, untersucht Hammer Erzählungen der Eltern über die eigenen Kinder sowie über kinderbezogene Selbstpraktiken. Bei der Verhandlung von Zukunft im Kontext von Kindheit lassen sich thematische Schwerpunkte wie Erziehung, Mobbing, Klima und Umweltverschmutzung, Nachhaltigkeit sowie Glück, Zufriedenheit oder Persönlichkeitsentwicklung feststellen. Hammer zeigt dabei eindrücklich, dass Zukunftspraktiken aus einem Ineinandergreifen unterschiedlicher Zeitebenen (Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft) bestehen. Vergangenes Erfahrenes, wie zum Beispiel die als schön und idyllisch erlebte Kindheit der Mutter, aber auch negative Erfahrungen sind Orientierungspunkte der gegenwärtigen und zukünftigen Erziehung des Kindes, so dass die elterliche Vergangenheit in den zukunftsbezogenen Praktiken gegenwärtig ist.
Hammer stellt darüber hinaus fest: Verbunden mit der Gestaltung der kindlichen Zukunft herrscht bei Eltern oftmals große Unsicherheit vor. Denn zahlreiche Angelegenheiten, Dinge und Entwicklungen in Verbindung mit Kindheit sind offensichtlich nicht plan- oder kontrollierbar und werden durch „Praktiken des Wünschens, Hoffens und sich Sorgens, [...] neben aktiven Versuchen gestalterisch einzugreifen“, kompensiert (63). Zum Beispiel in dem eine frühzeitige Planung und Initiative in Sachen Kinderbetreuung vorgenommen wird. Die Autorin spiegelt anhand ihrer Ethnografie so die den Zukunftspraktiken inhärenten, subjektiven Wahrnehmungen und prekären Zukunftsaussichten der Eltern, wobei die „nahe“ Zukunft als kontrollierbarer als die „ferne“ Zukunft empfunden wird. An dieser Stelle wären auch weiterführende Fragen zu Zukunftspraktiken in Bezug auf Kontrolle, Zuversicht oder Praktiken der Lebensoptimierung im Kontext von Kindheit spannend gewesen, da die aus den elterlichen Aussagen zu entnehmenden pädagogischen und erzieherischen Diskurse und Praktiken, stets „den besten Weg für [ihr] Kind“ zu sichern (64), im Material besonders hervortreten. Eine solche weiterführende Fragestellung nähme die kulturspezifischen Herausforderungen und Anforderung, die mit Planungen für die Zukunft und Vorstellungen von Kindheit verbunden sind, ins Visier.
Neben der Eruierung von elterlichen Zukunftspraxen zur Kindheitsgestaltung anhand von Interviews untersucht Hammer zudem durch teilnehmende Beobachtung Zeitpraktiken von kindlichen Akteur*innen. Mit Rekurs auf einen posthumanistischen Praxisansatz stellt die Autorin fest, dass der Ausgangspunkt für das kindliche Werden, im Sinne eines „doing future“, von Eltern und anderen Partizipierenden (Artefakten, Umwelt, nicht-menschlichen Wesen) im Wesentlichen durch Entwicklungsschritte und -phasen beschrieben wird. An diesem Prozess sind zahlreiche Akteur*innen beteiligt: Wissenschaftler*innen, Expert*innen, Freund*innen, Kinder, Eltern wie auch Artefakte (z. B. Bobbycar, Laufrad, Fahrrad, Babybrei), Partizipierende und Praktizierende wie auch Ko-Konstituierende. Hammer exemplifiziert dies an der kindlichen Praktik des Forderns (Fragen stellen, sich bewegen wollen, spielen wollen), die von Eltern als Anzeichen für Entwicklung und Fortschritt interpretiert und in eine Zukunftspraktik übersetzt werden. Dies geschieht indem der Bewegungs- und Spieldrang als ein Wunsch des Kindes nach Veränderung und Neuanforderung gedeutet und zum Beispiel der Kitabesuch, der Fahrradkauf oder der Auszug aus dem Kinderzimmer als zeitgemäß eingestuft und geplant wird. Kindliche Akteur*innen (bewusst oder unbewusst, die Frage des Zivilisationsgrades im Sinne eines Natur/Kultur Dualismus lässt sich Hammer zufolge nicht klären) sind demnach durch ihre Praktik des Forderns wirkmächtige Alltagsgestalter*innen in Bezug auf zeitliche Strukturierungen und die Ausgestaltung von Zukunft.
Die Autorin räumt den kindlichen Akteur*innen damit ebenso wie Artefakten oder nicht-menschlichen Lebewesen gegenüber Erwachsenen eine gleichwertige Gestaltungsmacht bei Werdensprozessen und der Konstruktion von Kindheit ein und untermauert diesen Ansatz theoretisch: In dem Setting „Kinderkrabbelgruppe“ stellen die Akteur*innen einen Beziehungsraum her, sogenannte „contact zones“ (Harraway), in dem asymmetrische, gesellschaftlich normierte Machtverhältnisse beziehungsweise limitierende Dualismen zwischen Kind – Eltern – Multispezies – Artefakten überwunden werden, indem diese ein egalitäreres Beziehungsarrangement bilden.
Alexandra Hammer bereichert mit ihrer Arbeit so methodisch nicht nur durch eine anspruchsvolle ethnografische Auseinandersetzung mit Zeit die Europäische Ethnologie, sondern auch in Bezug auf die Be- und Erforschung von Kindheit. Die Praktiken der kindlichen Akteur*innen werden mit großem Einfühlungsvermögen gedeutet und Grenzen der Kindheitsforschung vor allem durch einen hierarchiefreien Blick auf Kindheit ausgelotet. Der von Hammer verwendete Multispeziesansatz betont nicht nur die Handlungswirksamkeit kindlicher Akteur*innen, sondern gleichermaßen auch die von materiellen Partizipierenden hervorgebrachten Zukunftspraxen und fordert dadurch herkömmliche (wissenschaftliche) Denkkonzepte heraus.
Positiv hervorzuheben ist zudem die plausible Verzahnung und Nachvollziehbarkeit von Theorie und Empirie der Arbeit. Diesbezüglich und auch aufgrund des ungewöhnlich hohen schriftsprachlichen Niveaus der Masterarbeit, ist die Studie besonders für Studierende lesenswert.

Anmerkung

[1] Für Fachinteressierte zum Thema „Zukunft“ ist aktuell erschienen: Dagmar Hänel u. a. (Hg.): Planen. Hoffen. Fürchten. Zur Gegenwart der Zukunft im Alltag (Bonner Beiträge zur Alltagskulturforschung 13). Münster 2021.