Aktuelle Rezensionen
Sarah May (Hg.)
Alltag findet Stadt. Freiburg als Beispiel
(Freiburger Studien zur Kulturanthropologie, Sonderband 4), Münster/New York 2020, Waxmann, 175 Seiten, ISBN 978-3-8309-4189-7
Rezensiert von Sheila Schilling
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 27.09.2021
Im Oktober 2019 startete die Kulturanthropologin Sarah May am Freiburger Institut für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie das forschungsbasierte Studienprojekt „Alltag findet Stadt. Freiburg als Beispiel“. Das Projekt verband gekonnt den zentralen Leitbegriff des Faches, Alltag, mit einem seiner bedeutenden Forschungsfelder, der Stadt. Dabei ging es May dezidiert darum, „dass nicht nur in der Stadt geforscht wird, sondern die Stadt selbst zum Forschungsgegenstand wird“ (10). Sieben Masterstudierende wollten herausfinden, was die Stadt Freiburg aus Sicht der dort lebenden Menschen einzigartig macht. Aus dem Studienprojekt entstand pünktlich zum 900-jährigen Stadtjubiläum der vorliegende Sammelband. Die in ihm zusammengefassten insgesamt siebzehn Studien sind verschiedenen Alltagsgeschichten und -situationen in Freiburg gewidmet. Dabei zeigen die Studierenden, wie die Freiburger*innen mit ihren Alltagen auch ihre Stadt als einen mit besonderen Eigenlogiken ausgestatteten Ort gestalten. Die Forschung beruht unter anderem auf Interviews, in denen Stadtbewohner*innen Einblicke in ihre „Lebensgeschichten, Alltagsroutinen und Selbstdeutungen“ geben (13). Auch teilnehmende Beobachtungen und Alltagskommunikation wie etwa die Kritzeleien auf den Wänden öffentlicher Toiletten wurden ausgewertet. Folgende die Stadt konstituierenden Praktiken, die die einzelnen Texte benennen, werden im Detail untersucht: ankommen, aufhalten, entsorgen, fairteilen, fließen, grenzgehen, können, kritzeln, kultivieren, (land-)wirtschaften, posten, radeln, stricken, vermitteln, wachsen und zusammenleben. Die in der vorliegenden Rezension besprochenen fünf Beiträge stehen stellvertretend für die bemerkenswert eindrücklich gelungenen Mikrostudien zu den Alltagspraktiken, die die Stadt Freiburg ausmachen.
Im Beitrag „ankommen“ zeigt Karlin Schumacher, was es bedeutet, neu in einer Stadt zu sein, wie sich der gewohnte Alltag verändert und wie Sicherheit verloren geht, bevor ein neues Gefühl von „Zu-Hause-Sein“ entsteht. Anhand zweier Erasmus-Studierender zeichnet sie den Prozess des sich neu in Freiburg Beheimatens behutsam nach und konzipiert ihn als eine spezifische Aneignung. Mit der Europäischen Ethnologin Beate Binder geht sie davon aus, dass das Gefühl von Heimat wesentlich mit sozialer Zugehörigkeit verbunden ist. „Zu-Hause-Sein“ ist mithin ein starkes Gefühl, das vor allem aus sozialer Einbindung und Freundschaften resultiert.
Der Beitrag „entsorgen“ von Tobias Becker geht auf die unsichtbaren und in der öffentlichen Wahrnehmung eher vernachlässigten Aspekte der Stadt ein. Dafür betrachtet der Verfasser die Infrastruktur für die Müllbeseitigung. Müll ist dabei ein „zentrales Verbindungselement zwischen […] individuellem Alltag und kollektiver Stadt“ (41 f). Durch Anknüpfung an Ideen des „new materialism“ werden weitere theoretische Konzepte in die Stadtforschung eingebracht. Zudem zeigt Becker durch die Betrachtung von Alltagsroutinen, dass die Grenzen der Stadt im Kontext der Müllentsorgung nicht lokal begrenzt, sondern mit globalen Aspekten wie Mülldeponien verflochten sind.
Marlene Diemb verdeutlicht in ihrem Beitrag „fließen“, wie sich der Alltag im Lauf der Zeit verändert. Sie nimmt sich dafür der Geschichte der „Bächle“ an, die sich als vom Wasser der Dreisam gespeiste Wasserrinnen über die ganze Stadt erstrecken. Während die „Bächle“ im Mittelalter als Wasserversorgung für Tiere und Menschen gebraucht wurden, sind sie heute ein kulturhistorisches Wahrzeichen der Stadt. Diemb zeigt, wie die „Bächle“ den Alltag der Menschen trotz ihres Bedeutungswandels weiter beeinflussen und heute als fester Bestandteil in den urbanen Raum Freiburgs integriert sind.
Wie schon in ihrem Beitrag „grenzgehen“ verschieben sich die Grenzen von Stadt auch in „posten“ von Lea Breitsprecher, die ihre Forschungen über den Online-Raum der Stadt Freiburg darstellt. Ihrer These zufolge erweist sich die Eigenlogik einer Stadt auch in den sozialen Medien. Damit lehnt sie sich an Überlegungen Christoph Bareithers an, denen zufolge sich alltägliche Routinen auch in Medienpraktiken manifestieren. Der Alltag spiegelt sich online unter dem Hashtag #freiburg wider und lässt die Räume zwischen online und offline konvergieren. Postings und Bilder der Stadt kreieren in sozialen Netzwerken neue Perspektiven. Sie schaffen Verbindungen zwischen Menschen, dienen der Orientierung und transformieren die Imaginationen des Stadtimages.
Julia Voswinckel richtet ihren Blick abschließend auf das „zusammenleben“. Dafür besuchte sie Ira, eine 69-jährige Rentnerin, und Berly, eine Studentin, die im Wohnprojekt „Wohnen für Hilfe“ zusammenleben. Bezahlbaren Wohnraum zu finden, ist in Freiburg besonders schwer. Das untersuchte Wohnprojekt ermöglicht es daher Studierenden, bei Familien oder älteren Menschen zu leben und diesen als Gegenleistung für den zur Verfügung gestellten Wohnraum bei alltäglichen Aufgaben zu helfen. Auf diese Weise entstehen Interdependenzen zwischen Individuen, die neue gesellschaftliche Bindungen hervorbringen. Der Alltag von Ira und Berly ist durch gegenseitige Unterstützung und gemeinsame Interaktion verbunden, aus der eine Freundschaft entstand. Indem Berly bei Ira einen Wohnort gefunden hat, profitiert sie von Iras Wissen über die Stadt Freiburg. Voswinckel betrachtet diesen Mehrwert der Wohnkonstellation nach Pierre Bourdieu als kulturelles Kapital.
Die einzelnen Kapitel des Sammelbandes spiegeln so die Mannigfaltigkeit der Stadt Freiburg wider. Die Forschungsbeiträge der Studierenden greifen verschiedene theoretische Ansätze der Kultur- und Sozialanthropologie auf und nutzen das weite Methodenspektrum des Fachs Europäische Ethnologie mit jeweils unterschiedlichen methodologischen Herangehensweisen in vorbildlicher Weise. Das Konzept der Eigenlogik zieht sich dabei kontinuierlich als roter Faden durch alle Forschungsbeiträge. Zusätzlich dokumentiert der Band auch eine beeindruckende Produktivität der Freiburger Studierenden, die in diesem Projekt als vergleichsweise kleine Gruppe einen breiten Einblick darin ermöglichen, wie Freiburg durch den Alltag von Vielen gemacht wird. Der gelungene Sammelband überzeugt nicht nur durch die hohe Qualität der einzelnen Beiträge; er ist durch kreative Fotografien aus ungewohnten Perspektiven und in seiner Aufmachung optisch auch überaus ansprechend gestaltet. „Alltag findet Stadt“ ist daher nicht nur für alle Freiburger*innen empfehlenswert, sondern gleichermaßen für alle diejenigen, die an Alltagen in modernen Städten sowie an neuesten Forschungsansätzen in diesem Feld interessiert sind.