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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Aktuelle Rezensionen


Elke Rajal/trafo.K/Oliver Marchart/Nora Landkammer/Carina Maier (Hg.)

Making Democracy – Aushandlungen von Freiheit, Gleichheit und Solidarität im Alltag

(Edition Politik 94), Bielefeld 2020, transcript, 218 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-8376-5016-7


Rezensiert von Maurizio Scelsi
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 27.09.2021

In Zeiten wiederkehrender Thesen zu Politikverdrossenheit, welche – laut Einleitungskapitel – ausschlaggebend für den vorliegenden Sammelband waren, lohnt zunächst eine kursorische Einordnung. Während sich die Politikwissenschaft lange eines staats- beziehungsweise steuerungszentrischen engen Politikbegriffs annahm, erweiterte sich dieses etatistische Verständnis ab den 1980er Jahren. Unter dem Signum politischer Differenz firmiert in der politischen Theorie heute – neben „der (ontischen) Politik“ – die Annahme „des (ontologischen) Politischen“. Letzteres zeichnet sich durch seine Alltagsnähe aus und macht es für post-volkskundliche Fächer besonders interessant (Anthropologie des Politischen). Oliver Marchart, Mitherausgeber von „Making Democracy“, hat in der Vergangenheit Publikationen vorgelegt, in denen er sich der Analyse des Politischen bei diversen Theoretiker*innen gewidmet hat. In (s)einer Tätigkeit als Professor für politische Theorie/Ideengeschichte werden sämtliche „demokratietheoretischen Überlegungen […] im Regelfall keiner empirischen Überprüfung unterzogen, sondern innertheoretisch postuliert und ideengeschichtlich gestützt. Das bedeutet jedoch nicht, dass sie sich nicht in ein empirisches Forschungssetting übersetzen ließen.“ (24)
Der Band „Making Democracy – Aushandlungen von Freiheit, Gleichheit und Solidarität im Alltag“ stellt ein solches Vorhaben dar. Das Projekt wurde gefördert vom Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung (Österreich), konkret vom Programm Sparkling Science („Wissenschaft ruft Schule – Schule ruft Wissenschaft“). Neben Schüler*innen und Lehrer*innen der Wiener Gesamtschule antonkriegergasse (akg) komplettierten das Forschungsteam eine Kunst- und Comiczeichnerin (Ka Schmitz), eine wissenschaftliche Begleitung (Nora Sternfeld), eine Fotografin (Sandra Kosel) sowie Mitarbeitende anderer Einrichtungen, darunter aus dem Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien, von trafo.K – Büro für Kunstvermittlung und kritische Wissenschaftsproduktion und diverCITYLAB – PERFORMANCE- und THEATERlabor. Der Sammelband umfasst sechzehn Beiträge auf 218 Seiten. Aus Platzgründen können nicht alle ausreichend gewürdigt werden. Der Fokus liegt auf dem vorderen Teil der Publikation, bei deren erster Betrachtung die Transkription eines Videoclips einer Selbstbefragung unter Schüler*innen sowie eine mehrseitige farbige Bildstrecke auffallen.
Der erste Teil des Sammelbandes reflektiert und wertet aus. Er bezieht sich auf ein der Publikation vorausgegangenes Forschungsprojekt (2017–2019), an dessen Ende eine Abschlusstagung im Wiener Volkskundemuseum stand. Ziel der Forschung – mit bis zu 50 teilnehmenden Schüler*innen aus dritten und siebten Klassen – war „nicht die Vermittlung demokratischer Werte, sondern ein Erforschen der Dimensionen und Konkretisierungen dieser Werte im Alltag der Jugendlichen“ (14). Kurzum: „die Frage, wie sich im Leben der Jugendlichen demokratische Grundfragen von persönlicher Autonomie und deren Einschränkung, von Gleichheit und Ungleichbehandlung, von Solidarität und Ausschluss stellen“ (ebd.). Diese und weitere Hintergründe zum Projekt werden in der überblicksartigen Einleitung der Mitherausgeberinnen Elke Rajal, Carina Maier und Nora Landkammer dargelegt. Hierauf folgt ein Beitrag zum Forschungsdesign aus politik-theoretischer Perspektive, in dem Oliver Marchart die Forschungsfelder benennt, die Inspiration für „Making Democracy“ waren: Migrationspädagogik, Cultural Studies (CS) und Intersektionalitätsforschung. Gerade weil nach „dem in der Alltagskultur verankerten demokratischen Wertekanon der Jugendlichen“ (27) gefragt wird, werden Widersprüchlichkeiten und Überkreuzungen der drei Grundnormen diskutiert. Sie stehen „in einem unauflöslichen Wechselverhältnis“ (28). Es folgt ein elaborierter Text Elke Rajals, der unter Bezugnahme auf in 30 Workshops entstandene Materialien (Videos, Comics, Zines, Plakate, Reflexionsprotokolle, Forschungstagebücher) darstellt, welche Themen in den Projektjahren im Kontext der drei Grundwerte verhandelt wurden (z. B. Mobbing, Rassismus, Digitalisierung, Sport, Staatsbürgerschaft und Wahlrecht etc.). Dabei tritt die Erkenntnis zu Tage, „dass der Umgang mit großen Begriffen […] die Schüler*innen vor große Herausforderungen stellte“ (47). Dieser Befund, der vorranging dem Wert der Solidarität gilt, stimmt nachdenklich – ebenso die aufgetretenen Schwierigkeiten im Hinblick auf das „Sprechen über die eigene Involvierung in Ungleichheit produzierende gesellschaftliche Verhältnisse wie Rassismus“ (47). Im Beitrag von Nora Landkammer wird die im Projektantrag zur Disposition gestellte „neoliberale Aufwertung von individueller Autonomie gegenüber Werten von Freiheit und Solidarität“ (54) insofern widerlegt, als dass sich während der Projektzeit eine (temporär) kollektive „Solidargemeinschaft“ (55) unter den Schüler*innen formierte. Der Text überzeugt zudem, da er schwierige Phasen der Forschung benennt, in denen das gemeinschaftliche „Projekt sowohl Gegenstand als auch Rahmen“ (55) struktureller/partizipativer Kritik wurde. Dieser Stoßrichtung folgt auch der Beitrag der Lehrkräfte Stefanie Schermann und Beate Wallner. In ihrem Text gehen sie nicht nur auf die divergierenden Erwartungshaltungen aller Projektteilnehmenden ein, sondern gesondert auf ihre eigene Rolle. Gegen Ende des ersten Teils diskutiert Aslı Kışlal die Bedingungen und Demokratisierungspotentiale von Räumen als „Übungsräume von Freiheit“ – ganz so wie sie nach Überwindung ungleicher gesellschaftlicher Machtverhältnisse auch an Schule und Theater imaginierbar wären. Abschließend widmen sich Renate Höllwart, Nora Landkammer und Elke Smodics den Schnittstellen kritischer Kunstvermittlung und partizipativer Forschung. Auf Grundlage des Bezugspunkts „kritische Pädagogik“ geben die Autorinnen Einblicke in Methoden und Prozesse der Forschung.
Der zweite Teil des Sammelbandes steht im Zeichen eines, von der Autor*innenschaft geteilten, großen Anliegens kultureller Vermittlungsarbeit gemäß progressiv-emanzipatorischer Pädagogik. Hierzu erhalten die Lesenden Eindrücke diverser weiterer Projekte. Im Beitrag von Karin Schneider fließen die Erfahrungen aus anderen Sparkling Science-Projekten ein. Ihr gleich tut es Elke Zobl, die in „Making Art, Taking Part!“ zwei Vermittlungsprojekte thematisiert, bei denen „kulturelle Ordnungen“ mittels DIY- und DIT-Kulturen (Do it yourself/together) hinterfragt und gemäß eines, von der Hochkultur gelösten, Kulturbegriffs der Cultural Studies verhandelt werden. Der zweite Teil des Sammelbandes vereint überwiegend Beiträge, in denen Vermittlungsarbeit als politischer Kampf um Hegemonie begriffen wird. Dem ist so beim Text von das kollektiv, einer in der Erwachsenenbildung mit geflüchteten Frauen aktiven Organisation, und – in Bezug auf „Hegemonie als Praxis“ beziehungsweise „pädagogisches Verhältnis“ – bei den Texten von Ingo Pohn-Lauggas und Nora Sternfeld. Ebenso verhält es sich bei Claudia Hummel und ihrer historischen Verortung des längst vergessenen Begriffs der „Kulturarbeit“ als „befreiende[r] Tätigkeit“. Am Beispiel der Geschichte des „Instituts für Kunst im Kontext“ der Universität der Künste Berlin ordnet sie diesen inmitten politischer Kämpfe der Westberliner Linken der 1970er Jahre ein. Bevor Nora Sternfeld in „Eine Demokratie lernen, die es noch nicht gibt“ den Kreis zum ersten Teil des Bandes mittels des Gleichheitsbegriffs von Jacques Rancière schließt, diskutiert Rahel Süß noch den Begriff des Experiments. Ihr Beitrag steht für die Floskel: „Ohne Experimente gibt es keine Demokratie“ (193) – insofern stimmt sie mit der zentralen Erkenntnis aus dem Schulprojekt an der antonkriegergasse überein: „Ein Aushandlungsraum kann nicht einfach proklamiert werden – ihn zu erarbeiten war die zentrale Aufgabe in diesem Projekt.“ (61)
Der Sammelband liest sich als maßgeblich von radikaldemokratischer Theorie inspiriert, indem er nach „Demokratisierung der Demokratie“ (210) fragt. Gleichermaßen handelt es sich um einen lebensweltlichen Gesamtbeitrag. Dem vermeintlichen Befund der Politikverdrossenheit, welcher für das politische System und seine Institutionen (Parteien, Regierungen, Gewerkschaften etc.) zutreffen mag, wird ein lebendiger Gegenbeweis entgegengestellt. Dieser legt ein großes Interesse an alltäglicher (Mikro-)Politik offen. Ersichtlich wird dies über das partizipatorische Forschungssetting, welches es vollbringt, „alltägliche Aushandlungsformen demokratischer Grundwerte durch Jugendliche gemeinsam mit Jugendlichen zu erforschen“ (12). Auf diese Weise wird zweifelsohne Übersetzungsarbeit im Hinblick auf den Alltagsbezug des Politischen geleistet. Ein Credo, dem in der politischen/kulturellen Bildungsarbeit verstärkt Rechnung getragen werden sollte. Wer in „Making Democracy“ eine allzu kleinteilige Beleuchtung der (didaktischen) Abläufe oder Inhalte der Forschung erwartet, wird nur bedingt fündig. Die Stärken liegen in der multiperspektivischen Darstellung der Reflexion sowie der theoretischen und methodischen Konzeption des Projektes/ähnlicher Projekte aus der Vermittlungsarbeit. Daher ist das Buch primär für die involvierten Disziplinen sowie für all jene empfehlenswert, die an institutioneller/selbstorganisierter, (außer-)schulischer, (außer-)universitärer, gemeinnütziger und/oder kollektiver Bildungs- und Vermittlungsarbeit mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen interessiert sind. Zwischen den Zeilen finden sich gewiss auch Post-Volkskundler*innen, ohne dieses Interesse, wieder. Entweder wegen der Bezugnahmen auf die Cultural Studies samt Kulturbegriff oder aufgrund jener Passagen, die der Diskussion/Reflexion partizipatorisch-kollaborativer Forschungsprozesse gelten.