Aktuelle Rezensionen
Sarah Nimführ
Umkämpftes Recht zu bleiben. Zugehörigkeit, Mobilität und Kontrolle im EUropäischen Abschieberegime
Münster 2020, Westfälisches Dampfboot, 375 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-89691-052-3
Rezensiert von Brigitte Zamzow
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 27.09.2021
Als erste Studie überhaupt widmet sich Sarah Nimführ in ihrer Dissertation ausschließlich den Nichtabschiebungen von Geflüchteten ohne eigens verursachte „fault of their own“ (19) im EUropäischen Migrationsregime. Es sind Geflüchtete in Malta, die nach einem zweiten Asylablehnungsbescheid im juristischen, gesundheitspolitischen und lebensweltlichen „Limbo“ (57) verharren bis die Abschiebung vollzogen wird, die in der Studie zu Wort kommen. Innerhalb des Abschieberegimes EUropas sorgen nicht etwa nur die tatsächlichen Abschiebungen, sondern auch und viel mehr die Abschiebbarkeit per se für eine Produktion ungleicher Kontroll- und Machtverhältnisse, deren Regelkonstruktionen unhinterfragt bleiben. Nimführ geht es um die Dekonstruktion und Infragestellung eben dieses Abschiebesystems. Sie spricht in ihrer Arbeit mit Forschungspartner*innen, die teilweise seit mehr als zehn Jahren in Malta leben und arbeiten, Kinder großgezogen haben und sich ein Leben im Dazwischen eingerichtet haben. Dabei legt Nimführ besonderen Fokus auf Mobilitätsaneignungen der Geflüchteten, die in der entrechtlichten Lebenswelt der Nichtabschiebbarkeit zu neuen Zugehörigkeiten finden und sich Kontrolle über die eigene Situation zurückerobern.
Nimführs Studie ist in der kritischen Migrations- und Grenzregimeanalyse verortet. Sie geht multiperspektivisch und grenzübergreifend, sowie multimethodisch vor (Kapitel 2) und reiht sich in die neueren Abhandlungen in ethnografischer Perspektive ein, die die eigene Positioniertheit im Feld als Forscher*in und Aktivist*in reflektieren. Über einen Zeitraum von zweieinhalb Jahren hat sie mehrere Forschungsaufenthalte in Malta und über Maltas nationale Grenzen hinweg getätigt und ihre Forschungspartner*innen in ihrem Alltag begleitet (85). Sie brilliert mit einem ausladenden Korpus ethnografischen Datenmaterials, der um eine sorgfältige diskursanalytische Aufarbeitung von Archivmaterial, Gesetzestexten, Zeitungsartikeln und Behördenwebsites verdichtet ist (89). Sie nutzt die Analysekategorie des „Limboscape“ (50 ff.), welche „eine Betrachtungsweise des Limbos als multidimensionales und mobiles soziales Konstrukt und als Prozess“ (66) ermöglicht, in dem sie die individuelle Handlungsmacht ihrer geflüchteten Forschungspartner*innen räumlich und sozial verortet. Dabei wird die Begrifflichkeit der Grenze ein zentrales Moment der Analyse. Sie wird zum mobilen Aushandlungs- und Warteraum (41), in dem sich die Geflüchteten befinden und aus dem heraus sie handeln.
Nimführ zeigt in ihrer Empirie eindrücklich, wie diverse EUropäische Kontrollinstitutionen einen rechtlichen Rahmen stecken, der von den betroffenen Geflüchteten interpretiert und gefüllt wird. Die Aktionen und Reaktionen zwischen Institution und individuellem/r Geflüchteten gleichen einer Performanz, um passende Antworten zu liefern und sich Handlungsmacht zu erspielen (164). Als Beispiel hierfür darf das Vorzeigen eines geliehenen Passes und damit einer als passend wahrgenommenen Identität gelten, um Grenzen überqueren zu können (299 ff.). Ein zweites eindrücklich beschriebenes Phänomen ist die Zugehörigkeitskonstruktion zu jenen Ländern, denen Schutzwürdigkeit zugesprochen wird. Der eigene Pass und die unpassende Identität werden dementsprechend in der prekarisierten Situation des Asylinterviews umgedeutet (161 ff.). Diese Mechanismen zeigen die Absurditäten der Limboscape auf, in der kein Raum für die Vielzahl an Narrationen und Hintergründen der Individuen bleibt, der menschenwürdige rechtmäßige Verhältnisse außerhalb der Nichtabschiebbarkeit garantieren könnte. Dabei ist die geflüchtete Person aber nicht nur der Reagens, sondern wird zum Agens, der proaktiv durch Erfahrung, vielschichtige Kommunikation und Taktik der inneren Logik des komplexen Systems Herr wird und sich Handlungsmacht aneignet.
Das empirische Herzstück der Arbeit ist das fünfte Kapitel mit dem Titel „Erfahrungsräume der Alltagsorganisation in der Limboscape“. Bemerkenswert sind Nimführs Ausführungen zur Ankunft der Geflüchteten in Malta, die erst monatelang in „Detention Centres“ untergebracht werden, um dann Raum in sogenannten „Open Centres“ zu beziehen, ehe sich entscheidet, ob sie in eine Wohnung in der Stadt umziehen und Arbeit finden können. Nimführ zeigt, wie die Kriminalisierung Geflüchteter zur Marginalisierung in allen Lebensbereichen führt, sie aber durch ihre körperliche Anwesenheit auf der Insel in ihrer entrechtlichten Situation als Arbeiter*innen des kapitalistischen EU-Systems fungieren und nutzbar gemacht werden. In diesem Sinne wird konform der Kontrollinstitutionen absurderweise sogar ein „permit to work“ ausgestellt, um arbeiten zu können, der aber nicht zu einem legalisierten Arbeitsvertrag oder Aufenthaltsstatus führt. Wie sehr ihre marginalisierte Lebenswelt in der Limboscape mit der EU verflochten ist, zeigt sich auch in Nimführs weiteren Ausführungen zu Wohnraum, Bildung und Gesundheit.
Angeschlossen ist ein Kapitel über Mobilitätsphänomene jenseits Maltas, in dem Nimführ ihre Forschungspartner*innen an anderen Orten EUropas zu einem späteren Zeitpunkt ihrer Datenerhebungsphase nochmals interviewt. Hier geht es ihr weniger um den Anspruch einer Multi-Sited Ethnography, als um ihren eigenen Anspruch, nachvollziehbar zu machen, inwiefern Grenzziehungen innerhalb EUropas und deren potentielle Zugänglichkeit für nichtabschiebbare Geflüchtete ebenfalls im Limboscape konstruiert sind und sich in ständiger Reproduktion befinden.
Das Buch schließt mit dem schlussfolgernden Kapitel, welches im Vergleich zum Rest der Studie recht kurz ausfällt, aber prägnant und transparent formuliert ist. Nimführ schildert abschließend, wie die mit Geflüchteten gemeinsam erarbeiteten wissenschaftlichen Artikel auf Exklusionsmechanismen innerhalb des wissenschaftlichen Betriebs (Konferenzteilnahme) und auch auf Delegitimationsprozesse wissenschaftlicher Qualität stießen (fehlendes Leistungszugeständnis für einen erhaltenen Preis), und plädiert dafür, dass in der Scientific Community die Notwendigkeit kollaborativer Wissensproduktion anerkannt und weitreichender praktiziert werden solle.
Herausragend ist an Sarah Nimführs Studie die klare Einbettung in kulturwissenschaftliche Theorie, die ihren methodologischen Zugang und ihre Verschriftlichung wesentlich formt und den/die Leser*in leitet. Sie versteht es dadurch, sich unmissverständlich als Wissenschaftlerin zu positionieren, ohne dabei ihren normativen Anspruch auf soziale Gerechtigkeit im EUropäischen Grenzregime aufgeben und ihre Rolle als politische Aktivistin im Rahmen der Forschung hintenanstellen zu müssen. Da sie auf weitschweifende Wissenschaftssprache verzichtet, sei diese Studie breitgefächert Studierenden, Praktiker*innen und Wissenschaftler*innen empfohlen, die sich mit dem EUropäischen Grenzregime befassen.