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Marcia Rebay

„Klar sind wir anders, aber was macht das schon für einen Unterschied?!“ Lesbische Identitätsaushandlungen im Kontext sich wandelnder Norm- und Differenzvorstellungen

(Münchner ethnographische Schriften 31), München 2020, utzverlag, 86 Seiten, ISBN 978-3-8316-4851-1


Rezensiert von Ariane Scheidt
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 15.09.2021

Genderforschung ist in den letzten dreißig Jahren ein fester Bestandteil verschiedener universitärer Disziplinen geworden. Damit erhalten auch Studierende vielerorts die Möglichkeit, ihre Abschlussarbeiten in diesem Forschungsfeld zu schreiben. Die hier zu rezensierende Masterarbeit von Marcia Rebay ist am Institut für Empirische Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie der Universität München entstanden. Der Arbeit voraus gegangen war ein ethnografisches Filmprojekt, das die „(Un-)Sichtbarkeit lesbischer Identitäten in München zum Thema“ hatte (11). Die Gestaltung des Dokumentarfilms dauerte zwei Jahre, in denen auch Recherche, Filmschnitt und Montage durchgeführt wurden. In der auf dem Filmprojekt aufbauenden Masterarbeit geht es um das Verständnis von (sexuellen) Identitäten, deren Auswirkungen auf den Lebensstil lesbischer Personen unterschiedlichen Alters sowie die Bedeutung der Stadt München für die Gestaltung dieser Identitäten. Somit stehen die Themenfelder Geschlecht, Identitäten und Generation und ihre gegenseitige Beeinflussung im Fokus. Die Quellengrundlage bilden Gespräche mit sechs Frauen. Den Zugang zu den ersten zwei Forschungspartner*innen erhielt Rebay im Zuge ihrer Mitarbeit in dem von Irene Götz geleiteten DFG-Projekt „Prekärer Ruhestand. Arbeit und Lebensführung von Frauen im Alter“; weitere vier Personen gewann sie im Anschluss daran im Schneeballprinzip. Nicht alle Forschungspartner*innen fühlen sich allerdings einem eindeutigen Geschlecht zugehörig, manche lehnen es gar ab, ihre sexuelle Orientierung eindeutig zu benennen. Rebay gelingt es mit einem hohen Maß an Sensibilität, Selbstreflexion und Respekt gegenüber ihren Gesprächspartner*innen, deren Vertrauen zu gewinnen und gemeinsam mit ihnen über das jeweilige Verständnis von Geschlecht und die damit verbundenen Bedeutungen nachzudenken.
Die Masterarbeit besteht aus sieben Kapiteln. Sie beginnt mit der Vorstellung der theoretischen Prämissen und Rebay beleuchtet zunächst das Verständnis von Identität im Allgemeinen. Hierfür geht sie unter anderem auf Konzeptionen der Philosophin Judith Butler ein, der zufolge die Entwicklung der eigenen Identität in Abhängigkeit vom jeweiligen sozialen Umfeld vollzogen wird. Gesellschaftliche Vorstellungen bilden feste Normen, an denen wir uns orientieren und in deren Rahmen wir unsere Erfahrungen reflektieren. Rebay setzt Heteronormativität, also die Vorstellung, Heterosexualität und binäre Geschlechtszuschreibungen seien die vorgeschriebene gesellschaftliche Norm, als Ausgangspunkt für die Auswertung ihrer Forschungsergebnisse und untersucht, welche Auswirkungen diese vorherrschende Betrachtungsweise auf das Selbstverständnis ihrer Forschungspartner*innen besitzt. Zudem analysiert sie, welche generationalen Unterschiede zwischen den einzelnen Forschungspartner*innen auftreten. Hierbei fußt ihre zentrale theoretische Annahme auf der Generationstheorie des Soziologen Karl Mannheim, die besagt, dass eine Generation nicht nur durch biografische Gemeinsamkeiten konstituiert wird, sondern auch durch bestimmte historische Ereignisse. Diese Ereignisse verändern die Alltage der Menschen und können Auswirkung auf die Identitäten einer Gruppe oder Einzelner haben.
Im Folgekapitel stellt Rebay ihre Methoden vor. Sie hat informelle Gespräche mit verschiedenen lesbenpolitischen Vereinen und Institutionen durchgeführt sowie leitfadengestützte Gespräche mit ihren Interviewpartner*innen. Sie reflektiert ihre Erwartungshaltung gegenüber dem Feld und baut das Nachdenken über ihre eigenen stereotypen Vorurteile kritisch in ihre Analyse ein. Angesichts der Sensibilität des Themas überließ Rebay ihren jeweiligen Gesprächspartner*innen die konkrete Wahl der Gesprächsthemen, was sich positiv auf das Vertrauensverhältnis auswirkte.
Dem schließen sich im vierten Kapitel die biografischen Vorstellungen der befragten Personen an. Dabei wird bewusst und mit Einverständnis der Forschungspartner*innen auf die im Fach übliche Anonymisierung verzichtet, um die einzelnen Schicksale und Erfahrungen der Interviewpartner*innen umso differenzierter darstellen zu können. Kurzportraits geben Auskunft über ihr Verhältnis zu Familien und Freund*innen, ihr Leben in München oder ihr politisches Engagement. Die erste Interviewpartnerin, Adelheid Opfermann (geboren 1942), berichtet beispielsweise von einem Vater, „der bis zuletzt an den Gedanken- und Erziehungsansätzen des nationalsozialistischen Regimes festhielt“ (22), weshalb sie ihre Familie verließ. Der Ausbruch aus ihren familiären Verhältnissen ermöglichte ihr zwar eine freie Entfaltung, die schweren Kämpfe mit der eigenen Identitätsvorstellung führten allerdings zu psychischen Problemen. Zwei Interviewpartner*innen engagierten sich stark im politischen Aktivismus der 1968er Jahre, berichten allerdings nun von prekären Lebensverhältnissen, unter denen sie aufgrund wechselnder Erwerbstätigkeiten und nicht-entlohnter politischer Tätigkeiten heute leben müssen. Für diese Frauen betrifft die Scham beim Erzählen jetzt nicht mehr die eigene lesbische/queere Identität, sondern eher psychische Erkrankungen oder die eigene Altersarmut. Eine jüngere Forschungspartnerin berichtet, ihre lesbische Lebensweise werde von ihren Eltern nicht toleriert, was sie mit der Kultur ihrer aus Griechenland eingewanderten Herkunftsfamilie erklärt. Auffällig ist, dass in den Gesprächen Themen wie das Verhältnis zwischen Alter, Religion, Kultur und sexueller Identität zwar immer wieder zur Sprache kommt, die Autorin sich aber nicht weiter dazu äußert.
Die nächsten Kapitel thematisieren den Einfluss der Stadt München auf die lesbenpolitische Szene innerhalb verschiedener Generationen. Rebay verweist auf Parallelen zwischen Forschungsergebnissen, denen zufolge sich München zwar stark für Toleranz gegenüber lesbischen Frauen einsetzt, es aber immer noch Ausgrenzungsmechanismen gibt, und den Erfahrungen, die ihre Forschungspartner*innen gemacht haben. Die Sorge vor wachsendem Rechtspopulismus oder Altersarmut prägen die Alltage der Interviewpartner*innen zunehmend. Darüber hinaus spricht die Autorin in ihrem letzten Kapitel auch generationale Unterschiede und Differenzen an. Sie weist darauf hin, dass gegenseitige Unterstützung und das Schaffen von Schutzräumen einen hohen Stellenwert innerhalb der lesbenpolitischen Szene einnehmen. Dennoch finden sich auch innerhalb der Szene Ausgrenzungsmechanismen, die etwa mit Kleidungs- und Verhaltenskonventionen, die vor allem durch Vertreter*innen der 1968er Generation etabliert wurden, zusammenhängen. Diese werden nach Rebay allerdings immer weiter aufgelockert. Sie kritisiert, dass lesbische Identitätsaushandlungen zwar nun vermehrt in den Fokus wissenschaftlicher Untersuchungen rücken, es aber hier – bis auf wenige Ausnahmen – kaum Forschungsarbeiten gibt, die sich „den individuellen Erfahrungen, […] [oder] den alltäglichen Lebens-, Denk- und Handlungsweisen lesbischer Frauen“ (44) zuwenden. Insgesamt eröffnet die Autorin zahlreiche Forschungsfelder und verweist auf Forschungslücken, die zu füllen allerdings im Rahmen der Masterarbeit nicht zu bewerkstelligen ist.
Marcia Rebay legt mit ihrem Buch einen intimen Einblick in das Leben von sechs Menschen vor. Ziel der Arbeit ist, mit stereotypen Vorstellungen zu brechen, die in heteronormativ organisierten Gesellschaften gegenüber Menschen bestehen, die sich nicht in binären Geschlechterverhältnissen bewegen und/oder sich in nicht-heterosexuellen Beziehungen befinden. Damit hat sich Rebay eines Themas angenommen, das mehr Beachtung in Gesellschaft und Wissenschaften verdient. Über den Gegenstand lesbischer Identitätsaushandlungen hinaus ist die Arbeit empfehlenswert als Erfahrungsbericht darüber, wie Solidarisierung mit marginalisierten Gruppen auf wissenschaftlicher Ebene funktionieren kann.