Logo der Bayerischen Akademie der Wissenschaften

Kommission für bayerische Landesgeschichte

Menu

Aktuelle Rezensionen


Adam Kraska

Die Geschichte des Jiu Jitsu. Ursprünge – Entwicklungen – Ausprägungen

Heidelberg: Werner Kristkeitz, 2020. 186 Seiten, ISBN 978-3-948378-02-8


Rezensiert von Bernd Wedemeyer-Kolwe
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 09.09.2021

In vielen historischen Fächern – und dazu gehört auch die Volkskunde – gibt es immer wieder Themen, die nicht nur im akademischen Elfenbeinturm Beachtung finden, sondern die auch von wissenschaftlichen Laien bearbeitet werden. Typische Interessensschnittmengen sind beispielsweise Regional- und Lokalstudien oder Biografien, aber auch historisch grundierte Spezialthemen, bei denen wissenschaftliches Interesse von universitärer Seite auf Kenntnis und Sammelleidenschaft derer trifft, die fachlich nicht explizit ausgewiesen sind. Im schlechtesten Fall ergibt eine solche Begegnung eine zum Scheitern verurteilte Mesalliance inklusive Missverständnisse und Sprachlosigkeit; wenn es gut läuft – das erfordert (auf beiden Seiten) Bereitschaft, Akzeptanz und zumindest die Vorstellung von der Bedeutung eines demokratischen Bildungsauftrages – entsteht eine gegenseitige Bereicherung, bei der sich thematischer Kontext und Spezialwissen so befruchten, dass jede Seite davon profitieren kann.
Nicht nur die klassische Volkskunde im engeren Sinn, auch die Sportgeschichte ist reich an solchen Begegnungen zwischen – um im sportlichen Bild zu bleiben – „Professionellen“ und „Amateuren“; besonders auf dem Gebiet der Sportartengeschichte ist die Schnittmenge groß. Während die Laien dabei vor allem (auch regional) in die Tiefe gehen und über etliche elementare Grunddaten und -fakten verfügen, die mühsam zusammengetragen wurden, ist die andere Seite eher am kulturhistorischen Kontext interessiert, der jedoch ohne fundiertes Grundwissen über den Gegenstand nicht auskommt. So herrscht bei Sportarten(geschichte) wie etwa Fußball mittlerweile ein breiter Austausch zwischen allen Beteiligten, wobei der Kitt die gemeinsam geteilte Leidenschaft ist, die zusätzlich potenziert wird von einem gewissen gesellschaftlichen Grundkonsens (zumindest bei Männern) über die kulturell hohe Bedeutung des Fußballs; eine Sichtweise, die bei marginaleren Sportarten wie etwa Wasserball ein wenig anders aussieht.
Ähnlich interessante Schnittmengen, aber erheblich weniger intensiv erforscht, ergeben sich auch bei historischen Körperkonzepten und Leibesübungen aus nichteuropäischen Regionen, wie zum Beispiel bei der Geschichte der Kampfsportarten. Sie werden immer dann besonders interessant, wenn der kulturhistorische Kontext einbezogen wird, der die Problematik, die Komplexität und die Vielfalt (und auch den kulturhistorischen und religiösen Filter) der jahrhundertalten Asienrezeption im westlichen Bildungsbürgertum umfasst. Dabei ist die Geschichte der bürgerlichen Rezeption des Yoga mit seinen Religions-, Kultur- und Körperkonzepten recht gut erforscht. Von der Geschichte und Rezeption der japanischen Kampfkünste, die – als sportliche Praxis – in den letzten Jahrzehnten auch in Deutschland einen Aufschwung erlebt haben, lässt sich das allerdings nicht sagen, es gibt erstens zu wenig fundierte Arbeiten und zweitens eine zu große Distanz zwischen „Profis“ und „Amateuren“. Zwar sind in den letzten Jahren von akademischer Seite diverse Arbeiten zur Geschichte, Rezeption und Religion von japanischen Kampfkünsten erschienen, wobei Autoren wie David Bender (Volkskundler, Japanologe) oder Marcus Coesfeld (Historiker, Pädagoge) selbst einen praktischen Bezug zum Thema haben. Jedoch finden sich auf der anderen Seite verbandsnahe und praxisorientierte Autoren wie Klaus-Dieter Matschke (Chronik 100 Jahre Jiu-Jitsu) oder Thorsten Preuß (Biografie Erich Rahn), die sich zwar mit der Geschichte ihrer Sportart befassen, auf die kulturhistorischen und rezeptionsorientieren Ansätze akademischer Arbeiten aber keinen oder nur geringen Bezug nehmen.
Dies gilt auch für die vorliegende Arbeit von Adam Kraska, der als Fachsportlehrer im Verband aktiv ist und ein Buch zur Geschichte des Jiu-Jitsu geschrieben hat. Das Buch bietet eine konventionelle Einführung in die historischen Grundlagen des Sports von den Anfängen in Japan im 16. Jahrhundert bis zur Übernahme in europäische Länder und in Deutschland vom späten 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Konventionell ist das Buch deshalb, weil Kraska seine lineare Geschichte beinahe ausschließlich an der Chronologie einzelner, als wegweisend eingestufter männlicher Protagonisten entlang erzählt, wobei den sich widersprechenden, in der Szene kursierenden Narrativen hinsichtlich der umstrittenen Bedeutung zentraler Personen für die Geschichte des Jiu-Jitsu großer Raum gewidmet wird. Dabei drängt sich der Eindruck auf, dass hier ebenfalls eine konkurrierende Darstellung geboten wird, die in Opposition zu den bisherigen Erzählungen steht; so kommt dem bislang in der Geschichte des deutschen Jiu-Jitsu zentral positionierten Akteur Erich Rahn hier nur eine marginale Rolle zu. Zwar wird dabei teilweise auf die organisatorische Einbindung des Jiu-Jitsu in den deutschen Sport, hier in den Athletik-Sportverband, verwiesen, für den die Eingliederung nahe lag, da er auch andere Kampf- und Kraftsportarten wie Gewichtheben, Ringen, Rasenkraftsport und Boxen vertrat. Aber warum Jiu-Jitsu sowohl private beziehungsweise kommerzielle Fitnesstechnik als auch Wettkampfsport im Amateurverband werden sollte – was unterschiedliche Kulturtechniken, Rezeptionsstränge und Herangehensweisen an Jiu-Jitsu erforderte – wird nicht erklärt. Auch das Verhältnis zum Nationalsozialismus, die Instrumentalisierung der NS-Sportpolitik und die Verstrickung von (Verbands)Größen des Jiu-Jitsu in das NS-Regime werden nicht thematisiert.
Durch die Struktur, die Geschichte fast ausschließlich an Personen beziehungsweise Akteuren und ihren sportlichen Erfolgen entlang zu erzählen – mit einem Exkurs zum in der Fachliteratur ohnehin bekannten Bezug zwischen Jiu-Jitsu und der britischen Frauenbewegung um 1900 –, kommt die Kultur- und Rezeptionsgeschichte des Jiu-Jitsu dabei insgesamt zu kurz; es wird an keiner Stelle klar, wieso Jiu-Jitsu beziehungsweise generell fernöstliche Körperkonzepte für bestimmte soziale Schichten in bestimmten historischen Kulturen und Situationen (wie in Europa um 1900) überhaupt so attraktiv geworden sind, dass eine breite und dauerhafte Rezeption bis heute einsetzen konnte.
Kraska erzählt seine Personengeschichte des Jiu-Jitsu detailliert und bietet damit eine (zu überprüfende) Fundgrube an biografischen Anknüpfungspunkten; leider versäumt er es aber, über den Einbezug der vorhandenen Fachliteratur und ihren unterschiedlichen Zugriffen sowie über eine Einbindung in die Asienrezeption den Einfluss und die Wirkung von Jiu-Jitsu auf Sport und Körperkonzepte, Religion, Weltanschauung und Kultur in Europa in den erforderlichen Forschungskontext zu stellen. Dies hätte sicherlich einen Erkenntnisgewinn erbracht, der über eine reine Personenchronologie hinausgegangen wäre.