Aktuelle Rezensionen
Monique Scheer/Pamela E. Klassen (Hg.)
Der Unterschied, den Weihnachten macht. Differenz und Zugehörigkeit in multikulturellen Gesellschaften
Tübingen 2019, Tübinger Vereinigung für Volkskunde, 322 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-947227-01-3
Rezensiert von Helga Maria Wolf
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 27.09.2021
Bräuche und religiöse Feste stehen derzeit nicht gerade im Fokus der wissenschaftlichen Volkskunde. Zeitgemäße Standardwerke sind selten. Neues Interesse kommt von unerwarteter Seite, es hat mit Migration und Konfliktforschung zu tun. 2015 bis 2020 lief am Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft der Universität Tübingen das Forschungsprojekt über die Rolle der Religion im öffentlichen Raum „Religion and Public Memory in Multicultural Societies“.
Der vorliegende Band ist dem „totalen Feiertag“ Weihnachten gewidmet, „dessen alljährliche Herrschaftszeit sich nicht nur auf den Kalender und die Kaffeehäuser auswirkt, sondern auch auf jede_n Einzelne_n, indem es allen, ob sie nun am Fest teilhaben oder es vermeiden, einen saisonalen Habitus der Zugehörigkeit aufdrängt“ (9). Bekanntlich sind die Formen, in denen christliche Familien in Europa und den USA das religiöse Fest begehen, erst zwei Jahrhunderte alt – ebenso die Kritik an der Vereinnahmung durch kommerzielle Interessen. Das Buch steht in der langen Tradition der Weihnachtskritik. Zwölf Beiträge von Wissenschaftler*innen verschiedener Disziplinen aus Deutschland, Kanada, England, Dänemark, den Niederlanden und USA werfen Fragen danach auf, wie weihnachtliche Praktiken kulturelle Differenzen schaffen. Sie betrachten spezifische Orte und zeigen, „wie nationale, regionale und diasporale Perspektiven sowohl die wissenschaftlichen als auch die populären Narrative über die Bedeutung Weihnachtens formen“ (13).
Als Mitherausgeberin des Sammelbandes skizziert Monique Scheer die Koordinaten von Weihnachten. Nach ihrer These verlaufen diese zwischen mehreren Polen: Materialität und Spiritualität, Ideologie und Authentizität sowie – besonders bedeutsam – Religion und Kultur. In einem weiteren Beitrag mit dem Titel „Feiertagsspannungen“ behandelt die Tübinger Professorin „Weihnachtsforschung als Konfliktforschung“, wobei sie Spannungen schon bei den „Klassikern der Weihnachtsforschung“ feststellt (30 f.). Das Familienfest ist auch eine öffentliche Angelegenheit, was etwa an Dekorationen auffällt. Christliche Symbole werden durch Schneeflocken und Rentiere ersetzt, das Fest wird zu einer „Winterparty mit karnevalesken Elementen“ (Gunther Hirschfelder). Religion wirkt musealisiert, säkularisiert und bedroht. Dadurch erscheint Weihnachten als kulturelles Erbe, doch anders als Religion muss Kultur ständig neu ausgehandelt werden.
Der Religionswissenschaftler Isaac Weiner bietet eine neue Interpretation des 1957 erschienenen Buches „Wie der Grinch Weihnachten gestohlen hat!“. Grinch ist im Englischen ein Synonym für eine verachtenswerte Person. In Weiners Lesart handelt die Erzählung aber weniger „von der ,authentischen Bedeutungʻ Weihnachtens als von der ,public workʻ, die Weihnachten als umstrittener Ort kulturellen Gedächtnisses, als Schauplatz politischen Wettbewerbs um Inklusion und Exklusion in einer pluralistischen, liberalen Demokratie verrichtet“ (58).
Spielten schon beim „Grinch“ weihnachtliche Töne eine entscheidende Rolle, so widmet sich die Historikerin Juliane Brauer unter dem Titel „Immer wieder ,Stille Nacht!ʻ“ den Weihnachtsliedern und Weihnachtsgefühlen. Am Beispiel des „berühmtesten aller Weihnachtslieder“ (90) zeigt sie das Zusammenspiel von Musik, Emotionen und Erinnerungen. Es berührte Soldaten im Ersten Weltkrieg („Das Weihnachtswunder von 1914“) ebenso wie KZ-Häftlinge und Kriegsgefangene. Dabei wurde es in einer „Strategie des Emotionsmanagements“ (93) für politische Interessen missbraucht.
Der Kulturwissenschaftler Christian Marchetti erinnert in seinem Beitrag „Deutsche Volkskunde und deutsche Weihnachten. Räumlich-kulturelle Verortungen und Dezentrierungen“ an die unheilvolle Rolle der Volkskunde in der deutschnationalen Ideologie. Die Volkskunde im Vielvölkerstaat der Habsburgermonarchie erforschte aber auch muslimische Weihnachtsbräuche in Bosnien-Herzegowina. Der Autor hat das Land ebenso besucht wie Siebenbürgen, Ungarn oder Südosteuropa.
Das vorliegende Buch und das Projekt verdanken ihre Finanzierung einem Forschungspreis, den die Religionswissenschaftlerin Pamela E. Klassen erhalten hat. Als Mitherausgeberin schreibt sie über „Die erste ,Weißeʻ Weihnacht“. Der Artikel behandelt, wie der Untertitel andeutet, „Siedlungs-Multikulturalismus, Nisgaʼa Gastfreundschaft und zeremonielle Souveränität an der pazifischen Nordwestküste“.
Der Judaist Yaniv Feller verfasste den aufschlussreichen Beitrag „Oy Tannenbaum, Oy Tannenbaum!“. Als Kurator des Berliner Jüdischen Museums dekorierte er den Ausstellungsabschnitt zum Familienleben mit einer geschmückten Tanne. Daneben zeigte eine Karikatur aus dem Jahr 1904 mit dem Titel „Darwinistisches“ die Transformation eines Chanukka-Leuchters zu einem geschmückten Weihnachtsbaum. 2005 rief die Ausstellung „Weihnukka“ kontroverse Reaktionen hervor.
Den deutsch-türkischen Weihnachten ist der Beitrag „Was genau feiert ihr eigentlich an Weihnachten?“ gewidmet, den die Sozialanthropologin Sophie Reimers auf Grundlage ihrer Feldforschung bei einer muslimischen Drei-Generationen-Familie verfasste. Im Großen und Ganzen bestätigte sich, was der Film „Almanya“ (2011) anspricht: das Gefühl des Fremdseins und Generationenkonflikte. Die Szene vom ersten „deutschen Weihnachten“ zeigt humoristisch überzeichnet, dass sich die Kinder als Weihnachtsexperten der Familie verstehen und ihrer Mutter das fremde Ritual erklären: „Du musst erst die Geschenke unter den Baum legen und dann mit der Glocke läuten.“ (201, Zitat aus dem Film) Doch gibt es nach wie vor Familien, die das christliche Fest ablehnen und andere, die Kompromisse suchen.
Die Religionswissenschaftlerin Helen Mo untersucht in „Eine Weihnachtskrise“ einen sich rasch entwickelnden Konflikt um die öffentliche Anerkennung des Festes an einer kanadischen Highschool. Über Facebook verbreitete sich eine Kontroverse über die Rolle der People of Colour, von denen man annahm, sie seien nicht christlich, und die man beschuldigte, Weihnachten zu ruinieren.
Die Religionswissenschaftlerin Katja Rakow schildert die Weihnachtssaison in einem Einkaufszentrum in Asien: „Weihnachten in der Orchard Road in Singapur: Wie das Geschenk Jesu Christi zwischen Gucci und Tiffany gefeiert wird“. Trotz offensichtlicher Beliebtheit bei Geschäftsleuten und Konsument*innen wird auch hier diskutiert, wie christlich Weihnachten sei. Religiöse Gruppierungen nützen die Gelegenheit des globalen Feiertags, um ihre Position in der multikulturellen Stadt zu festigen.
Anglikanische Kathedralen haben, besonders zu den Feiertagen, ein reiches spirituelles und liturgisches Angebot. Die Religionswissenschaftler Simon Coleman und Marion Bowman sowie die Volkskundlerin Tiina Sepp beschreiben „Zivilgesellschaftliches Christentum in der multikulturellen Stadt“. Nach ausgiebigen Recherchen in vier englischen Kathedralen stellen sie fest: „Eine Kathedrale ist nicht nur für Weihnachten da.“ (283)
Der Sammelband hinterfragt auf höchstem Niveau den Status des Festes als schutzbedürftiges kulturelles Erbe und untersucht die Ängste vor dem möglichen Verlust seiner christlichen oder nationalen Symbolkraft. Den Epilog „Weihnachtsstimmung“ verfasste Hermann Bausinger, der schon 1970 seine beispielhafte Studie zum Adventkranz veröffentlicht hat. Sein Fazit: „Die vielseitigen Studien in diesem Band führen vor, wie verschieden Menschen in verschiedenen Räumen und auch verschiedenen Zeiten mit dem Angebot einer zunächst fremden und ungewohnten Festzeit umgehen. […] In Analogie zum Schritt von der Religion zum Religiösen könnte man formulieren, dass Weihnachten weniger gefragt ist als Weihnachtliches. […] Die weihnachtliche Stimmung evoziert Gefühle, die von der eigenen religiösen Formensprache her vertraut sind und die, optimistisch gesehen, Wege zu ihren neuen Nachbarn bahnen.“ (416)