Aktuelle Rezensionen
Eva Locher
Natürlich, nackt, gesund. Die Lebensreform in der Schweiz nach 1945
Frankfurt am Main 2021, Campus, 426 Seiten, ISBN 978-3-5935-1342-3
Rezensiert von Bernd Wedemeyer-Kolwe
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 27.09.2021
Die Erforschung der Lebensreform ist mittlerweile weit über 50 Jahre alt. Was einstmals ein außenseiterisches Thema eines kleinen randständigen beziehungsweise sich als randständig auffassenden Wissenschaftskreises war, ist heute in Lehre und Forschung breit angekommen. Dabei ist das Thema – und das macht es so interessant wie heikel – über sein eigentliches historisches Sujet hinaus stets ein sensibler Seismograf aktueller gesellschaftlicher Befindlichkeiten (gewesen) und spiegelt gleichzeitig noch die subjektiven Haltungen der jeweiligen Forschungsgeneration wider: War die erste Forschungsgeneration der Lebensreform um und ab 1970 bis weit in die 1990er Jahre hinein selbst ein Teil der damaligen sogenannten „Alternativbewegung“ beziehungsweise sympathisierte mit ihr – daher ihr Interesse an historischen Alternativbewegungen – , so sind die Alternativthemen einer ehemals jungen und zumeist bürgerlichen „Ökogeneration“ heute unter dem Motto „Nachhaltigkeit“ breiter Konsens zumindest in den kulturell und politisch tonangebenden sozialen Schichten geworden und insofern ein verändertes Thema einer entsprechend orientierten Forschungsgeneration. Dies betrifft Körperlichkeit, Ernährung, Wohnen und Gesundheit ebenso wie ihre in der Spät- beziehungsweise Postmoderne entworfenen und auf die Spitze getriebenen „singularisierten“ Begleiterscheinungen wie (Selbst)Optimierung, sozialer Habitus und Selbstverwirklichung, eben das gesunde „kuratierte Leben“, wie es der Kultursoziologe Andreas Reckwitz einmal bezeichnet hat. Was früher ein oppositioneller und nicht einfach zu verwirklichender individueller Lebensentwurf mit selbstauferlegtem Verzicht war, ist heute die sozial abgrenzende selbstoptimierende Elitehaltung einer sich als „neu“ empfindenden bürgerlichen Schicht.
Aufgrund seiner extremen Anschlussfähigkeit an aktuelle Bezüge und an individualistische Sichtweisen ist das historische Thema „Lebensreform“ daher breit erforscht und erfreut sich steigender Beliebtheit, wobei das modische Forschungslabel „Lebensreform“ nicht unbedingt auch immer den Inhalt entsprechender Publikationen widerspiegelt, wiewohl dies aber auch von der jeweiligen Definition des Themas – eng, weit oder sehr weit – abhängt. Ausgeforscht – hinsichtlich Subthemen, Theorien, Epochen, geografischen Bezügen, Zugängen, Quellen und Sichtweisen – ist das Thema jedoch noch lange nicht, und dies macht die Dissertation von Eva Locher auf das prägnanteste deutlich. Die Studie entstand im Rahmen eines Projektes zur Geschichte der Lebensreform in der Schweiz an der Universität Freiburg (Schweiz) unter dem Historiker Damir Skenderovic, das als Doppeldissertationsforschung angelegt war: Während Stefan Rindlisbacher die Schweizer Lebensreform bis 1945 erforschte, nahm sich Eva Locher die Zeit nach 1945 vor.
Eva Locher gelingt es, mindestens – so weit ich sehe – vier neue Aspekte in die Forschung einzubringen, und das ist weit mehr, als viele andere Studien zum Thema vorweisen können. Erstens befasst sie sich mit der Schweiz als eigenständigem zentralen Drehpunkt einer umfassenden Lebensreform; bisher war die Schweizer Lebensreform lediglich über den Monte Verità und die Sanatoriums- und Ernährungsreformszene erforscht. Zweitens legt sie ihren Schwerpunkt auf die Zeit nach 1945; eine bislang eher unterbelichtete Epoche in der (internationalen) Forschung generell. Drittens verkoppelt sie ihren Untersuchungsgegenstand – die Reformgenerationen der vor dem Krieg Geborenen – mit der neuen Alternativbewegung der 1970er Jahre; und dies nicht nur in ihrer bislang betrachteten Rolle als Stichwortgeberin für die nachfolgende Bewegung, sondern vielmehr auch im Hinblick auf ihre ambivalente Gleichzeitigkeit und ihr Nebeneinander. Und viertens betrachtet Eva Locher ihr Thema strikt unter transnationalen Aspekten; bis vor kurzem war die Lebensreform eher als deutsches Phänomen gesehen worden, und Studien zu anderen Ländern waren ohnehin rar gesät und wurden auch nur selten vergleichend herangezogen. Diese Zugangsweisen wendet die Autorin auf die zentralen und wichtigsten lebensreformerischen Gruppierungen und Themen in der Schweiz an: die Ernährungsreform, die Naturheilkunde und die Freikörperkultur, wobei Locher einer engen und damit einer historisch zentralen und arbeitsfähigen Definition von Lebensreform folgt und somit viel genauer als manche andere Studie Ursprungsphänomen von bloßer Rezeption trennen kann. Die Autorin kann sich dabei aber – zumindest was die Freikörperkultur angeht – auf eine Schweizer Besonderheit stützen: Während die FKK in allen anderen (westeuropäischen) Ländern nach 1945 ihre lebensreformerischen Elemente zugunsten einer organisatorischen und praktischen Einbindung in den Sport-, Freizeit- und Tourismusbereich verloren hat, hielt die Schweizer Freikörperkultur ganz im Gegensatz dazu an ihrem lebensreformerischen Bezug fest. Dieser Schweizer Sonderweg führt dazu, dass die Autorin von der ursprünglichen Selbstbezeichnungsform der Lebensreform als „Bewegung“ absieht, sondern – und das ist so gewinnbringend wie logisch – vom lebensreformerischen „Milieu“ sprechen kann.
Eva Locher bedient sich für ihre Studie einer breiten international recherchierten Quellenlage – Staats- und Kommunalarchive, Privatarchive, Verbandsarchive sowie die weit gestreute und nicht immer einfach aufzufindende zahlreiche Eigenliteratur der Lebensreform – und eines ebenso intensiven Rückgriffs auf die große Menge an (schon historischer) Sekundärliteratur. Aus diesem breiten Zugriff und der behutsamen Rezeption resultiert eine bodenständige, quellengesättigte und im Ergebnis abgewogene Studie, die historische Themenstellungen, ältere Theorien, aktuelle Sichtweisen und neue Fragestellungen gleichermaßen gewichtet und reflexiv gegeneinander abwägt, diskutiert und daraus Schlüsse zieht. Eva Locher behandelt die sozialen und kulturellen Normen des Themas ebenso wie die Praktiken der Lebensreform und die Eigenwahrnehmungen der handelnden Personen selbst. Sie fragt also ebenso nach medialen Körperbildern wie auch nach gelebten Körperpraktiken, sie untersucht ideologische Rechtfertigungsklischees (von der Bibel bis zur Antike) ebenso wie pragmatische Strategien einer bürgerlichen Verzichtstradition, und sie bezieht soziale Milieus ebenso wie politische Strömungen von „links“ bis „rechts“ mit ein, wobei der momentan beliebte Zugriff auf die Rassismusthematik in der Geschichte der Lebensreformforschung ohnehin immer schon ein wichtiges Thema war. Fast unnötig zu sagen, dass die Autorin selbstverständlich auch neuere (und ältere) Körper- und Gendertheorien sowie Aspekte des Kolonialismus anspricht, jedoch ohne auf das mitunter reflexhafte Selbstdarstellungspotential jener Sichtweisen aufzuspringen, sondern derartiges immer absichernd anhand der Quellen sauber anwendet.
So ist eine Studie entstanden, die auf der Grundlage breiter Quellen- und Rezeptionsarbeit und eines behutsamen und kenntnisreichen Einbezugs älterer, neuer und aktueller Theorien, Methoden und Sichtweisen gleichermaßen abgewogen wie reflexiv daherkommt. In einer Zeit, in der jeder Kinderspielplatz einen „Campus“ und jeder Joghurtbecher ein „Narrativ“ hat und in der das Verfassen eines weiteren Fachbuches schnell zum „second book project“ stilisiert wird, in der also Selbstdarstellung wichtiger zu sein scheint als fundierter Gehalt, ist eine Dissertation, die statt auf medialen Effekt auf wissenschaftliche Reflexion setzt, ein Gewinn. Dieses Buch wird Bestand haben.