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Thomas Schürmann

Anthrazit. Ibbenbürener Bergbaukultur im Spiegel lebensgeschichtlichen Erzählens

Münster/New York 2020, Waxmann, 324 Seiten mit zahlreichen Abbildungen, ISBN 978-3-8309-4113-2


Rezensiert von Kristina Steinig
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 27.08.2021

Das Ende des Steinkohlebergbaus in Deutschland, das 2007 von der Bundesregierung und den beteiligten Parteien beschlossen und im Jahr 2018 vollzogen wurde, löste in den Geschichts- und Kulturwissenschaften eine Fülle von Veröffentlichungen aus. Bereits ein kurzer Blick in die Informations- und Kommunikationsplattform „H-Soz-Kult“ zeigt diverse Werke, die sich vor allem mit der Kultur des Steinkohlebergbaus und dessen besonderem regionalen Selbstverständnis auseinandersetzen wie zum Beispiel Franz-Josef Brüggemeiers 2018 in München erschienene Arbeit „Grubengold. Das Zeitalter der Kohle von 1750 bis heute“ oder Dietmar Bleidicks Monografie „Die Ruhrgas 1926 bis 2013. Aufstieg und Ende eines Marktführers“, erschienen in Berlin 2017. Viele dieser Studien sind dem Ruhrgebiet und dessen regionalen Spezifika gewidmet. Auch zum Bergbau im westfälischen Ibbenbüren existiert bereits eine (geschichtswissenschaftliche) Arbeit von Gunnar Gawehn mit dem Titel „Im tiefen Norden. Die Geschichte des Steinkohlenbergbaus in Ibbenbüren“ (Münster 2018). Diese wird durch die hier zu besprechende Monografie des Europäischen Ethnologen und Geschichtswissenschaftlers Thomas Schürmann nun um eine kulturanthropologische Perspektive ergänzt.
Schürmanns Studie „Anthrazit. Ibbenbürener Bergbaukultur im Spiegel lebensgeschichtlichen Erzählens“ geht auf eine Langzeitdokumentation zurück, die auf Betreiben der Kommission für Alltagskulturforschung für Westfalen zwischen 2014 und 2018 entstand. Diese stützt sich auf 103 Interviews, wovon 87 mit Bergwerksangehörigen geführt wurden. Die weiteren Befragten waren Bergleute im Dienst von Gewerkschaften und Berufsgenossenschaften, Bergmannsfrauen sowie Angehörige anderer Berufe. Zusätzlich wurden Aufzeichnungen aus den in Ibbenbüren im gleichen Zeitraum veranstalteten Erzählcafés „Frauen im Bergbau“ als Quellen genutzt. Die in Ibbenbüren agierende Bergbaufirma „RAG Anthrazit Ibbenbüren GmbH“ half dem Forschungsvorhaben wesentlich, indem sie Interviewpartner*innen vermittelte und die Interviews häufig innerhalb der Arbeitszeit und auf dem Gelände des Betriebs ermöglichte. Thomas Schürmann hat sich während der Forschung mit dieser Form des Feldzugangs kritisch auseinandergesetzt und betont trotz enger Zusammenarbeit mit der RAG und deren Angehörigen das reflektierte Bemühen um Unvoreingenommenheit. Der im Bergbau gegebenen Ungleichverteilung der Geschlechter unter Tage begegnet er dadurch, dass er die Perspektiven von Bergmannsfrauen, Arbeitnehmerinnen des RAG Bergwerks und einer Bergassessorin in seine Studie mit einbezieht.
Die für lebensgeschichtliche Erinnerungen vergleichsweise kurze Interviewdauer von jeweils etwa einer Stunde führt Schürmann einerseits auf den engen thematischen Fokus der Gespräche und andererseits auf die Gesprächsumgebung zurück. Den Quellenanalysen ist eine Vielzahl von Schwarzweißfotografien zur Seite gestellt. Die Aufnahmen illustrieren die Alltagswelt des Ibbenbürener Bergbaus von Wohnsiedlungen bis zu modernen Memorabilien, wie zum Beispiel der „Kohlenträne“, einen mit Anthrazitstaub gefüllten, tränenförmigen Schmuckanhänger, der seit 2017 vom Stadtmarketing der Stadt Ibbenbüren vertrieben wird; er schmückt auch den Umschlag des Buches.
Die Monografie umfasst zehn Kapitel, inklusive Einleitung und Ausblick. In den ersten sechs Kapiteln behandelt der Autor klassische Themen wie das Bergbaurevier, also geografische Gegebenheiten und Siedlungsentwicklungen, sowie die Berufe im Bergbau und er beleuchtet die Untertagewelt mit ihren Gefahren für und Auswirkungen auf Menschen und Umwelt. Hierbei konzentriert sich Schürmann auf regionale Eigenheiten. Dazu gehört vor allem die Nebenerwerbslandwirtschaft der Bergleute: Da in Ibbenbüren bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts nur nach Bedarf Kohle gefördert wurde, waren viele Bergleute zugleich als hauptberufliche Landwirt*innen tätig. Auch nachdem ganzjährig gefördert wurde, behielten viele Bergleute diese Tätigkeit bei, jedoch waren sie anders als zuvor nun hauptberuflich Bergleute und nur noch nebenberuflich Landwirt*innen. Diese Tradition wurde bis zum Ende des 20. Jahrhunderts beibehalten.
In den letzten drei Kapiteln widmet sich der Autor dem absehbaren Ende der Kohleförderung und schließt seine Ausführungen mit bereits existierenden oder neu entstandenen Überlieferungsformen der Bergbaukultur ab. „Das Ende des deutschen Steinkohlenbergbaus im Jahr 2018 war ein Ende mit Ansage. Mehr als zehn Jahre lang konnten sich alle Beteiligten auf dieses Datum vorbreiten.“ (11) Doch der Weg zum Beschluss war steinig und setzte Planungen hinsichtlich der Art und Weise der Abwicklung der alten Bergökonomien und der Erarbeitung neuer Perspektiven für die Bevölkerung voraus. Wesentliche Aspekte waren dabei der sogenannte Nachbergbau und der notwendige Strukturwandel. Für die ehemaligen Bergleute und ihre Familien veränderte sich neben dem Berufsalltag auch das Freizeitleben und das Zusammenleben in der Gemeinschaft. Der gesteuerte Personalabbau bedeutete für viele Bergleute den Vorruhestand und eine plötzliche Veränderung in ihrem Lebensrhythmus, die auch mit einem Wandel in der Selbstwahrnehmung einherging. Die Überlieferung der verbliebenen Bergbaukultur interessiert die interviewten Akteur*innen unterschiedlich stark, jedoch pflegen alle unabhängig von Beruf und Alterskohorte Traditionen und Bräuche, die im Alltagsleben nach wie vor einen Bezug zur Bergbaukultur darstellen: das Tragen der Berufstracht bei feierlichen Anlässen, die Verehrung der Schutzheiligen der Bergleute, der heiligen Barbara, oder den Gruß „Glück auf!“.
Schürmann fragt zu Beginn seiner Studie kritisch danach, ob die regionalen Unterschiede des westfälischen Bergbaus zum bereits intensiv beforschten Ruhrgebiet so gravierend seien, dass eine eigene kulturanthropologische Untersuchung für Ibbenbüren geboten ist. Er selbst beantwortet diese Frage eher zurückhaltend: Die Ibbenbürener Forschung ergänze thematisch die bereits existente Dokumentation in Nordrhein-Westfalen, so dass neben dem städtisch geprägten Ruhrgebiet nun auch das eher ländliche Ibbenbüren berücksichtigt werde. Zu den spezifischen Eigenarten Ibbenbürens zählt etwa die lange Tradition des Plattdeutschen und vor allem die bis ins späte 20. Jahrhundert ausgeführte Nebenerwerbslandwirtschaft. Diese regionalspezifischen Aspekte konnten sich in der städtischen Metropolregion des Ruhrgebiets in vergleichbarer Form nicht entwickeln. Die ausschließlich in Ibbenbüren gelebten Traditionen und die Wahrnehmung der dortigen Bergleute stellen die Schwerpunkte der vorliegenden Forschung dar.
Darüber hinaus beleuchten die Interviews nicht exklusiv die Zeit des aktiven Bergbaus, sondern auch die Zeit danach, die für die Forschungspartner*innen zum Zeitpunkt der Interviews gedanklich bereits präsent war. Die Veröffentlichung richtet sich zwar primär an ein kulturwissenschaftliches Publikum, das Buch spricht jedoch auch allgemeininteressierte Leser*innen an. Zusätzlich bietet es Forschungspartner*innen und deren Angehörigen ebenso eine Erinnerung an ihre bis vor Kurzem noch gelebten Alltage wie eine notwendige Ausrichtung auf neue Lebensentwürfe. In der zukunftsorientierten Perspektive liegt im Vergleich zu anderen Studien auch die besondere Stärke des Buches. Die Frage danach, inwieweit die Menschen in Ibbenbüren bereits im Jahr 2018 andere Selbstwahrnehmungen als die von (ehemaligen) Bergleuten entwickelt und in ihre bisherigen Identitätsentwürfe übernommen hatten, wie sie sich aus Bergbau und Nebenlandwirtschaft kommend Zukünfte imaginierten, diese Frage macht die vorliegende Studie hochaktuell.